14.10.2005

EU-Norm für Ramadan

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EU-Norm für Ramadan

von Ece Temelkuran

Für den weißen Stamm, den man „die Erwachsenen“ nennt, sind die Kinder die Indianer. Sie übersetzen die Welt in die Sprache von Wasser, Erde und Sonne, weil Kinder mit diesen Elementen noch innig verbunden sind. Obwohl die Bemerkungen dieser kleinen Indianer die Erwachsenen meistens zum Lachen oder zum Lächeln bringen, tut Kindermund auch kund, was die Älteren ihrerseits empfinden. Die Ängste, das Erschrecken, die Hilflosigkeit, die manchmal komplizierte Wortschlachten auslösen, werden uns offenbar, wenn die Indianer die „weißen“ rationalen Kalküle mit eigenen kleinen und klaren Worten ausloten. Und die Erwachsenen sind bekanntlich ein primitiver Stamm, der glaubt, man könne bedrohliche Verwünschungen mit Lachen vertreiben.

Als ein sechsjähriger Indianer in einer Grundschule in Istanbul kürzlich gefragt wurde: „Was ist die Europäische Union?“, antwortete er: „Die EU muss eine Wolke sein.“ Die Antwort des Jungen gibt gewiss das bizarre Mienenspiel wieder, das er bei seinen Eltern beobachtet, wenn sie die Nachrichten über die EU verfolgen. Wie könnte der sechsjährige Samil auf die Idee kommen, die EU sei so etwas wie eine große Wolke, wenn seine Eltern nicht in den Fernseher starren würden, als ob eine große Wolke auf die Türkei zukomme?

Die traditionellen Trommler, die beim Nahen des Ramadan durch die Straßen laufen und den Beginn des Fastenmonats ankündigen, waren schon seit ein paar Jahren bemüht, etwas verhaltener aufzutreten. Doch jetzt fand man in einem Stadtteil von Ankara eine Lösung: Wir brauchen europäische Normen für die Ramadantrommler. Der Bürgermeister des Stadtteils drückte es so aus: „Wir werden unsere Trommelnormen nach Europa tragen.“

Diese Anekdote könnte bei Europäern, die über die Türkei und den Ramadan nicht allzu viel wissen, das Bild heraufbeschwören, die Türken wollten mit den Ramadantrommeln eigene Kriterien nach Europa tragen. Das könnte Ängste auslösen, die bis in die Zeit der „Türken vor Wien“ zurückreichen. Die Europäer könnten von Furcht ergriffen werden, dass eine imaginäre grollende Wolke auf sie zutreibt, gerade so, wie die türkischen Kinder sich die EU als eine Wolke vorstellen. Aber was würden wohl die Bürokraten denken, die in den kafkaesken Korridoren von Brüssel die Beitrittskriterien abarbeiten, wenn sie wüssten, wie sich die Türken in diesen Beitrittsprozess hineinknien – wo sie sogar den Ramadan an EU-Normen anpassen wollen, wie auch immer diese aussehen mögen.

Der achtjährige Can, der wie Samil nach der Europäischen Union gefragt wurde, meinte traurig: „Sie wollen uns nicht in der EU haben, weil wir ihre Regeln nicht einhalten konnten.“ Und die neunjährige Asena ist pessimistisch, sodass sie ihr Land „nach den EU-Kriterien“ für „unwissend“ hält. Die Europäer sollten also wissen, wie fest die EU bereits jetzt, lange vor dem Beitritt, in den türkischen Köpfen verankert ist.

Die Europäer sollten ferner wissen, dass die Türkei sich dieser Tage wie eine große verängstigte Mittelklassefamilie fühlt, die in ein besseres Wohnviertel umziehen will. In dieser Familie gibt es die einen, die das Gefühl haben, in der neuen Umgebung werde der Familienstolz zu Bruch gehen, aber auch die anderen, die mit Bangen auf den Moment warten, da der strenge Verwalter der Wohnanlage ihnen die neue Hausordnung vor die Nase hält. Daher sind es nicht die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, die derzeit angespannt sind, sondern die zwischen der Türkei und der Türkei. Es handelt sich also um einen innertürkischen Familienzwist.

