11.08.2016

Die beiden Kinder Gottes

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Die beiden Kinder Gottes

Evangelikale Christen aus den USA reisen durch Israel und hören, was sie hören wollen

von Tom Bissell

Andacht in Jerusalem DAN BALILTY/ap
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Im Frühjahr berichteten viele Kommentatoren aufgeregt über eine Umfrage der Nachrichtenagentur Bloomberg: Auf die Frage, ob ihnen Netanjahu oder Obama lieber sei, hatten die Anhänger der Republikaner mehrheitlich (mit 67 Prozent zu 16 Prozent) den israelischen Ministerpräsidenten ihrem eigenen Präsidenten vorgezogen. Der konservative Radiomoderator Rush Limbaugh sagte, er wünsche sich, „wir hätten in unserem Land auch eine derart starke, moralische und ethisch eindeutige Führung“. Und der konservative Anwalt und Aktivist Mark Levin bezeichnete Netanjahu als den „Führer der freien Welt“.

Die einzige konservative Radiotalkshow, die ich unterhaltsam finde, ist die von Dennis Prager. Er kann Linke zwar nicht leiden, lädt sie aber immerhin gelegentlich in seine Show ein. Prager nutzte den Obama-Netanjahu-Vergleich als Gelegenheit für einen Rundumschlag: „Die Leute, die das Böse nicht bekämpfen, sind doch nur wütend auf jene, die es tun.“

Viele von Pragers Zuhörern sind Christen, er selbst ist Jude. Etliche Anrufer in seiner Sendung haben ihm, oft mit schwerem Südstaatenakzent, erklärt, er sei der erste Jude, mit dem sie je geredet hätten. Letzten Sommer sprach er von einem Trip unter dem Motto „An Israels Seite stehen“, den er demnächst antreten werde. Er wolle Israel daran erinnern, dass es treue Freunde in den USA habe. Für knapp 5000 Dollar konnte man Prager und seine treuesten Zuhörer auf einer All-inclusive-Reise durch das heiligste und umkämpfteste Land der Welt begleiten.

Die religiöse Rechte in den USA war nicht immer von Israel begeistert und schon gar nicht von den Juden. Mehrere evangelikale Gründerfiguren waren unverblümte Antisemiten. 1933 warnte der Radioprediger Charles Fuller seine Zuhörer vor den Juden, die „eine böse und mutwillige Rebellion gegen Gott“ seien; andere brachten das auf Fälschungen beruhende antisemitische Pam­phlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in Umlauf. Der Staat Israel hatte jahrzehntelang bei den US-Konservativen keine Freunde. Der erste Fürsprecher im Weißen Haus war John F. Kennedy, ein Demokrat.

1981 bedankte sich der israelische Ministerpräsident Menachem Begin erstmals öffentlich bei evangelikalen Christen für ihre Unterstützung. Deren erklärte Absicht, Juden zum Christentum bekehren zu wollen, war den Israelis lange unheimlich gewesen. Während der religiöse Tourismus der Evangelikalen und die Millionen Dollar, die dadurch in die israelische Wirtschaft flossen, immer willkommen waren, hielt man sie politisch auf Abstand.

Begin erkannte als Erster, dass die israelischen Rechten und die Evangelikalen in den USA viele gemeinsame Überzeugungen haben, von der Verurteilung von Abtreibungen bis hin zum Generalverdacht gegen Muslime. Die „Christian Coa­li­tion“, 1989 von dem baptistischen Radioprediger Pat Robertson gegründet, setzte sich für die zionistische Sache ein. 2002 lobte der Mehrheitsführer des Repräsentantenhauses Tom DeLay die „Christian Coalition“, weil sie sich „für die Juden und für Jesus stark macht“. Als der christliche Zionismus politisch mit den Zielen der israelischen Rechten verschmolz, wetterte Robertson gegen Palästinenserchef Jassir Arafat und seine „Schlägerbande“.

Um besser zu verstehen, warum die konservative Politik in den USA gleichbedeutend ist mit der bedingungslosen Unterstützung Israels, habe ich mich zu Pragers Israelreise angemeldet. Es ist November, wir stehen in der Lobby des Leonardo-Plaza-Hotels in Aschdod, wo wir uns Pragers Einführungsvortrag zur Reise anhören wollen. Wir sind eine Dreiviertelstunde früher gekommen, aber es gibt keine Plätze mehr. Alle sind schon da. Die Mehrheit der Mitreisenden ist sechzig Jahre und älter. Gut 450 Leute aus einem Dutzend US-Städte – zu viele Unterstützer Israels, um sie alle in einem Hotel unterzubringen. Die Küstenstadt Aschdod, rund 35 Kilometer nördlich von Gaza gelegen, war im Gazakrieg 2014 ein häufiges Ziel von Raketen der Hamas. Ein paar Nachzügler unserer Gruppe steigen aus ihren Bussen. Alle staunen, wie zuvor auch ich, über das riesige Transparent, das über den Hoteleingang gespannt ist: „Willkommen im Land der Bibel“.

