14.12.2012

Zu viele Gipfel

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Zu viele Gipfel

von Jonas Gahr Støre

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Wir leben in einem Jahrhundert der Zusammenarbeit und des Austauschs: In nie gekanntem Ausmaß beraten Diplomaten, Experten und Entscheidungsträger auf internationaler Ebene über Ideen und Projekte. Zahllos sind inzwischen die multilateralen Organisationen, und man hat den Eindruck, dass am laufenden Band und zu allen möglichen Themen Gipfel abgehalten werden. Sieht man sich allerdings an, was bei all der Aktivität herauskommt, erstaunt die Dürftigkeit der Ergebnisse: Die von der Welthandelsorganisation ins Leben gerufene Doha-Runde steckt – man mag es bedauern oder nicht – in einer Sackgasse, bei der Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wurden allenfalls winzige Fortschritte erzielt, und bei den großen Problemen der Gegenwart wie Abrüstung und Klimawandel sind, wie man gerade in Katar wieder beobachten konnte, keine Lösungen in Sicht.

So viele Anstrengungen und so magere Ausbeute. Hier zeigt sich ein Symptom der „Global Governance“, die eine Epoche der Gipfelmanie erlebt. Man fragt sich, warum derart viele diffus agierende und schlecht koordinierte zwischenstaatliche Netzwerke geschaffen werden, während es an robusten und wirklich weltumspannenden Institutionen fehlt?

Natürlich haben diese Gipfel ihre Vorteile. Eine vernetzte, aber dezentralisierte Welt muss im Dialog bleiben und über Begegnungsorte und Koordinationsmechanismen verfügen. Versammlungen sind gut, zu viele Versammlungen werden kontraproduktiv. Irgendwann halten die Teilnehmer schließlich ihre bloße Anwesenheit für ausreichend und kämpfen nicht mehr für wirkliche Lösungen der verhandelten Probleme. Die Gipfelmanie lässt uns härter, aber nicht unbedingt intelligenter arbeiten.

Die älteste internationale Organisation wurde 1815 gegründet: die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde nicht mehr als eine Handvoll weiterer Institutionen geschaffen, mit einem zumeist eng begrenzten Mandat. Heute gibt es über 250 zwischenstaatliche Organisationen sowie hunderte internationale Gipfel und regelmäßige Konferenzen. Der Großteil davon wurde in den letzten 20 Jahren ins Leben gerufen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Architektur der globalen Politik durch Kriege, Macht- und Systemwechsel verändert. Die meisten wichtigen Institutionen und internationalen Richtlinien kamen durch die Verhandlungen am Ende der beiden Weltkriege zustande: die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte et cetera.

In den letzten drei Jahrzehnten wurde unsere Welt durch Prozesse verändert, deren Wirkungen mindestens ebenso einschneidend sind wie die der großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts: die Entwicklung des internationalen Handels, des Konsums und der Telekommunikation mitsamt der ökonomischen Deregulierung und der Verflüssigung des Kapitals, aber auch das Ende der bipolaren Welt und das wirtschaftliche und politische Erstarken von Ländern wie China, Indien und Brasilien. Diese Umwälzungen äußern sich nicht in so spektakulären Umbrüchen wie Kriegen oder Katastrophen, sondern vollziehen sich eher schrittweise. Darauf hat die internationale Gemeinschaft jedoch nicht angemessen reagiert und nicht schnell genug geeignete Institutionen aufgebaut.

Anstatt sich angesichts der ökonomischen und sozialen Globalisierung solide und dauerhafte Maßnahmen einfallen zu lassen, haben die Staaten unter Zeitdruck Anpassungsmechanismen in Gang gesetzt. Die internationale Architektur blieb derweil unverändert. Anders ausgedrückt: Inzwischen steht den weltweiten wirtschaftlichen, diplomatischen und kulturellen Problemen eine geschwächte geopolitische Ordnung gegenüber. Der wachsende internationale Handel ist zweifellos wichtig und nützlich, da er Fortschritte in der Wirtschaft, der Gesundheitsversorgung und der friedlichen Konfliktlösung ermöglicht. Aber die dafür nötige Koordinierung lässt sich gewiss nicht durch häufigere Gipfel erreichen.

