Berlín, El Salvador
Ein friedliches Städtchen in den Bergen versucht, die Bandenkriminalität fernzuhalten
von Roberto Valencia
Berlín liegt nicht in Deutschland. Aber es sieht auch nicht aus wie El Salvador. Daher meine Fassungslosigkeit, als der Bus 354 nach kurvenreicher Fahrt durch das Gebirge von Tecapa-Chinameca an seinem Ziel ankommt. Am Park heißt es aussteigen – und was sehe ich als Erstes? Drei Polizisten mit kugelsicheren Westen und Knarren, die einen schlaksigen jungen Mann, Hände im Nacken, gegen eine Hauswand gestellt haben. Einer nimmt seine Brieftasche und fleddert sie schamlos. Ein anderer durchsucht sein Handy. Dann lassen sie ihn gehen.
Fassungslos bin ich deshalb, weil ich nach Berlín gekommen bin mit der festen Überzeugung, in diesem Städtchen in der Provinz Usulután einen für salvadorianische Verhältnisse friedlichen Ort vorzufinden. Die Mordrate der letzten zehn Jahre liegt hier eher auf dem Niveau von Costa Rica als auf dem von El Salvador. Selbst in den letzten zwei, drei Jahren, als auch in dieser Gegend (in Santiago de María, Tecapán, Mercedes Umaña) die Gewalt eskalierte, blieb die Rate hier relativ niedrig, ein Mord alle drei, vier Monate. Eigentlich bin ich hierhergekommen, um den Grund für diese Friedlichkeit herauszufinden.
Das Filzen des jungen Mannes ist nur der erste von vielen Widersprüchen. Im ganzen Park wimmelt es von Polizisten mit ernsten Gesichtern und schweren Waffen. Sie warten, dass in der strahlend weißen Kirche San José, am Rand des Parks, eine Totenmesse zu Ende geht.
Im Innern liegt, aufgebahrt in einem grauen Sarg, Roberto Carlos Alejo, 31 Jahre alt, zu Lebzeiten Mitarbeiter bei der Buslinie 140. Mitglieder einer Bande haben ihn vor drei Tagen in der Gemeinde Los Olivos in San Martín, einem Außenbezirk von San Salvador, ermordet. Es war der Wunsch der Mutter, die aus Berlín stammt, dass er in der heimatlichen Erde begraben wird, der Heimat, der sie vor ewigen Zeiten entronnen war. Doch im Ort verbreitete sich das Gerücht, hier würde die Messe für einen Marero, ein Bandenmitglied, gehalten.
„Anwohner haben uns gemeldet, dass auf einmal Jugendliche hier aufgetaucht sind, die niemand kennt“, wird mir Kommissar Francisco Pérez später sagen.
Als Pfarrer Cándida beim „Gehet hin in Frieden“ angelangt ist, hebt sich der Sarg mit einem Ruck, getragen von richtigen Männern, und hinter ihnen gehen an die 30 Trauernde, in erdrückender Mehrheit Frauen. Vor der Tür warten ein alter Pick-up Nissan Frontier mit Klimaanlage als Leichenwagen und ein Coaster-Reisebus der Linie 140. Plötzlich treten Polizisten dazu, greifen sich drei junge Männer aus der Gruppe heraus und stellen sie, Hände in den Nacken, gegen eine Wand. Das alles spielt sich mit einer merkwürdigen Selbstverständlichkeit ab.
Die Totenglocken läuten: zwei Schläge, lange Stille, wieder zwei Schläge. Ein paar Angehörige beklagen sich demütig. „Die sind von hier“, sagt eine Frau. „Die sind in Ordnung“, eine andere. „Es ist nur zu Ihrer Sicherheit, wenn mit ihnen nichts ist, nehmen wir sie auch nicht fest“, erwidert einer der Polizisten, die Freundlichkeit in Person. „Der da ist der Cousin des Verstorbenen, der dort auch ... alle drei sind sie Cousins“, insistiert eine Frau. Anspannung aber ist nicht zu spüren. Die Polizisten schlagen den Umstehenden vor, schon mal im Bus zum Friedhof vorauszufahren, die drei würden nachkommen, wenn nichts gegen sie vorliege. „Sie machen ihre Arbeit“, sagt einer der Trauernden. „Schließlich haben sie ihn von dort hergebracht. Die gehen nur auf Nummer sicher, ist auch das Beste für das Dorf“, sagt ein anderer. Die schärfste Kritik lautet: „Die Polizisten sollten auf die Gefühle der Trauernden mehr Rücksicht nehmen.“ Nach zehn Minuten bekommen sie über Funk die Meldung, dass die Jugendlichen sauber sind, sie geben ihnen ihre Ausweise zurück, und zumindest für heute können sie in Frieden ziehen. Nach und nach kehrt um den Park herum wieder Normalität ein.