Das Woodstock der fundamentalistischen Christen

Die Präsentation beginnt. Prager wird von einem kahlköpfigen, drahtigen Israeli mit samtener Stimme namens Reuven Doron vorgestellt, dem Mann vor Ort von „Genesis Tours“. „Wir sind aus einem Grund hier“, sagt Doron zu uns. „Wir wollen Israel unterstützen.“ Aus der Zuhörerschaft erklingen ein paar undeutliche Amen. Doron fährt fort: „Ihr seid unsere Stärke, unsere Ermutigung und unseren Herzen eine Freude.“

Schließlich schlendert Prager zum Mikrofon. Er ist groß, über einsneunzig, und hat dünne, gelbblonde Haare. Mit seinen Khakihosen und dem blau gestreiften Hemd mit offenem Kragen könnte er als Rektor einer Universität durchgehen. Er hat viele weibliche Bewunderer im Saal, darunter auch seine dritte Ehefrau, eine einsachtzig große blonde Amazone, die im Hintergrund steht.

Prager erzählt zunächst vom „Israel-Test“. Der bestünde darin zu beobachten, „wie Menschen auf Israel reagieren“, damit erkenne man ganz schnell ihre Einstellung. Was nichts anderes heißt als: Wenn du Israel kritisierst, bist du ein Scheusal. Präsident Obama fällt beim Israel-Test durch, obwohl er Israel 2012 die höchste Militärhilfe geleistet hat, die das Land je von den USA erhalten hat. John Kerry schneidet noch schlechter ab, weil er beim Konflikt zwischen Israel und Palästina oft eine „mittlere Position“ einnehme, „als gäbe es da nicht eindeutig die helle und die dunkle Seite“.

„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen,“ fährt Prager fort, „wie stolz ich auf euch bin. Ich meine das ganz ernst. Es bedeutet mir unendlich viel. Um ehrlich zu sein, als es vor einem Monat mit diesen Angriffen los ging“ – mehr als ein Dutzend Israelis wurden auf offener Straße von palästinensischen Angreifern niedergestochen –, „wussten wir nicht, wie viele Leute diese Reise absagen würden. Am Ende hat fast niemand storniert.“

Prager erklärt, dass er als unser Reiseführer kein Geld bekomme. Er findet außerdem, US-amerikanische Eltern – christliche und jüdische gleichermaßen – sollten ihre Kinder zwischen ihrem Schulabschluss und dem Studium nach Israel schicken. „Der moralische Kompass der Welt ist verdreht. Wenn Ihr Kind Zeit in Israel verbringen kann und erkennt, wie verrückt die Welt ist, dann wird es, wenn es zu studieren beginnt, schon immun sein gegen die verdrehteste aller westlichen Institutionen, die Universität.“

Zu oft nutzen US-Amerikaner das Thema Is­rael nur als Spiegel für ihre eigenen Ansichten über die USA. Linke neigen dazu anzunehmen, dass rechte Evangelikale Israel unterstützen, weil es in ihre Vorstellungen von der Apokalypse passt: Erst wenn das auserwählte Volk Gottes sein gesamtes biblisches Territorium wieder besetzt hat, ist die Endzeit angebrochen, die Herrschaft des Antichristen, die Stunde der Großen Trübsal beginnt, die Wiederkunft Jesu Christi und sein Jüngstes Gericht sind nahe.

Die Staatsgründung Israels 1948 war in vielerlei Hinsicht das Woodstock der fundamentalistischen Christen. Einer Studie des Pew-Forschungsinstituts zufolge glauben 63 Prozent der weißen Evangelikalen, dass die Schaffung eines jüdischen Staats in der modernen Zeit die biblische Prophezeiung von der Zweiten Ankunft Jesu erfülle. Das alles interessiert die evangelikalen Christen, die ich auf dieser Reise kennen lerne, freilich nicht. Ihre Liebe zu Israel scheint sich in der Vorstellung von Gott als dem Vater zweier Kinder zu bündeln, nämlich Israel und die USA. Dieses Israel – kein Land, sondern ein eigensinniger Bruder – liegt jenseits der Geschichte, jenseits der Toten und der Kriege, aus denen es hervorgegangen ist, jenseits der Vereinten Nationen, jenseits des Friedensabkommens von Oslo, jenseits jeder konventionellen Moral. Nur wer das versteht, hat den Israel-Test bestanden.

