10.11.2016

Gammler, Yuppies, Stuhlkissen

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Gammler, Yuppies, Stuhlkissen

von Katharina Döbler

Berlin 1982 PAUL GLASER
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Als ich im Jahr des Aufstands 1968 in die höhere Schule kam, waren Jeans auf dem Schulgelände verboten und Hosen nicht gern gesehen. Röcke durften nur wenig kürzer sein als knielang. Es war ein Mädchengymnasium, in Bayern waren die allermeisten weiterführenden Schulen nach Geschlechtern getrennt. Bei der Abiturfeier forderte der Direktor die Schülerinnen auf, die knappen Studienplätze den Männern zu überlassen, die schließlich das Geld verdienen müssten. In Kürze würden sie, die Abiturientinnen, ja Kinder bekommen, wozu also der Aufwand.

Auf der Straße brüllten derweil Studenten und auch – obwohl in der Öffentlichkeit so wenig präsent wie im Weltbild meines Schuldirektors – Studentinnen. Diese Randalierer gesellten sich zu anderen Schreckgestalten, die den drohenden Untergang verkörperten: die Italiener („Gastarbeiter“) und die Gammler.

Früher habe es so etwas nicht gegeben, sagte die Geschichtslehrerin. Und sie fügte hinzu: Später einmal, wenn ihr euren Kindern erzählt, dass sich in München auf der Leopoldstraße viele Gammler herumgetrieben haben, werden sie sagen: Gammler, wieso, sind wir doch alle. Oder sie werden sagen: Gammler, was ist das?

Ich hielt damals beides für vollkommen unmöglich.

Die Lehrerin, die in der Nazizeit zur Schule gegangen war, hatte sich gewiss im Alter ihrer Schülerinnen den Phänotyp des Gammlers auch nicht entfernt vorstellen können: So etwas, darauf wurde auch 1968 und später auf der Straße oft und gern hingewiesen, wäre unter Hitler vergast worden.

Da meine Geschichtslehrerin recht behalten hat, kurz zur Erläuterung: Gammler waren Männer mit langen Haaren, die abgerissene, meistens bunte Kleider und viele Kettchen und Ringe trugen. Sie rauchten Joints und galten als ungepflegt, faul und kriminell. Sie trugen afghanische Lammfellmäntel, auch im Sommer. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, je das Wort Gammlerin gehört zu haben.

Gammler übten, je älter wir wurden, desto mehr Faszination auf uns aus: Sie waren die ersten Aussteiger, die sich mit einem gewissen Selbstbewusstsein kollektiv auf der Straße zeigten. Die meisten behaupteten, sich aus bürgerlichen Zwängen befreien zu wollen.

Uns dürstete nach Freiheit.

1968 gab es nicht nur Kleidervorschriften, sondern auch den Kuppeleiparagrafen 180, der die Begünstigung von Geschlechtsverkehr unter Minderjährigen (etwa durch die Eltern) unter Strafe stellte; und den Paragrafen 175, der Schwule zu Straftätern machte.

Im Übrigen hielten wir das damals im Vergleich zu heute lächerlich bescheidene Warenangebot in den Kaufhäusern für Konsumterror, von dem wir uns ebenfalls zu befreien wünschten.

In der Schule lernten wir lateinische Sinnsprüche: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Eine Binsenweisheit.

Für uns Schülerinnen war es aber eine Verheißung: The times they are a changin’. Es konnte einfach nicht bleiben, wie es war: so eng, so unfrei, so grau. Und es blieb auch nicht so: Die Sexparagrafen fielen. Die Lehrer begannen mit uns zu diskutieren, und in der Fußgängerzone stritten die Leute über die Ostpolitik. Es wurde geredet. Es gab die Pille. Die Lehrerinnen trugen bereits Hosen, allerdings noch keine Jeans.

Auch wenn damals niemand damit gerechnet hätte, dass Bob Dylan den Literaturnobelpreis bekommen würde – die Weltrevolution war wahrscheinlicher als das –, so war doch klar, dass alles besser wurde: offener, toleranter, freier.

Freiheit war der zentrale Begriff der 1970er Jahre. Freiheit war das Motto, unter dem ich erwachsen wurde. Nichts auf der Welt war erstrebenswerter, als frei zu sein: frei von Knechtschaft, Gewaltherrschaft und Zwang, aber auch frei von Angst und Vorurteilen und Konventionen. Freiheit und Fortschritt, das war dasselbe. Sogar die CSU führte einen Wahlkampf unter dem Schlagwort Freiheit – freilich in der ihr eigenen ideologischen Sparte: Freiheit statt Sozialismus.

Die Zeiten ändern sich. Die Vokabel Freiheit hat derzeit keine Konjunktur, als sei die Freiheit etwas, das wir schon hätten. Oder das uns nicht interessierte. Wir, die westlichen Europäer, haben andere Sorgen: Gerechtigkeit. Sicherheit. Das Klima.