Ich gehe auf einen der Polizisten zu, der mir der Einsatzleiter zu sein scheint. „Wenn hier Leute auftauchen, die nicht aus Berlín sind, sind wir als örtliche Polizei verpflichtet, ihre Personalien zu überprüfen“, erklärt er mir, „außerdem haben sie den Toten ja von dort hergebracht ... Die Leute halten uns über alles auf dem Laufenden.“
Nein, das kommt mir nicht vor wie El Salvador.
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Der Legende nach hat Berlín seinen Namen von einem Schiffbrüchigen: Ein von Costa Rica kommendes Schiff mit einem geheimnisvollen Deutschen namens Serafín Brennen an Bord soll vor der salvadorianischen Küste gesunken sein, man sagt, es sei im Jahr 1884 gewesen. Herr Brennen ließ sich im Tal Agua Caliente nieder, das zur Gemeinde Tecapa (heute Alegría) gehörte. Als im Oktober 1885 der Präsident der Republik, Francisco Menéndez, ein Dekret unterzeichnete, das die Gründung eines Dorfs im Tal erlaubte, wählten die Beschenkten für ihren Ort den Namen Berlín, die Geburtsstadt des Ausländers, der sich bei ihnen bestens eingelebt hatte.
Dank des Kaffeeanbaus und des milden Klimas in 1000 Meter Höhe gedieh die Siedlung und wuchs rasch: Nach zwei Jahrzehnten wurde sie mit einem nächsten Dekret zur eigenständigen Gemeinde erklärt, wieder zehn Jahre später zur Stadt. Die schwarz-rot-goldene Fahne Deutschlands ist auch die Berlíns, das 110 Kilometer von der Hauptstadt San Salvador entfernt liegt. Die knapp 17 000 Einwohner werden von Jahr zu Jahr weniger, trotz der Beschäftigungsmöglichkeiten beim staatlichen Geothermiekraftwerk LaGeo und trotz der Felder ringsum, die zu den ertragreichsten von El Salvador gehören.
Berlín ist ein freundliches Städtchen, wo man wenig Stacheldraht sieht und keine Gitter oder Sicherheitsleute vor den Geschäften, wo die Türen der Wohnhäuser offen stehen, wo man sich gegen Abend an den Straßenrand setzt, um mit den Nachbarn zu plaudern, und die Leute einen Fremden begrüßen wie einen alten Bekannten. Das allein wäre noch nichts allzu Besonderes, aber was diesen Ort einzigartig macht, ist das vollkommene Fehlen von clicas und canchas und placazos, und es gibt auch nicht das sonst überall übliche Sehen, Hören und Schweigen: Es gibt keine Maras in Berlín.
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Berlín-Salvador hat mehrere Schulzentren und eine weiterführende Schule: das Instituto Nacional de Berlín (INB). „Wir leben hier in einer ruhigen Stadt“, sagt Saúl Flores González, Don Saúl, seit über zehn Jahren Direktor. Die weiterführenden Schulen sind in El Salvador eine Messlatte, an der man den Einfluss der Maras ablesen kann. Man braucht dafür nur auf das Jungsklo zu gehen. In der Oberschule in Berlín sind hier und da durchaus Embleme wie „MS13“, „NLS“, „XV3“ und andere Siglen der Maras, der Jugendbanden, irgendwohin geschmiert oder gekratzt, aber es sind vergleichsweise wenige, schlecht und flüchtig gemacht, eher nebenbei entstanden. Noch ungewöhnlicher ist, dass am Eingang der Schule kein Polizist oder Soldat oder Wachmann steht. Dennoch ist Don Saúl in Sorge. In den letzten Jahren kommen zunehmend Schüler aus anderen Landkreisen. Viele stammen von dort, aus Apopa, aus Soyapango, aus San Miguel, und einige von denen, die mit 11, 12 oder 14 Jahren hierherkommen, tragen den Alien in sich.