Ein Soldat tritt hervor. Er trägt eine glänzende gelbe Artilleriegranate. Begeisterte Rufe, als wir erfahren, dass das Geschoss in den USA produziert wurde.

Später, beim Black Arrow Memorial, dem Denkmal für die Operation „Schwarzer Pfeil“ (1955), werden wir aufgefordert, uns um einen anderen jungen israelischen Soldaten zu versammeln, der kurz zuvor sein drittes Dienstjahr in der Armee beendet hat. Er hat ein längliches Gesicht, dunkle Haare und einen Bart. „Ich weiß nicht, wie viel Prozent der Bevölkerung es sind“, sagt er über die Palästinenser, denen er begegnet ist, „aber die meisten wollen wirklich in Frieden leben.“ Er war zwei Jahre im Westjordanland stationiert, und wann immer er junge Palästinenser traf, die Autos mit Steinen bewarfen, wusste er, dass sie jung waren und keine Ziele hatten, „auf nichts konzentriert. Sie sind unreif.“ Der junge Soldat hält inne und sucht nach einem besseren englischen Wort, um diese Palästinenser zu beschreiben. Jemand aus der Menge schlägt vor: „Schweinehunde!“

Der Soldat hört den Einwurf nicht. Vielleicht überhört er ihn auch. Er redet weiter von den vielen palästinensischen Teenagern, die nichts anderes zu tun hätten, als Steine zu werfen. „Wir sollten nicht denken, alle Araber wären gleich, wenn einer von ihnen etwas Falsches tut.“

Kollektives Unbehagen befällt die Gruppe. Fast meint man das Surren zu hören, mit dem es in den Gehirnwindungen arbeitet. Der Soldat redet von der Religion, die ein wichtiger Faktor sei. „Die Radikalen auf beiden Seiten haben ihren Anteil, einen wichtigen, einen großen Anteil, das macht alles sehr, sehr, sehr kompliziert.“

Eine Frau – nicht aus unserem Bus Nummer fünf, wie ich erleichtert berichten kann – schiebt sich durch die Menge. Sie ist über vierzig, trägt eine überdimensionierte Sonnenbrille, eine dicke Winterjacke, Freizeithose und bunte Sneakers. „Wenn Sie von Radikalen auf beiden Seiten sprechen, meinen Sie damit einerseits die Radikalen, die ihren Kindern von klein auf beibringen, die Juden zu hassen, und andererseits Radikale jüdischen Glaubens?“ „Ja“, antwortet der junge Soldat. „Aber Juden tun nichts derartiges.“ Sie gestikuliert wild herum, als würde sie gleich den Verstand verlieren. „Wollen Sie damit sagen, die Verantwortung liege auf beiden Seiten? Verstehe ich das richtig? Dabei ist die Mentalität doch vollkommen verschieden.“

Der junge Soldat schaut die Frau fassungslos an. Er versucht, ihr klarzumachen, dass viele Juden, die in den „schwierigen Gebieten“ im Westjordanland leben, ihre Kinder mit der gleichen Art von Hass erziehen. Als sie das hört, wirft sie die Arme in die Höhe. „Bei allem Respekt, nein!“, sagt sie. „Also wirklich, nein.“ Ein Mann murmelt: „Wenn Dennis Prager hier wäre, würde er dem Kerl den Arsch aufreißen.“ Der junge Soldat hat die Menge gegen sich, schweigend steht er da, sein Mikrofon fest in der Hand. Ein anderer Soldat tritt dazu, nimmt das Mikro und sagt: „Vielleicht gibt es hier eine kleine sprachliche Verwirrung. Machen wir weiter, ja?“

Wieder tritt Prager auf, sein Sakko ist an den Schultern dunkel vom Regen. In der Nähe singen zwei Dutzend Teilnehmer einer anderen christlichen Reisegruppe, es klingt wie im Traum. Wieder stellt Reuven Doron von Genesis Tours Prager vor. Es hat fast aufgehört zu regnen, ein Beweis dafür, dass „Gott Dennis Prager liebt“.

