08.12.2016

Indigene Europäer

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Indigene Europäer

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Laut UNO-Definition gibt es für ein indigenes Volk vier entscheidende Merkmale: Es stammt von Menschen ab, die in ihrer Region bereits vor deren Kolonisierung gelebt haben; seine Kultur und Wirtschaftsform beruht auf einer engen Beziehung zum angestammten Land; als Minderheit ist es von wirtschaftlicher und politischer Marginalisierung betroffen; und es betrachtet sich selbst als indigen.

All diese Kriterien treffen auf die Samen zu. Nach Angaben des Samischen Informationszentrums in Öster­sund (Samer) gibt es in Norwegen 50 000 bis 65 000 Samen, in Schweden 20 000 bis 40 000, in Finnland etwa 8000 und in Russland um die 2000.

Das letzte indigene Volk Europas lebt seit etwa 10 000 Jahren im Norden Skandinaviens und auf der Kola-­Halbinsel (Russland) am Fuße der Gletscher. Tacitus erwähnte in seiner Schrift „Germania“ aus dem Jahr 98 erstmals die Nomaden im hohen Norden und wunderte sich, dass dort auch die Frauen jagten. Noch mehr hätte ihn erstaunt, dass die acht Jahreszeiten des samischen Kalenders den Zyklus des Rentier­lebens widerspiegeln und dass in der samischen Sprache das Wort „Krieg“ nicht existiert.

Erst seit dem 17. Jahrhundert interessieren sich auch Staaten für die eisigen Weiten, für die Pelze und den Fischreichtums Lapplands. Mit der Entdeckung von Silbervorkommen im Jahre 1634 betrieben die Schweden die Kolonisierung des Gebiets. Sie zwangen den „Lappen“ Steuern auf, und die protestantische Kirche versuchte, die Animisten zu bekehren. Die heiligen Trommeln der Samen wurden verbrannt, auch Schamanen wurden hingerichtet, wie zum Beispiel Lars Nilsson im Jahr 1693.

1673 begründete Schweden die „Lappmark“ und warb Kolonisten an. Für das Leben in der extremen Kälte meldeten sich kaum Freiwillige, weshalb die Umsiedler von Steuern und Militärdienst befreit waren. In Stockholm ging man davon aus, dass Rentierhirten und Kolonisten friedlich zusammenleben könnten. Da man in diesen polaren Breiten aber nicht allein von der Landwirtschaft leben kann, mussten die Kolonisten auch jagen und fischen. Das führte zu Konflikten, bei denen die Samen, deren Pelzwaren im Königshaus geschätzt waren, häufig vor Gericht erfolgreich waren.

Als Ende des 19. Jahrhunderts die Rassenlehre aufkam, begann sich eine andere Wahrnehmung der Samen durchzusetzen. Wie Anna-Karen ­Niia, Rentierzüchterin und Journalistin, auf dem samischsprachigen Sender Sami Radio berichtet, begannen Wissenschaftler des Staatlichen Instituts für Rassenbiologie in den 1920er Jahren, die Schädel der Samen zu vermessen: „Dieses erniedrigende Verfahren, das auch in Nazideutschland praktiziert wurde, ist bis heute ein Trauma für unser Volk.“

Die Entstehung neuer Grenzen zwischen Schweden und Norwegen (das 1905 die Union mit Schweden auflöste) und später zwischen der UdSSR und Finnland (das 1917 von Russland unabhängig wurde) machte die traditionellen Wanderungen der Nomaden unmöglich. In Schweden wurden mehrere tausend Samen zwangsweise in den Süden umgesiedelt, wo sie assimiliert werden sollten. In den Schulen wurden Kinder bestraft und gemobbt, wenn sie Samisch sprachen. „Meine Eltern verstanden gar nicht, was der Lehrer sagte“, erzählt die Journalistin Niia. Kinder der Nomaden wurden in Internate gesteckt und durften ihre Familien nur noch in den Ferien besuchen. Um sich anzupassen, änderten viele Samen ihre Namen und gaben ihre Sprache nicht mehr an ihre Kinder weiter.

In den 1970er Jahren begannen die Samen sich politisch zu engagieren. In Norwegen protestierten sie gegen ein Staudammprojekt am Altaelva. Nach den Auseinandersetzungen gründete Oslo im Jahre 1989 das erste Samen-Parlament, das Vorbild für Finnland und dann auch für Schweden war.

Norwegen ist nach wie vor der einzige Staat, der schon 1990 das Übereinkommen Nr. 169 der ILO über die Rechte indigener Völkern unterzeichnet hat. Heute gilt für 95 Prozent der nördlichsten Provinz Finnmark (46 000 Quadratkilometer mit 73 000 Einwohnern) ein Autonomiestatut; das Gebiet wird seit 2005 vom samischen Parlament und der Provinzregierung gemeinsam verwaltet.

„Der Kampf der Samen in Norwegen hat uns inspiriert. Die nachfolgenden Generationen haben unsere Sprache gelernt“, erzählt Niia, während sie vor der samischen Schule von Kiruna auf ihren Sohn wartet; es gibt fünf solcher Schulen im schwedischen Lappland. „Ich bin im Süden aufgewachsen, und ich habe in der Schule nur Schwedisch gelernt“, berichtet Jenny Wik-Karlsson, Anwältin des Schwedischen Samenverbands SSR, die den Sameby von Girjas vor Gericht vertritt. „Seit etwa zehn Jahren lerne ich Samisch und bin stolz, mir etwas wieder anzueignen, das meiner Familie geraubt wurde.“ Nach Angaben des Samischen Informa­tions­zentrums sprechen heute zwischen 40 und 45 Prozent der Samen ihre eigene Sprache. ⇥G. C.

Le Monde diplomatique vom 08.12.2016