13.10.2016

Jóns Beste Partei

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Jóns Beste Partei

von Gérard Lemarquis

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Nach der Finanzkrise 2008 bot die isländische Hauptstadt Reykjavík ein desolates Bild. Zwischen den nackten Betonwänden halbfertiger Gebäude heulte der Sturm. Verschwunden war der Wald von Kränen, der in den Zeit der Finanzblase in den Himmel gewachsen war. Viele Familien waren überschuldet, verloren ihr Zuhause oder kämpften um jede Krone, um es behalten zu können. 2010 wählten die verzweifelten Bürger den Komiker Jón Gnarr zum Bürgermeister.

Zunächst war die Kandidatur des punkigen Legasthenikers mit der bunten Biografie nur ein Gag. Gnarr, Bewunderer von Tristan Tzara, Prou­dhon und Bakunin, erklärte, er wolle die Macht nutzen, um „sich mühelos die Taschen vollzustopfen“ und „seinen Freunden einträgliche Posten zu verschaffen“. Unterstützt wurde er von Musikern und Schauspielern, viele aus dem Umfeld der Sängerin Björk, die sich als „surrealistische Anarchisten“ bezeichneten. Die von ihm gegründete Besti flokkurinn („Die Beste Partei“) kündigte an, sie werde ihre Wahlversprechen brechen, zu denen die Streichung aller Schulden, Überraschungsreisen für Senioren, die Verpflichtung für Männer, an bestimmten Tagen zu Hause zu bleiben, und Eisbären, Eichhörnchen und Frösche für den Zoo gehörten.

Hausarrest für Männer und Frösche für den Zoo

Die Hauptstadt – mehr als die Hälfte der 320 000 Isländer lebt im Großraum Reykjavík – war jahrzehntelang eine Bastion der konservativen Unabhängigkeitspartei gewesen. Nachdem Besti flokkurinn bei der Kommunalwahl im Mai 2010 mit 34,7 Prozent die meisten Stimmen erhalten hatte, bildete Gnarr eine Koalition mit den Sozialdemokraten und wurde Bürgermeister. Aus dem Provokateur und Spaßvogel wurde ein Politiker, der sein Amt mit entwaffnender Hingabe ausfüllte. Die Bewohner der Hauptstadt folgten ihm in seinem Bemühen um Transparenz und demokratische Teilhabe: Dieser vollkommen untypische Bürgermeister war der Mann der Stunde. In der tiefen Rezession, die Island niederdrückte, glaubte niemand mehr an große Versprechungen. Nur ein Außenseiter konnte das Leben verbessern.

Nicht zuletzt dank der Krise konnten Gnarr und seine Mitstreiter die vom Autoverkehr beherrschte Stadt in eine ökologische, moderne Hauptstadt mit vielen Fahrradwegen verwandelt. Nach dem jähen Übergang vom Wohlstand zur Rezession schafften die Isländer ihre Dritt- und Zweitwagen ab, und der Verkehr wurde weniger. Inzwischen ist der Wohlstand wieder zurück und mit ihm der tägliche Stau, und die Autofahrer schimpfen über die Fahrradwege neben dem Bürgersteig.

Gnarr wollte, dass die Einwohner das Wort haben und über ihren eigenen Stadtteil hinausdenken. Zwei Programmierer entwickelten Onlineforen für ein „besseres Viertel“ und ein „besseres Reykjavík“. Auch die Stadtverwaltung machte mit. Auf diesen Plattformen kann jeder Einwohner eine Initiative starten. Dann beginnt eine Diskussion über Für und Wider, an der alle teilnehmen können. Das Projekt, das die größte Unterstützung findet, erhält eine Anschubfinanzierung. Jede Position muss erklärt und begründet werden, damit Intrigen, Willkür und Bestechung keine Chance haben.

Vor der Kommunalwahl 2014 hofften die etablierten Politiker, Jón Gnarr werde sich selbst entlarven. Sicher würde er erneut antreten. Nachdem er einmal von der Macht gekostet hatte, würde er zwangsläufig einer der ihren werden. Als seine Umfragewerte gerade am höchsten waren, kündigte er jedoch an, er werde aufhören. Auch als seine Anhänger ihn nach den ersten Enthüllungen der Panama Papers aufforderten, für das Präsidentenamt zu kandidieren, blieb er bei seiner Entscheidung.

Das Abenteuer der „Besten Partei“ geht derweil weiter, sie regiert immer noch mit in Reykjavík, in einer Koali­tion mit den führenden Sozialdemokraten, der Links-Grünen Bewegung und der Piratenpartei. Seit 2013 tritt sie als Partei „Strahlende Zukunft“ auch landesweit auf. Sie hat derzeit sechs Abgeordnete im Althing – das bis aufs Jahr 930 zurückgeht und damit das älteste bestehende Parlament der Welt ist.

Früher wurden in Reykjavík bei Sonnenuntergang die Bürgersteige hochgeklappt. Heute ist die Stadt durch den expandierenden Tourismus fröhlicher, lebendiger und dynamischer geworden, es gibt viele kulturelle Angebote und die Menschen fühlen sich sehr sicher. Die Touristen, denen oft vorgeworfen wurde, sie zerstörten die Natur, haben die Stadt umweltfreundlicher gemacht, weil sie anders als die Hauptstädter meist zu Fuß gehen. Die Preise in der Gastronomie sind zwar gestiegen, aber ohne die Touristen gäbe es die vielen neuen Bars und Restaurants nicht.

Der Boom hat allerdings auch Schattenseiten. Die Kräne sind zurück. Die linke Stadtverwaltung erteilt Baugenehmigungen für Luxushotels, während die ärmeren Einwohner keine Wohnung finden. Der Erfolg von Airbnb entzieht dem Markt weiteren Wohnraum und treibt die Preise in die Höhe. Und die rechte Opposition, die sich lange für den Abriss der alten Holzhäuser starkgemacht hatte, entdeckt auf einmal ihr Herz für Ästhetik und kritisiert die Betonierung des Zentrums.

Als die Stadt 2010 vor dem Ruin stand, versprach Jón Gnarr einen bezahlbaren Traum. Bei der bevorstehenden Wahl wird bestimmt wieder der Bau von Zufahrtsstraßen vom zersiedelten Stadtrand ins Zentrum eine wichtige Rolle spielen. Dann wird Reykjavík zu einer Stadt der zwei Geschwindigkeiten: mit einem schicken Zentrum ohne Autos, in dem man sich gut zu Fuß bewegen kann, und öden Vorstädten voller Autoschlangen.

⇥Gérard Lemarquis

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Gérard Lemarquis ist Island-Korrespondent der Tageszeitung Le Monde.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2016, von Gérard Lemarquis