„Jeden Montag beginnen wir mit einer Versammlung für alle Schüler“, sagt Don Saúl. „Ich versuche ihnen verständlich zu machen, dass wir einander respektieren müssen, dass sie in ihrer Freizeit natürlich machen können, was sie wollen, aber dass wir die Schule von allem, was mit Maras zu tun hat, frei halten wollen, dass die Schule eine neutrale Zone sein soll und hier niemand der Besitzer von irgendwas ist. Ich sage ihnen, dass ihre Kinder eines Tages hier lernen werden und dass wir uns um das, was wir hier haben, gut kümmern müssen.“
Neben dem Basketballfeld, wo die Versammlung stattfindet, steht in großen gemalten Buchstaben auf eine Wand geschrieben: „Deine Eltern stecken Zeit und Geld in deine Ausbildung; enttäusche sie nicht.“
Und das funktioniert? „Ja. Ich rede zu ihnen mit allem Respekt.“ Eine Moralpredigt einmal pro Woche? Das ist alles?
„Nein. Entscheidend sind die sozialen Projekte, und daran sind mehrere Institutionen beteiligt. Zum Beispiel machen 60 bis 80 Jugendliche in der Musikgruppe mit. Sie sind dort jeden Nachmittag von vier bis sechs oder sieben. Wer da nicht mitmacht, spielt Billard. Das Rezept ist, dass die Jugendlichen beschäftigt sind, aber dafür braucht man Mittel.“ Die Jugendlichen müssen beschäftigt sein, sagt Don Saúl. So einfach und so schwierig.
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Der Markt von Berlín würde keine Medaille für Sauberkeit, Ordnung oder Schönheit bekommen, aber er hat einen unschätzbaren Vorteil: Keine clica der Mara Salvatrucha oder von Barrio18 nötigt den Händlern – unter Todesdrohungen – Schutzgeld ab. Es gibt einzelne Erpressungsversuche, aber die kommen in Berlín in der Regel sofort zur Anzeige. „Die Leute hier sind sehr wachsam, fast alle kennen sich, und die Polizei handelt schnell“, sagt Salvador Peña, seit vier Jahren der Verwalter, in seinem Minibüro. Er wirkt sehr überzeugend, als er die Stadt für bandenfrei erklärt. Aber wenn die Banden eine Bedrohung wären, würde er das wohl kaum einem Journalisten ins offene Mikrofon diktieren.
Unweit des Markts, in der Avenida Simeón Cañas, befindet sich das Amtsgericht von Berlín. Die Sekretärin, Ana Margarita Bermúdez, lässt mich einen Blick ins Gerichtsbuch werfen, ein dickes, von Hand geführtes Heft, in dem sämtliche Prozesse des laufenden Jahres erfasst sind. Die am häufigsten genannten Paragrafen des Strafgesetzbuchs sind §346 (illegaler Waffenbesitz), §142 (Körperverletzung) und §367 (Entführung und Menschenhandel).
Die wichtigste Einnahmequelle der salvadorianischen Maras ist Erpressung, Berlín scheint hiervon nicht betroffen zu sein. Es gibt immer wieder einzelne Fälle, clicas aus der Umgebung sprechen per Telefon Drohungen aus, Kriminelle geben sich als Mareros aus, aber von Schutzgelderpressung keine Spur. Wie gesagt: Das sieht nicht aus wie El Salvador.
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Bei der nationalen Zivilpolizei ist für das Jahr 2014 in Berlín ein einziger Mord verzeichnet. In Mercedes Umaña gab es 15. In Ozatlán 10. In Alegría 11. In Tecapán ebenfalls 10. Alle diese Gemeinden liegen ebenfalls in der Provinz Usulután, und alle haben weniger Einwohner als Berlín.
Francisco Pérez, 43 Jahre alt, trägt seit 22 Jahren Uniform. Man hat ihn vertretungshalber für sieben Monate als Leiter der örtlichen Polizeieinheit hierher versetzt, die Hälfte der Zeit ist um. Davor war er im Polizeidienst der Provinz Usulatán, im Sondereinsatzkommando Sistema 911. Und davor in Santa Texla, in San Marcos, in La Libertad ... Er weiß, was es bedeutet, an Orten mit hoher Mara-Aktivität zu arbeiten.
