14.10.2005

Allgemein hatten wir uns eine bessere Welt erhofft

zurück

Allgemein hatten wir uns eine bessere Welt erhofft

von Hans Georg Zilian

Unsere Gesellschaft hantelt sich von Versprechen zu Versprechen voran, nicht allerdings von Fortschritt zu Fortschritt. Wurden einst Luxus und Aufstieg für alle angepriesen, so sollen wir nun allesamt einem Leben voll Vergnügen entgegenblicken, so sollen Ruhm und Ehre nun in unser aller Reichweite sein. Vieles deutet darauf hin, dass auch diese Verheißung nicht in Erfüllung gehen wird. Im Gegenteil, die Last der Menschen in der produktivistischen und kommerzialisierten Gesellschaft von heute ist größer geworden. Sie wird ihnen durch eine Reihe von Entwicklungen aufgebürdet – Kommerzialisierung, Individualisierung, Neoliberalismus und Pseudobefreiung. All dem fehlt ein tatsächlich wirksames Gegengewicht. Eine wild gewordene Rechte, eine Linke, die sich in betulichen Gesten erschöpft hat, erzeugen gemeinsam das Elend der Welt. Ihr je naiver Fortschrittsglaube leidet an einer verzerrten Perspektive.

Gerechtigkeit und Fortschritt werden vor allem daran gemessen, wie nahe alle Einzelnen an die Position der am besten Gestellten, also der Privilegierten, herankommen. Der Kreis der Sieganwärter und der Sieger wird immer weiter gezogen; die Karotte des Erfolges baumelt vor jeder Nase. Damit wird die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zum alles dominierenden Ziel, die Prinzipien des Wirtschaftslebens vereinnahmen alle menschlichen Fähigkeiten. Kulturell wertvoll ist dann alles, was produktiv ist; wertlos bis kontraproduktiv sind die Leidenschaften und alle außerwirtschaftlichen Ziele. Die Zähmung und Zivilisierung der arbeitenden Massen ist vergleichbar der Abrichtung der Zugtiere zum folgsamen Wirken als Gespann. Zähmung heißt immer auch die Einschränkung der Handlungs- und Wahlfreiheit. Es geht um die Formung von Arbeitshaltungen, wobei die rauen Arbeiter nicht nur zum Fleiß, sondern auch zur sonstigen charakterlichen Vervollkommnung angeleitet werden sollen. Der moderne Angestellte soll sich hingegen dem wendigen Diplomaten oder dem gravitätischen Staatsmann oder auch dem beflissenen Oberkellner so weit wie möglich annähern. Das endet in Verhaltensseminaren, deren Trainerinnen dem entsetzten Personal vorschreiben, beim Besprechen des Anrufbeantworters die Mundwinkel hochzuziehen, um einen positiven Eindruck bei den Anrufenden zu erwecken: Taylorismus der Seele.

Während Liberale und Sozialdemokraten noch immer von humaner Arbeit, von Selbstverwirklichung und dergleichen träumen, haben die meisten Menschen ganz andere Probleme – sie wollen irgendwie den Kopf über Wasser halten, sie möchten im Kampf gegen die Widrigkeiten der Arbeitswelt bestehen, sie wünschen sich einen Arbeitsplatz, auf dem es sich halbwegs überleben lässt. Die „Politik der Anerkennung“ – von Fraser, Giddens etc. wissenschaftlich beglaubigt und via Tony Blairs „Dritten Weg“ ins Werk gesetzt – ist auf die Egalisierung der Chancen jener fixiert, die den „Erfolg“ suchen. Für die nach oben Strebenden sollen Zugangswege verbessert, Optionen vermehrt, Angebotsfacetten erweitert werden. Derweilen verschärfen sich die Drohungen, mit denen die Absteiger und Verlierer konfrontiert sind. So befreien sich die einen aus den Fesseln der Tradition, während die anderen den wachsenden Zwängen der turbokapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt sind. Wer überleben möchte, ist immer wieder aufgefordert, seine Findigkeit und Anpassungsfähigkeit zu beweisen. Man muss tarnen und täuschen können und ganz allgemein versuchen, wie ein Korken auf den komplizierten Wassern zu tanzen. Rechtsförmig starre Maßnahmen wie Hartz IV bedeuten, dass den Leuten immer häufiger Verhaltensweisen aufgenötigt werden, auf die sie freiwillig nicht verfallen würden. Überlebensstrategien entstehen aus ökonomischen und bürokratischen Zwängen.

Zwang verdirbt die Sitten. Meist werden dabei Optionen ergriffen, die man nicht ergreifen würde – die man nicht nötig hätte –, wenn die eigene Situation besser wäre, wenn also Zwang entfiele und vielleicht sogar „wirkliche Freiheit“ herrschte. In den Zeiten der allgemeinen Aufstiegseuphorie stand man wesentlich häufiger vor dem Problem, sich für die attraktivste von mehreren Optionen entscheiden zu können – es herrschte eine Art „Konsumentenfreiheit“ der Wahl, die jene, die heute ums Überleben kämpfen, nicht im selben Ausmaß besitzen. Wenn meine Bewunderung der Alleinerziehenden gehört, die sich mit ihren Kindern als Taxifahrerin durchs Leben schlägt, dann möchte ich nicht nahe legen, dass man ihr auch die Notstandshilfe streichen sollte, damit wir sie noch mehr bewundern können. Wir zollen ihr Respekt, weil sie den Stier bei den Hörnern packt und ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern wahrnimmt, statt in Hilflosigkeit zu versinken – insofern ergibt es einen Sinn, sie nicht nur zu fördern, sondern sie auch zu fordern. Aber das Problem liegt in der Allgemeinheit derartiger Devisen und in der Legitimierungsfunktion, die sie für die Arbeitsmarktpolitik erfüllen. Wenn dies in der Praxis darauf hinausläuft, dass das „Fordern“ in verschärften Zwängen bei unveränderter Problemlage besteht, dann kann der betreffende Slogan nur mehr der Verschleierung der sozialen Realität dienen. Die soziale Polarisierung zu leugnen oder zu verharmlosen, ja sie nicht einmal bemerken zu wollen, das ist das Spiel der Fortschrittsideologen.

