08.12.2016

Lektionen in ukrainischer Geschichte

zurück

Lektionen in ukrainischer Geschichte

von Laurent Geslin und Sébastien Gobert

Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 7. Juli dieses Jahres wurde die Kiewer Hauptstraße Moskowski Prospekt umbenannt. Nun trägt sie den Namen des äußerst umstrittenen ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909–1959). Dieser „Held des ukrainischen Widerstandskampfs“ gegen die Sowjets war im Zweiten Weltkrieg zeitweise in deutscher Kriegsgefangenschaft, doch er kollaborierte auch – im Juni 1941 und noch einmal Ende 1944 – mit den Nationalsozialisten.

Die Namensänderung ist Teil der 2015 begonnenen „Entkommunisierung der Ukraine“, mit der die eigene sowjetische Vergangenheit, aber auch der bedrohliche Schatten Russlands auf Abstand gehalten werden soll.

Im benachbarten Polen ruft das unschöne Erinnerungen wach. Im Juli stimmte in Warschau das Unterhaus des Parlaments, der Sejm, mit überwältigender Mehrheit dafür, die Massaker in den heute ukrainischen Gebieten Wolhynien und Ostgalizien im Jahr 1943 als „ethnische Säuberung“ und als „Völkermord“ einzustufen: 40 000 beziehungsweise 100 000 Polen wurden, so der Beschluss, „von ukrainischen Natio­nalisten brutal hingerichtet“.

Verantwortlich dafür war die von Stepan Bandera gegründete Ukrainische Aufstandsarmee (Ukrajinska Powstanska Armija, UPA), die heute in der Ukraine für ihren Unabhängigkeitskampf gegen die UdSSR verehrt wird, obwohl sie zeitweise mit den Nazis kollaboriert und zahlreiche Juden ermordet hat.

Der Historiker Wassili Rasewitsch von der Universität Lwiw findet die zeitliche Nähe der Beschlüsse bemerkenswert: Trotz gemeinsamer strategischer Interessen gegenüber Russland sieht er darin „das Ende der ukrainisch-polnischen Flitterwochen“. Und sie bedeuten das Scheitern des Versuchs, ein gemeinsames Geschichtsbild zu entwickeln. „Geschichtsschreibung sollte Historikern überlassen werden. Politiker sollten sich hüten, anderen ihre Sichtweise aufzuzwingen“, findet Wladimir Wjatrowitsch, Direktor des Ukrainischen Instituts für nationales Gedenken, eine Institution, die ihrerseits an einer offiziellen Version der Geschichte schreibt.

Wjatrowitsch ist einer der wichtigsten Köpfe hinter den vier Erinnerungsgesetzen, die das ukrainische Parlament im Mai 2015 verabschiedet hat: Das erste stellt die Verbreitung von totalitären kommunistischen oder na­tio­nal­sozialistischen Ideologien (sowie deren Symbole) unter Strafe; das zweite ordnet die Entfernung von Denkmälern und die Umbenennung von Orten mit Bezug zur UdSSR-Vergangenheit an; das dritte regelt die Öffnung sämtlicher Sowjetarchive; und das vierte betont das Gedenken an die „Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“. Die Verfassungsrechtsexperten des Europarats kritisierten im Dezember 2015 die unausgegorenen Gesetze und deren exzessive strafrechtliche Maßnahmen.

Entsorgung der sowjetischen Vergangenheit

Die aktuelle ukrainische Regierung, die aus der „Revolution der Würde“ im Jahr 2014 hervorgegangen ist, stützt sich bei ihrem neuen Geschichtsentwurf auf eine nationale Erzählung, die 1991 entworfen wurde und sich unter Präsident Juschtschenko (2005–2010) verbreitet hat. Juschtschenko war es, der Stepan Bandera die posthume Auszeichnung „Held der Ukraine“ verlieh. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum reagierte mit Abscheu auf diese Ehrung und erinnerte an die Verantwortung Banderas für die Ermordung tausender Juden.

Für Wladimir Wjatrowitsch aber ist das Wichtigste, „die Spuren der sowjetischen Besatzung zu beseitigen“. Da heiligt der Zweck die Mittel. „Wir müssen radikal handeln, denn das sowjetische Erbe wird nicht einfach verschwinden. Wenn wir nichts tun, wird es wieder erstarken.“

Und so demontieren die Ukrainer im Rahmen der Kampagne „Leninopad“ (Lenin-Sturz) eine Lenin-Statue nach der anderen. Präsident Poroschenko beglückwünschte sich bei einer Ansprache im Mai 2016 dazu, dass seit 2013 bereits etwa eintausend Denkmäler zum Ruhme des Chefbolschewiken aus dem öffentlichen Raum entfernt und siebenhundert Plätze, Straßen und Orte umbenannt worden seien. Die östlich von Kiew gelegene Stadt Dnipropetrowsk mit etwa einer Million Einwohner heißt beispielsweise neuerdings Dnipro. So soll jeglicher Bezug zu dem ukrainischen Kommunisten Grigori Petrowski (1878–1958) getilgt werden, der für den Großen Terror der 1930er Jahre verantwortlich gemacht wird.