Solche internationalen Großtreffen kosten viel Geld, Zeit und Energie, die vermutlich besser investiert wären, wenn man sich auf die Kernfragen konzentrieren und Entscheidungen treffen würde. In einem derart diffusen und bruchstückhaften System haben die entsprechenden Organisationen und Gipfel nicht das klare Mandat, das sie bräuchten, um die zentralen Probleme wirksam angehen zu können.

Die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20) wird zwar häufig als das neue Zentrum der globalen Politik bezeichnet, verfügt aber weder über ein explizites Mandat noch über gemeinsame Entscheidungsmechanismen oder eine klare Verantwortung. Vielen der von Gipfelmanie befallenen Institutionen fehlt zudem die Legitimität.

In einer Welt aus souveränen Staaten wird die Rechtmäßigkeit von politischen Entscheidungen oft danach beurteilt, ob die betroffenen Länder die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen. Die G 20 ist ein gutes Beispiel für die strukturelle Schwäche dieses Typs von Organisation. Während ihre Mitglieder 80 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, vertreten sie nur 60 Prozent der Weltbevölkerung und weniger als 15 Prozent der existierenden Staaten. Dieses Demokratiedefizit führt dazu, dass der Großteil der Länder oft keinen Grund hat, sich den G-20-Initiativen anzuschließen.

Was aber kann getan werden, damit die neu geschaffenen Organisationen und ihre Initiativen effizienter werden? Unsere Art des Handels, der Wirtschaft und der Mobilität und des damit verbundenen relativen Wohlstands und Friedens wäre ohne die Institutionen von Bretton Woods und die wichtigsten Unterorganisationen der UNO unmöglich. Wenn der UN-Sicherheitsrat in unserer polyzentrisch gewordenen Welt auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen will, muss er sich vor allen Staaten legitimieren. Insbesondere muss er der gewachsenen Bedeutung der Schwellenländer Rechnung tragen und sie besser repräsentieren.

Bleibt die G 20 diese kleine Gruppe aus selbst ernannten Mitgliedern, wird sie sich wohl kaum zu einer weltumspannenden, entscheidungsfähigen Organisation entwickeln. Sie könnte sich allerdings auch als ein Forum begreifen, in dem einflussreiche globale Akteure im Vorhinein diskutieren und sich auf eine strategische Ausrichtung und Roadmaps einigen, die dann von Institutionen wie der UNO umgesetzt werden könnten. Ihre Entscheidungen wären nicht zwingend, und es wäre zu hoffen, dass durch informelle (und gezielte) Beratungen die größten Hindernisse beseitigt und die drängenden Probleme in Angriff genommen werden könnten: Doha-Runde, Klimawandel, Abrüstung.

Das lässt sich nur durch eine Strukturreform erreichen, die die G 20 repräsentativer machen und ihre Legitimität erhöhen sollte. Frankreich hat 2011 während seiner G-20-Präsidentschaft radikale Veränderungen versprochen. Der erste Schritt war, zu bestimmten Sitzungen auch andere Länder und Akteure hinzuzuladen: Dabei ist aus der G 20 fast eine G 30 geworden.

So fundamentale Veränderungen sind nicht leicht umzusetzen, zumal die Wirtschaftskrise seit 2007 als Hemmschuh wirkt. Aber sicher ist, dass ohne intensive Gespräche zwischen den traditionellen Großmächten, den „kleinen“ Staaten und den aufstrebenden Schwellenländern nichts geschehen wird. Und sicher ist auch, dass es nicht viel hilft, wenn alle dauernd von einem Gipfel zum anderen reisen. Da es aber im Interesse aller liegt, dass eine wirklich vereinte und handlungsfähige internationale Staatengemeinschaft entsteht, kommt es zunächst darauf an, die Energien besser zu kanalisieren, um mit der dann frei werdenden Kraft an neuen Politikentwürfen zu arbeiten.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver Jonas Gahr Støre ist norwegischer Außenminister.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2012, von Jonas Gahr Støre