12.01.2017

Knechte des US-Finanzamts

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Knechte des US-Finanzamts

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Man nennt sie „zufällige Amerikaner“, weil sie wie aus Versehen zu ­Leidtragenden des US-Gesetzes über die Steuerehrlichkeit ­bezüglich Auslandskonten (Foreign Account Tax Compliance Act, Fatca) wurden. Fatca soll Steuern von im Ausland lebenden US-Bürgern in die USA holen und nötigt die internationale Finanzbranche zu einem automatischen Datenaustausch.

Millionen US-Bürger leben außerhalb der USA oder haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Dank des Geburtsortprinzips hat jede auf US-Staatsgebiet geborene Person Anspruch auf die amerikanische Staatsbürgerschaft, selbst wenn sie die USA im Kindesalter verlassen hat und nie wieder zurückgekehrt ist, geschweige denn jemals dort Geld verdient hat.

Fatca ist ein Mittel im Kampf gegen organisierte Kriminalität, Drogenhandel und Steuerbetrug. Insofern erschien es zunächst legitim, dass die US-Behörden von ausländischen Banken – insbesondere schweizerischen – die entsprechenden Auskünfte einholten. Doch nun verlangt Washington von Finanzdienstleistern in aller Welt ein Verzeichnis aller „US Persons“, die über Konten mit mehr als 50 000 Dollar Guthaben verfügen. Verweigert eine Bank die Zusammenarbeit, wird sie mit einer Strafgebühr von 30 Prozent auf ihre gesamten US-Finanztransaktionen belegt. Für jede Großbank wäre das glatter Selbstmord, da die meisten internationalen Transaktionen in Dollar abgewickelt werden und folglich über US-Territorium gehen.

Die Schweizer gaben als Erste nach. Der Reihe nach erklärten sich dann alle übrigen europäischen Länder bereit, die Fatca-Bedingungen zu akzeptieren. Tausende Banken und Vermögensverwalter in aller Welt betätigen sich seither als Hilfssheriffs der US-Steuerbehörde. Zwar haben die USA mit den EU-Ländern Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet, aber für ihre eigenen Staatsbürger gelten die Bestimmungen des US-Finanzamts Internal Revenue Service (IRS).

Eine in Frankreich lebende und arbeitende US-Bürgerin, die ihre Steuern ans französische Finanzamt zahlt, muss gemäß dem bilateralen Steuerabkommen von 1994 der IRS eine Steuererklärung abgeben. Wäre ihre Steuer in den USA höher ausgefallen, muss sie der IRS den Differenzbetrag überweisen. Dabei kann es sich um erhebliche Summen handeln, da der IRS zum Beispiel den Allgemeinen Sozialbeitrag (Contribution Sociale Généralisée) nicht als bereits geleistete Steuerzahlung ansieht. Und der US-Fiskus besteuert den Veräußerungsgewinn beim Verkauf eines Hauptwohnsitzes in Frankreich, wenn dieser über 250 000 Dollar liegt, während hierfür in Frankreich eine Steuerbefreiung gilt.

Im Herbst 2014 forderten Banken ihre US-­Kunden sowie Leute, die Anzeichen von „Amerikanität“ aufwiesen, schriftlich auf, ihre US-Steueridentifikationsnummer mitzuteilen oder nachzuweisen, dass sie ihre US-Staatsbürgerschaft aufgegeben haben. Für tausende Menschen war das ein Schock. Sie stürzten in ein kafkaeskes Universum, das für manche mit der Kontokündigung endete.

Wer sich weigerte, riskierte damit, dem IRS gemeldet und von den französischen Steuerbehörden verfolgt zu werden. Wieder andere würden ihre US-Staatsbürgerschaft gern los werden. Das ist zwar möglich, kostet aber an die 20 000 Dollar, da ­hierfür die Dienste eines Anwalts ­notwendig sind. Für die zurückliegenden drei oder gar sechs Jahre muss freilich trotzdem eine Steuererklärung abgegeben – und womöglich nachgezahlt werden. ⇥J.-M. Q.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2017