„Dass es hier friedlicher ist, liegt an der guten Zusammenarbeit – mit den lokalen Institutionen und mit den Bewohnern. Die Leute melden uns, wenn jemand unseren Jugendlichen Marihuana anbietet. Wir sind dann sofort zur Stelle.“ Kommen viele Jugendliche von außerhalb hierher? „Mittlerweile schon, junge Männer, die woanders mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, vorrangig aus den umliegenden Landkreisen. Sobald wir von jemand Verdächtigem Kenntnis erhalten, knöpfen wir ihn uns vor.“
Den meisten Ärger gibt es in den Vierteln La Chicharra, Bográn und Primavera. In Primavera, ganz am Stadtrand, wurde eines Tages an einer Wand ein placazo mit dem Symbol der Mara Salvatrucha gesehen.
„Es kommen Mitglieder krimineller Gruppierungen hierher“, sagt Pérez, „aber wir lassen nicht zu, dass sie hier Fuß fassen.“ Der Kommissar wird nicht müde, die gute Zusammenarbeit zwischen den Einwohnern Berlíns und der Polizei zu betonen. Die Philosophie einer Bürgerpolizei gehe hier ziemlich gut auf, denn sie setzt Vertrauen zwischen Bürgern und Polizeibeamten voraus. Doch das entsteht nicht, solange es willkürliche Festnahmen gibt, solange die Polizei mit Gewalt und aufgrund von Vorurteilen Dinge beschlagnahmt, solange Leute gruppenweise einfach erschossen werden. Allerdings werden Polizisten auch manchmal versetzt. Und mitunter kommen Polizisten von einem Brennpunkt, von dort, hierher und tragen den Alien der Repression in sich. „Wer nach Berlín kommt, merkt aber sofort, dass die Kriminalität hier anders ist; und wir stellen uns auch darauf ein“, sagt er schnell.
Die Beziehung zwischen Polizei und Bürgern ist nicht ganz so rosig, wie Francisco Pérez sie zeichnet, aber immerhin gibt es überhaupt eine Beziehung, und sie wird gepflegt. Insgesamt haben beide Seiten Respekt voreinander. Für salvadorianische Verhältnisse klingt das revolutionär.
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Zwischen Santiago de María und Berlín liegen 13 kurvenreiche Kilometer Straße, beide Orte sind umschlossen von den Hängen des Tecapa-Chinameca-Gebirges. Beide haben weniger als 20 000 Einwohner und eine einzige weiterführende Schule. Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und wuchsen dank des Kaffeeanbaus. Seit den 1980ern ziehen die Leute weg. Auch das Klima ist ähnlich.
In Santiago de María aber haben sich seit etwa acht Jahren die Maras eingenistet. Die Stadt ist heute eine Hochburg der Barrio18-Sureños, der südlichen Untergruppe von Barrio18. Allein 2014 haben die Gerichtsmediziner von den Straßen und Wegen 25 Leichen aufgesammelt.
In vielen Gesprächen in Berlín ist von Santiago de María die Rede, als tragisches Beispiel dafür, was passiert, wenn man in der Wachsamkeit gegenüber den Maras nachlässt. Jugendliche aus Berlín können inzwischen nicht mehr einfach in den Bus steigen und in den Nachbarort fahren, weil sie dort ihr Leben riskieren. Das Verwaltungszentrum für die gesamte Region befindet sich in Santiago de María im Viertel Concepción, und man bietet nun eigens bewachte Fahrten in einem Minibus der Gemeinde an, damit die Jugendlichen aus Berlín gruppenweise ihre Personalausweise abholen können, aus Angst, sie könnten von Banden angegriffen werden.
Santiago de María ist El Salvador.
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In den frühen Morgenstunden des 8. September 2000 ging ganz Berlín auf die Straße. Am Tag zuvor war auf Anordnung aus der Hauptstadt San Salvador das kleine Gefängnis der Gemeinde geräumt worden. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, die Regierung müsse schnell etwa 50 minderjährige Häftlinge von Barrio18 hierher verlegen, nachdem es im Gefängnis von Ciudad Barrios einen Aufstand gegeben hatte, bei dem ein junger Mann zerstückelt und Dutzende verletzt worden waren.
Die aufgebrachten Anwohner, die eine Strafanstalt für minderjährige Mareros in Sichtweite des Parks für eine denkbar schlechte Aussicht hielten, setzten sich mit Straßensperren, brennenden Autoreifen und brennenden Barrikaden zur Wehr. Richter und Pfarrer versuchten, sie zu besänftigen. Keine Chance. Die Polizei schritt ein. Keine Chance. Ihre Entschlossenheit war so stark, dass die Verlegung abgeblasen wurde.