Freiheit ist fast schon ein verdächtiger Begriff geworden: Einer der ironischen Apologeten des Wesentlichen, der Schriftsteller Christian Kracht, lässt seine Protagonisten gern ihr Heil in der Unterordnung finden. Und da ist er nicht der Einzige. Nichts könnte weiter entfernt sein von der allgemeinen Aufbruchstimmung der 1970er Jahre, die eine egalitäre, offene Gesellschaft verhieß.

Die Zeiten ändern sich. Im Lauf des Lebens wird die Binsenweisheit zur sehr persönlichen Erkenntnis. Im Lauf des eigenen Lebens nämlich verändern sich die vertrauten Muster der sozialen Landschaft: Sie verschieben sich, langsam und kaum merklich, aber in großem Stil. So, als gleite man inmitten einer gigantischen Lawine abwärts, ohne es zu merken, denn alles gleitet mit. Irgendwann merkt man, dass die vertrauten Landmarken fern gerückt sind. Und irgendwann sind sie nicht mehr sichtbar.

Wir sind durch die 1970er geglitten, mit ihrem Extremismus einer selbst ernannten Avantgarde und dem wütenden Kampf dagegen; durch die 1980er mit der ziellosen Revolte Punk, die schlagartig und irgendwie folgerichtig vom ebenso ziellosen Aufstieg des Yuppietums abgelöst wurde. Yuppies: auch so eine historische Spezies. Im Gegensatz zu den Gammlern ist sie nicht verschwunden, sondern den anderen von meiner Geschichtslehrerin prognostizierten Weg gegangen: Yuppies sind jetzt eigentlich alle. Damals trugen sie rote Hosenträger und schicke Anzüge oder Kostüme, scheffelten Geld, gingen in edle Restaurants, nahmen teure Drogen und kauften Designersachen. Sie verkörperten in jeder Hinsicht das Gegenbild des Gammlers. Sie verkörperten – nach Maggie Thatcher und Ronald Reagan – die neue Art Freiheit: die Freiheit des Erwerbs und des Konsums, diese große Beliebigkeit ohne sozialen und emotionalen Nährwert.

Wir steckten in der Lawine und merkten es zunächst nicht. Wir merkten vielleicht, dass die Hosen nicht mehr weit und bunt, selbst genäht und unten mit Glöckchen versehen waren, sondern dunkel, teuer und tütenförmig, mit großen Taschen. Der eigene Blick verschob sich mit der allgemeinen Perspektive. Ideale wurden peinlich. Das geschah schon vor dem Mauerfall. Aber als die Bürgerbewegungen im europäischen Osten, angetrieben vom Wunsch nach Freiheit, zu Massenbewegungen wurden, in denen Emanzipation und Konsum miteinander verschmolzen, verschoben sich auch im Westen die Gewichte noch mehr.

Alte 68er bereuten öffentlich ihren einstigen Glauben an den Sozialismus und schrieben, wie Jörg Friedrich, reaktionäre Bücher. Dabei hatte die Mehrheit der Linken im Westen ihre politische Utopie nie im Ostblock unter den Regimes sadistischer Oberlehrer oder offener Diktatoren verortet – dafür waren die alten Freiheitsideale dann doch zu wirksam.

Die Veränderung der politischen Landkarte nach 1989 ist unter vielen – wirtschaftlichen, ideologischen, geopolitischen, sozialen – Aspekten analysiert worden.

Was die Freiheit betrifft – das Schlagwort Freiheit –, gab es eine wesentliche Verschiebung. Freiheit wurde vom sozialen und politischen, auch utopischen, endgültig zum wirtschaftlichen Begriff. Damals, als ich mittendrin steckte, verspürte ich ein gewisses Unbehagen am Triumph des Konsumismus; aber die Leute aus dem Osten hatten ja etwas nachzuholen, es war ihnen also zu gönnen.

Ich stellte fest, dass Menschen, die nicht gerade gammelten, aber doch ein gewisses Aussteigertum für sich beanspruchten, immer weniger wurden. In der Zeitung Die Welt konnte ich im Jahr 2003 lesen, wie eine ehemalige Linke sich stolz zum Besitz von Stuhlkissen – als Chiffre einer bürgerlichen Existenz – bekannte.

Wo Freiheit draufstand, steckte irgendwann nur noch mittelständische Finanzkraft drin. Niemand musste die jungen Frauen mehr ermahnen, gegenüber den Männern zurückzustecken. Die Rollenverteilung in der bürgerlichen Familie begann sich nach wirtschaftlichen Motiven auszurichten: Wer mehr verdient, geht arbeiten, der andere (ja, zunehmend auch „der“, nicht nur „die“) macht Haushalt und Kinder. Statussymbole wurden wieder wichtiger. Kirchenzugehörigkeit wurde zum Distinktionsmerkmal, das gegen die Kirchensteuer abgewogen wird.

All diese Veränderungen werden nirgendwo groß plakatiert, sie geschehen eben. Und man bemerkt sie kaum.

Egalitarismus als gesellschaftliches Ideal ist verschwunden ebenso wie die Vorstellung von einer Freiheit, die nichts damit zu tun hat, was man sich leisten kann: Landmarken, die im allmählichen Gleiten der Lawine irgendwann unter dem Horizont geblieben sind.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.11.2016, von Katharina Döbler