Prager erzählt von seiner Zeit an der Uni, wie er als Russischstudent an einem Kiosk in der 42. Straße die Prawda gekauft hat. Eines Tages meldete sich jemand von der israelischen Regierung bei ihm und bat ihn, in die Sowjetunion zu reisen und hebräische Bibeln und Gebetsschals hineinzuschmuggeln. „Es war ziemlich gefährlich“, sagt Prager. „Sie schickten mich, weil ich Hebräisch und Russisch konnte.“ Er kam zurück mit den Namen von Juden, die die UdSSR verlassen wollten, und begann, Vorträge über die Juden in der Sowjetunion zu halten. Er bezeichnet diese Phase als „den Beginn meines öffentlichen Lebens“.

Er hielt jede Woche mehrere Vorträge. „An fast jeder Synagoge in den USA – im Übrigen auch in Australien, Frankreich, überall in der freien Welt – hing ein Schild: ‚Rettet die Juden in der Sowjetunion‘. Zu meinem Entsetzen gab es in keiner Kirche ein Schild: ‚Rettet die Christen in der Sowjetunion‘. Dabei hat die Sowjetregierung mehr Christen umgebracht als Juden. Warum gab es dann keine Schilder zur Rettung der Christen, aber Schilder zur Rettung der Juden? Weil die Juden ein Volk sind, die Christen hingegen eine Religion.“

Prager zufolge ist das einer der Gründe dafür, dass es auch heute keinen kollektiven Aufschrei gibt, wenn der IS in Syrien, im Irak und anderswo Christen ermordet. „Ich weiß nicht, warum die Christen nicht ausrasten angesichts der Dezimierung von Christen im Nahen Osten.“ Meiner Meinung nach gibt es dafür eine ganz andere Erklärung: Die Christen, die im Nahen Osten zu Zielscheiben werden, gehören Sekten an – syrisch-orthodoxe Christen, Maroniten, Chaldäer – und sind den westlichen Christen so fremd, dass sie genauso gut Muslime sein könnten. Des Weiteren redete Prager von den Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum. Die Juden seien das auserwählte Volk, während die Christen das Werk Gottes vollenden.

Mit dem Bus geht es nach Nazareth, in ein überwiegend arabisches Gebiet, wo wir in einem Hotel, das früher ein Auffanglager für Immigranten war, zu Mittag essen. Die gewundene Straße, die den Berg hinaufführt, ist gesäumt von Müll. Jemand fragt unseren Reiseführer David, warum die arabischen Städte alle so voller Müll sind. Ein anderer will wissen, wie die Araber nach Nazareth kamen. David erklärt, dass hier nie viele Juden gelebt haben, Nazareth war immer eine arabische Stadt und wurde von Arabern für christliche Touristen aufgebaut. „Es ist nicht so, dass die Araber den Juden die Stadt weggenommen hätten.“ Die Antwort scheint niemandem zu gefallen.

Wir erreichen Misgav Am, den „Kibbuz am Ende der Welt“, wie die Begrüßungstafel verkündet. Er ist berühmt, weil er 1945, zwei Jahre früher als der Staat Israel, von Angehörigen der Untergrundmiliz Hagana gegründet wurde. Innerhalb seiner Mauern sind drei Einheiten des Militärgeheimdienstes stationiert. Hier leben keine unbekümmerten Kibbuzniks, die handgemachte Seife herstellen, wie man sie in der Nähe des Toten Meers findet, sondern raubeinige Bauern, die wissen, dass die Granaten der Hisbollah hier einschlagen können.

Ein Urgestein des Kibbuz begrüßt uns, ein Mann mit einem gewaltigen Bart: „Ich sage immer – bitte verzeihen Sie mir, wenn ich jemanden beleidige, das ist nicht meine Absicht –, wir hier sind die israelischen Rednecks.“ Dieser israelische Redneck ist in Cleveland geboren und 1961 nach Israel ausgewandert, „nachdem ich erkannt hatte, dass ich dabei war, mein Leben zu vergeuden“. Er hat „in viereinhalb Kriegen“ für Israel gekämpft, „1967, bei der Befreiung Jerusalems, war ich bei den Fallschirmspringern. Wir hatten 50 Prozent Verluste.“ Dadurch „wurde das Mitleid gewissermaßen aus mir rausgeprügelt. Ich liebe meine Feinde nicht, und ich habe kein Problem, sie zu erschießen. Morgens nehme ich eine kleine weiße Pille, die mich im Gleichgewicht hält und nachts gut schlafen lässt.“ Dafür erntet er lautes Gelächter. Er sagt noch: „Land ist hier alles. Wenn du das Land halten kannst, gehört es dir.“ Und weiter: „Die Leute von der Hisbollah haben ein Ziel. Die Palästinenser haben ein Ziel. Manche wollen vielleicht Frieden, andere nicht. Es spielt keine Rolle, ihr Ziel ist so oder so die Zerstörung Israels. In diesem Teil der Welt gibt es keine unschuldigen Zivilisten. Es gibt Kombattanten und Nichtkombattanten. Niemand ist unschuldig außer den Kindern. Kinder sind immer unschuldig.“