Héctor Alvarado, 47 Jahre alt und aus Berlín, hätte sich dem Protest in jener Nacht gern angeschlossen. Er arbeitete in der staatlichen Gefängnisverwaltung und war Sicherheitschef jenes kleinen Gefängnisses, das man mit jugendlichen Mareros vollstopfen wollte. „Ich habe nicht mitdemonstriert“, sagt er, „aber ich war auf ihrer Seite, denn ich wusste, wenn wir die hereinlassen würden, würde alles aus dem Ruder laufen.“
Héctor ist heute Sportlehrer im Instituto Nacional de Berlín. Er arbeitet mit Jugendlichen. Und er glaubt, dass der Geist, der die Bewohner in jenen frühen Morgenstunden des Jahres 2000 auf die Straße trieb, um gegen die Banden zu demonstrieren, noch immer da ist.
„Aber wir müssen als Gemeinde immer die Augen offen halten. Das ist wie ein Virus, und er ist ganz nah: In Santiago de María und in Mercedes Umaña.“ Dass Berlín bislang nicht infiziert wurde, liege an der Wachsamkeit der Leute und an der Unterstützung durch die Offiziellen im Ort. In Berlín kennt man sich, wenn auch nicht unbedingt mit Namen. Und sobald jemand Verdächtiges von außerhalb auftaucht, ruft immer jemand die Polizei an. Und die Polizisten überprüfen dann auch tatsächlich, wer aus Berlín ist. Da kommt es schon mal vor, dass Polizisten über die Stränge schlagen, vor allem wenn sie frisch nach Berlín versetzt sind. Sie nehmen Jugendlichen, die zu keiner Bande gehören, aber Basecap und Schlabberklamotten tragen, die Mützen weg und zerreißen sie. Mit dem Problem musste sich der Gemeindeausschuss zur Gewaltprävention bereits befassen. Wenn Héctor solche polizeilichen Übergriffe schildert, scheinen sie das kleinere Übel zu sein.
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In Berlín ist jemand getötet worden! Gerade als ich zur Polizei gehe, um einen Gesprächstermin mit dem Polizeichef abzumachen, heißt es, der Kommissar sei im Einsatz, in Los Cañales habe es einen Mord gegeben. Ich laufe aus dem Gebäude, halte das erstbeste Motorradtaxi an und versuche mit den wenigen Angaben, die ich erhalten habe, zu erklären, wo es hingehen soll. Aber der Fahrer weiß schon Bescheid. Der Tote ist ein Freund.
Um nach Los Cañales zu kommen, nimmt man die Straße Richtung Mercedes Umaña, vom Park aus sind es gerade mal zwei Kilometer. Keine fünf Minuten später sind wir da. Die Polizei hat an einer deplatziert wirkenden stählernen Fußgängerbrücke den Tatort mit gelbem Band abgesperrt. Es ist nachmittags, fünf Minuten vor vier. Mehr als 40 Leute drängen sich hinter der Absperrung, Schaulustige, Angehörige, Arbeitskollegen des 23-jährigen Mordopfers Víctor Mauricio Sigarán.
Eine ältere Frau, die eben erst dazugekommen ist, bricht in Tränen aus. Mit ihr fängt ein etwa 17-jähriger Jugendlicher zu weinen an. Es kommen mehr und mehr Leute und versuchen, sie zu beruhigen. „Mein Neffe, lieber Gott ...“ Der Junge weint still, wie er gelernt hat, dass ein Mann weint. Die Frau jammert: „Gott im Himmel, mein Gott!“ Jemand sagt: „Der Motor läuft noch, oder?“ Tatsächlich, zwischen den Schreien, dem Stimmengewirr, dem Schluchzen hört man es von der anderen Seite der Senke knattern, dazu Musik aus dem Radio am Lenker.