Aber diese große Familie wird der Sache allmählich überdrüssig und überlässt die Aufsicht über den EU-Beitrittsprozess den Bürokraten der Familie, während sie selbst sich lieber auf die Boulevardmagazine konzentriert, die im Fernsehen laufen. Europäer wie Amerikaner mögen annehmen, das türkische Publikum interessiere sich für die Meldungen über die erste akademische Konferenz zur Armenierfrage, aber das ist nicht der Fall. Viel aufregender ist dieser Tage die Story von dem türkischen Model, das kürzlich zum christlichen Glauben konvertierte, nachdem es sich in einen griechischen Schauspieler verliebt hatte. Doch obwohl die populärste Fernsehserie des letzten Jahres eine Liebesgeschichte zwischen einer türkischen Frau und einem griechischen Mann zu bieten hatte, war die Meldung aus dem wirklichen Leben für das türkische Publikum ein tiefer Schock. Aber selbst ein solcher Verstoß gegen das kulturelle Tabu des Religionswechsels kann in diesem Land im Handumdrehen vergessen und vergeben sein, wenn es dabei um die Liebe geht. Zur Hälfte sind wir schließlich ein mediterranes Volk.

Und die Armenierkonferenz? Da wurden die eingeladenen Akademiker mit Eiern beworfen. Das mag aus europäischer Perspektive wie ein „Angriff auf die Gedankenfreiheit“ aussehen, aber die Episode zeigt zugleich: Selbst konservative türkische Nationalisten haben von Europa gelernt, dass man mit Tomaten und Eiern protestiert. Das ist in der Türkei keineswegs Tradition.

So wie es auch nicht üblich war, dass ein Soldat von seinen Ängsten spricht. Doch vor ein paar Wochen gestanden aus dem Wehrdienst entlassene Soldaten in Zeitungsinterviews, sie hätten bei ihren Kampfeinsätzen so schreckliche Angst empfunden, dass sie nach ihrer Mutter geschrien hätten. Schwer zu sagen, ob das ausreicht, die Europäische Union zufrieden zu stellen, die ja beschlossen hat, die Veränderungen im Verhältnis zwischen der türkischen Armee und der zivilen Macht besonders unter die Lupe zu nehmen.

Diese große und komplizierte Familie ist auf ihre Weise bemüht, sich zu verändern, bevor sie in das neue Nobelviertel umzieht. Sie ist wie jene Familie, die es geschafft hat, in einem anrüchigen Viertel ihren Ruf zu behaupten, und die jetzt den Umzug in eine Gegend vorbereitet, von der sie seit Jahren träumt. Eine solche Familie fühlt sich ihren potenziellen neuen Nachbarn nah und fern zugleich.

Als im Februar 2003 die Menschen in der Türkei auf den Straßen gegen die Invasion im Irak unter Führung der USA protestierten, fühlten sie sich mit dem Europäern verbunden, die am selben Tag auf die Straße gingen. Für die Türkei ist Europa das Bindeglied zu einer freieren, gerechteren und menschlicheren Lebensweise. Doch wenn die Türken sehen, wie die EU auf rigiden Vorschriften und Regeln beharrt, die man ihnen in endloser Folge präsentiert, ja, dann bekommen sie es mit der Angst zu tun. Dann fühlen sie sich so, als würde eine dunkle, graue Wolke auf sie zukommen.

Diese Familie will nach Europa umziehen, in dieses zivilisatorische Projekt, das in ihren Augen für Gerechtigkeit und Freiheit und ethische Werte steht – zu einer Zeit, da die einzelnen Länder mit dem Leiden der Menschheit konfrontiert sind. Für diesen Umzug wünscht sich die türkische Familie ein bewusstes, freies und faires Verfahren. Sie glaubt, dass in einer Welt, in der nicht moralische Prinzipien regieren, sondern der Drang nach Macht und Profit, dieses Europa andere menschliche Werte durchsetzen will – und nicht nur für ihr eigenes besseres Viertel, sondern für die ganze Welt. Im Sinne dieses Ziels würde die türkische Familie gern einen Beitrag leisten. Denn sie glaubt an das, was der sechsjährige Ceren formuliert hat: Europa bedeutet „Frieden“. Und wie der sechsjährige Ataberk glaubt sie auch, dass diese heraufziehende Wolke der Vorbote einer guten Ernte ist.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke © Le Monde diplomatique, Berlin Ece Temelkuran schreibt über soziale und politische Themen und ist regelmäßige Kolumnistin der Tageszeitung Milliyet.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Ece Temelkuran