Codewort für Yad Vaschem

Der israelische Redneck hat seine Rede beendet. Die Unterstützer Israels strömen hinaus, lachen und schwärmen von dem, was sie gerade gehört haben. Zwei Reiseführer überholen uns. Einer sagt zum anderen: „So wie der würde ich auch gern reden, aber dann würde ich meine Lizenz verlieren.“

Unser Tagesablauf hat sich eingespielt: frühes Aufstehen, zu viel essen am Frühstücksbuffet, Bus fahren, israelische Soldaten treffen, Bus fahren, zu viel essen am Mittagsbuffet, einen Vortrag anhören, „Ich brauche Urlaub von meinem Urlaub“ sagen (mit Ironie), Bus fahren, Sehenswürdigkeiten ansehen, noch mehr israelische Soldaten treffen, Bus fahren, „Ich brauche Urlaub von meinem Urlaub“ sagen (ohne Ironie), zu viel essen am Abendbuffet, ins Bett fallen wie ein Stein.

Nach dem Abendessen in unserem neuen Hotel in Jerusalem treffen wir David. „Auf Wiedersehen, ihr beiden“, sagt er. Wir gehen weiter und sagen, „bis morgen“. „Nein“, erwidert er, „Goodbye.“ Wir bleiben stehen. Zehn Minuten zuvor hat ein Vertreter von Genesis Tours David beiseite genommen und ihm mitgeteilt, dass die Gäste aus Bus fünf abgestimmt und ihn als Reiseführer abgesetzt hätten. Ich versichere ihm, dass es meines Wissens eine solche Abstimmung nicht gegeben hat, was ihn ein bisschen aufzuheitern scheint. Nachdem David auf sein Zimmer gegangen ist, frage ich einige Leute aus Bus fünf – niemand weiß von dieser ominösen Abstimmung.

Ein paar Tage später, gegen Ende unserer Reise, wird uns beim Einsteigen in Bus fünf ein „emotionaler“ Tag angekündigt. Das ist das Codewort für den Besuch von Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem.

In den Betonhallen der „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“ versteht man auf einmal, warum Israel so besorgt um seine Sicherheit ist – obwohl es die stärkste Armee in der Region besitzt und von der letzten verbliebenen Supermacht der Welt unterstützt wird. Tausende Israelis können sich noch daran erinnern, wie ein ganzer Kontinent sich zusammengetan hat, um selbst die am besten assimilierten und ausgebildeten Juden loszuwerden. Diese nagende, von Generation zu Generation weitergegebene Angst hält die zunehmend gespaltene israelische Gesellschaft zusammen, genau wie die palästinensische Gesellschaft – einschließlich Muslime und Christen, israelischer Staatsbürger und Bewohner der besetzten Gebiete – durch die gemeinsame Wut und die Demütigung durch die Juden zusammengehalten wird.

Vielleicht ist es ja diese Angst vor der jederzeit drohenden Vernichtung, die Israelis und US-Konservative verbindet. Die Israelis reagieren auf etwas, das tatsächlich geschehen ist, die US-Konservativen auf etwas, das sie befürchten. Und beide verlieren: Unter dem Druck der Besatzungspolitik bröckelt die israelische Demokratie, und in den USA zerfällt die kulturelle Vormacht der konservativen Weißen. Beide setzen als kurzfristige Lösung auf den politischen Einfluss einer fanatisch-religiösen Unterstützerbasis. Inzwischen diktiert die Wut des Volkes die Agenda der politischen Eliten. Ein Mitreisender in Bus fünf hat sich ein paar israelische Flaggen gekauft – „damit die Leute wissen, wofür mein Herz schlägt“.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Tom Bissell ist Buchautor und Journalist. Er schreibt unter anderem für Harper’s Magazine, wo eine längere Fassung dieses Beitrags erschienen ist.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2016, von Tom Bissell