Die bilderstürmerische Wut wird jedoch kaum dazu beitragen, das Land mit seiner eigenen Vergangenheit zu versöhnen. „Lenin ist inzwischen zu so etwas wie einer nebulösen Gottheit geworden, zu einer Verkörperung des Bösen schlechthin, die für die Macht des Anderen, des Fremden steht“, stellt die Oxforder Politikwissenschaftlerin Myroslava Hartmond fest. In der Tat hält es in der ukrainischen Regierung offenbar niemand mehr für angebracht, die 74 Jahre währende Ära des Kommunismus im Land als ein Kapitel der eigenen Geschichte zu betrachten.

„Unsere Denkmäler werden nicht geschützt, das künstlerische Erbe einer ganzen Epoche droht zu verschwinden“, bedauert der ukrainische Künstler Leonid Maruschak. „Einige Städte im Osten der Ukraine, wie Sjewjerodonezk oder Lyssytschansk, die in den 1920er Jahren erbaut wurden, haben gar keine andere Vergangenheit als die sowjetische. Diese Erinnerungen auszulöschen bedeutet für die Bevölkerung in diesen Orten, dass ihre Identität infrage gestellt wird.“

Manche Ukrainer haben für das Hin und Her nur noch Spott übrig. In Odessa zum Beispiel hat jemand eine Lenin-Statue in eine Darth-Vader-Skulptur verwandelt, und im Oblast Transkarpatien wurde eine Lenin- flugs in eine John-Lennon-Straße umbenannt.

Nazikollaboteure und Menschenrechtler

Für die Ukraine ist es schwierig, eine neue nationale Selbsterzählung zu erfinden, da das Land sich immer über andere definiert hat, das heißt über die Abgrenzung und die Opposition zu Feinden, Kolonisatoren, Unterdrückern.

Das Gesetz, das die Erinnerung an „die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert“ hochhält, will diese Lücke schließen, indem es etwas Positives in der Geschichte der Ukraine betont. Doch mit der Auszeichnung eines Helden wie Bandera werden die Nazikollaborateure der UPA am Ende auf dieselbe Stufe gestellt wie all jene, die etwa in den 1970er Jahren für die Menschenrechte gekämpft haben.

„Bandera hat gegen Stalin gekämpft, aber das heißt nicht, dass die beiden sehr verschieden waren“, meint der Historiker Timothy Snyder von der Yale University. Er erinnert daran, dass der Nationalistenführer in den 1930er Jahren als Erstes seine Gegner in der Ukraine ausschalten ließ.

Mit solchen Feinheiten will sich Wladimir Wjatrowitsch lieber nicht lang aufhalten. Die Beteiligung der UPA an den Massakern in Wolhynien und Ostgalizien erklärte der Historiker kürzlich zu einer „Frage des Standpunkts“. Diese Relativierung gibt Anlass zu der Befürchtung, dass die anstehende Aufarbeitung der Sowjetarchive, mit der sein Institut betraut ist, sehr einseitig verlaufen könnte. „Diese Dokumente dürfen nicht ausschließlich dazu dienen, die Sowjetzeit zu diskreditieren. Sie sollten dazu eingesetzt werden, eine ausgewogene Geschichte der Ukraine zu schreiben“, mahnt in diesem Zusammenhang Ioulia Shukan von der Universität Paris-Nanterre.

Seit den Auseinandersetzungen auf dem Maidan in Kiew Anfang 2014, die zum Sturz des moskaufreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch führten, ist Bandera zu einem Symbol des Kampfs gegen das korrupte, von Russland unterstützte Regime geworden. „Ein Symbol“, so der der ukrainisch-kanadische Historiker Serhy Yekelchyk, „das über ihn als den Urheber eines exklusiven Ethnonationalismus hinausgeht. Bandera steht inzwischen für die Treue zum ukrainischen Staat.“ Diese nationale Selbsterzählung überlagert mittlerweile die älteren Narrative und könnte die Lösung bestehender Konflikte zusätzlich verkomplizieren.

Während der Feierlichkeiten am 9. Mai 2015 zum Ende des Zweiten Weltkriegs sagte Präsident Poroschenko, die UPA-Kämpfer hätten eine „zweite Front gegen die Nazis“ eröffnet (die allerdings nicht sehr lange hielt). Kein Wort verlor er hingegen über die Verbrechen der UPA und ihre Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland oder über die Bedeutung der Roten Armee und der Partisanen für den Sieg über Hitlerdeutschland.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Laurent Geslin und Sébastien Gobert sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 08.12.2016, von Laurent Geslin und Sébastien Gobert