Die Frau fällt in Ohnmacht. Die Leute rufen ihren Namen: „Mercedes, Mercedes!“, und legen sie auf den Asphalt. Ein Polizist kommt und mahnt zur Ruhe. Die Leute fächeln der Frau Luft zu. Jemand sagt, man müsse sie zur Krankenstation bringen. Da erwacht sie und bewegt den Kopf. „Gott wird Ihnen Kraft geben“, sagt einer. „Dieses Land ist eine Katastrophe“, ein anderer. Jemand bietet sein Auto an. Zu mehreren helfen sie ihr auf. Sie scheint wieder zu sich zu kommen. Sie könne jetzt nicht zu Víctor, sagt man ihr, die Polizisten ließen niemanden durch die Absperrung, es habe keinen Sinn, länger hierzubleiben.
Die Kollegen des Opfers sind überzeugt, dass die Mörder es nicht auf Víctor Sigarán abgesehen hatten, sie haben ihn getötet, weil er Motorradtaxifahrer war. Es hätte jeden von ihnen treffen können.
Seine Taxikooperative hatte zuvor schriftliche und telefonische Drohungen von Banden erhalten, sie sollte Schutzgeld zahlen. Die Motorradtaxifahrer haben die Mara Salvatrucha im Verdacht, die in Mercedes Umaña operiert. Aber sie haben sich geweigert. Unter den Kollegen haben sie ein paar dürftige Sicherheitsmaßnahmen verabredet wie zum Beispiel, keine Unbekannten mitzunehmen oder entfernte Landkreise zu meiden.
Heute gleicht Berlín schon eher El Salvador.
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Eine mannshohe Fahne der Bundesrepublik Deutschland schmückt das Büro von Jesús Antonio Cortez Mendoza, dem Bürgermeister von Berlín. Er ist Mitte 30, übt das Amt seit gut einem Monat aus, war in der vorherigen Amtsperiode allerdings schon Finanzverwalter der Gemeinde. Jesús Cortez ist froh, in einer Stadt ohne Maras zu leben. Doch er weiß auch, dass das entschlossene Durchgreifen der Regierung gegen die Maras auch in Berlín Probleme machen könnte, weil immer mehr Leute zurückkommen aus Apopa, aus Soyapango, aus San Miguel ... von dort.
„In einigen Siedlungen“, sagt er, „gibt es Anzeichen, einige Jugendliche ... wie soll ich sagen? ... fühlen sich zu den Banden hingezogen. Die Jugend ist der Ansteckungsgefahr ausgesetzt durch Leute, die aus anderen Gemeinden kommen.“
„Ansteckung“, sagt er. Das Wort gebrauchen viele Berlíner, wenn sie von den Maras reden. Auch „Virus“ hört man oft. Und „Seuche“.
„Wir sind in Gefahr, das wissen wir. Mercedes Umaña ist 11 Kilometer entfernt, Santiago 13. Man will auch hier den Leuten Schutzgelder abpressen, das kommt von außerhalb: aus Jiquilisco und Mercedes. Wir haben gesehen, was passiert, wenn die Banden kommen, darum schaffen wir ein Bewusstsein unter unseren Jugendlichen, die am meisten gefährdet sind.“ Jugendarbeit. Das könnte jeder Bürgermeister in jeder salvadorianischen Stadt sagen. „Die Bevölkerung ist zusammengerückt“, sagt Bürgermeister Jesús Cortez. Vielleicht ist das eine Phrase, nur ein weiterer Gemeinplatz aus dem Mund eines Politikers. Aber vielleicht auch nicht, vielleicht ist dieser einfache Gedanke der Schlüssel zu allem.
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Drei Monate nach der Ermordung des Taxifahrers Víctor Sigarán, und obwohl El Salvador die blutigsten Periode seit Beginn des Jahrhunderts erlebt, ist für Berlín nur ein einziger weiterer Mord verzeichnet: eine 55-jährige Frau im Viertel San Juan Loma Alta. Es sieht nicht nach der Tat einer Bande aus.
In einem Hotel in Bogotá, Kolumbien, hält Howard Augusto Cotto, der Chef der nationalen Zivilpolizei von El Salvador, einen Vortrag. Er spricht in ungewohnter Offenheit über die Gewalt, die El Salvador im Griff habe, wie furchtbar die Situation sei, und bilanziert: „Unsere Arbeit wird umso leichter, je besser das gesellschaftliche Leben organisiert ist, schwierig ist sie dort, wo das soziale Netz zerstört ist.“ Man könnte meinen, er spräche über Berlín.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
Roberto Valencia ist Journalist und Autor in San Salvador.
© 2015 ElFaro.net. © Für die deutsche Übersetzung: Le Monde
diplomatique, Berlin 2016