„Luxus für alle!“ war ein Slogan, der unter anderem mit den sozialen Grenzen des Wachstums in Konflikt geriet. Allgemein hatten wir uns eine bessere Welt erhofft, und die Enttäuschung über die so auffällig gescheiterte Verheißung ist groß. Über die Enttäuschung hinaus leben wir mit der bitteren Ironie, dass das angestrebte Ziel nicht nur verfehlt wurde, sondern dass diese Bestrebungen gründlich pervertiert wurden. Hört man auf, einen politischen Kampf zu führen, und begnügt man sich mit Gestikulationen der richtigen Gesinnung, dann wird man zum Instrument der falschen. Die Ironie zeigt sich darin, dass wir hinter dem Glück herjagen und doch am Ende mit leeren Händen dastehen, eben weil die Jagd zu hektisch war, und darin, dass wir vor Tugend nur so glänzen möchten, während wir doch nur unsere eigenen kleinlichen Ziele verfolgen. Das Ideal des autonomen Menschen rückt damit in unerreichbare Fernen, man bringt es zu nicht mehr als zu einem optimistischen Konformisten, der sich vor allem um seinen eigenen Körper und seine eigene Reputation kümmert. Neoliberalismus und zeitgeistige Bindungslosigkeit wurzeln in ein und demselben Freiheitsstreben, das uns in den 1960er-Jahren befallen hat. Durchgesetzt hat sich, wie wir heute wissen, die Freiheit des Marktes, garniert mit ein paar Ventilsitten. Die neuen kosmopolitischen Loyalitäten basieren auf Leistung, sie eignen sich daher besonders als Basis der Elitenbildung, wo die Smarten und Schönen in die herrschenden Schichten hineinrekrutiert werden.

Die sich vertiefenden Ungleichheiten und die Zuwanderung stellen gewaltige Verschiebungen der Grundstruktur der europäischen Gesellschaften dar, die Berge von Problemen aufwerfen. Das Zusammentreffen der beiden Bewegungen ist nicht gänzlich zufällig, sorgt aber für eine äußerst brisante politische Konstellation, die man weder mit schlichter Sentimentalität noch mit einer Politik des Straßentheaters entschärfen können wird. Da der Trostpreis der hochmoralischen Lebensführung nur in Ausnahmefällen erreichbar ist, entwickeln viele „aufgeklärte“ Menschen eine besondere Sympathie für „ferne“ Ausländer oder Minderheiten. Das reicht von Leonard Bernsteins legendärer Wohltätigkeitsveranstaltung für die Black Panthers bis zu aktuellen Gala-Diners gegen die Armut irgendwo. Es gibt damit Leute, die aus reinem Herzen und ohne Hintergedanken den Entwurzelten behilflich sind, die sich aber selbst dabei nützen, ohne das beabsichtigt zu haben, die also ihr Eigeninteresse verfolgen, ohne es zu wissen. Dazu gehört natürlich ein Ausmaß an „Blindheit“, im Allgemeinen verursacht durch Diskussionsunfähigkeit. Das komplexe Ineinanderspielen des Intentionalen und des Moralischen erinnert an die Idee des „moralischen Glücks“, an eine Situation, in der wir das tun, was für andere gut ist, für uns selbst aber zufälligerweise noch besser.

Wir begegnen hier dem „wahren Individualismus“, der eine Brücke zwischen dem Neoliberalismus und der neuen Linken schlägt. Bei Adam Smith verfolgen die einzelnen Marktteilnehmer Ziele, wie sie ihrer spezifischen individuellen Situation adäquat sind, doch entstehen daraus kollektive Wohlstandseffekte, die nicht beabsichtigt waren. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Smith’ redliche Kaufleute für sich selbst das Beste wollen und dabei auch den anderen nützen, während die Befürworter der Zuwanderung moralisch handeln und dabei sich selbst nützen, ohne das beabsichtigt zu haben. Wie sich die einen für rechtschaffen halten, so sehen sich die anderen als weitgehend selbstlos. Zugegeben: Diese kritische Diagnose nimmt dem Handeln der wohlhabenden Kosmopoliten etwas vom selbstlosen Glanz, sie wird ganz folgerichtig nur ungern akzeptiert, so wie der Nachweis, auch im Sozialbereich werde Macht ausgeübt, trotz seiner Banalität auf erbitterten Widerstand stößt.

Das hier präsentierte Bild der heutigen Gesellschaft und der herrschenden Mentalitäten beruht auf der Annahme, dass ihre Mitglieder sich in den meisten Dingen, auf die es ihnen ankommt, täuschen. Sie halten sich für frei, sind aber oft nicht mehr als Marionetten, sie halten sich für äußerst moralisch, mästen jedoch nicht selten bloß ihre Eitelkeit. Es ist das kosmopolitische Publikum der modernen und vielfach gebrochenen Kunst, das auch in diesem Zusammenhang immer wieder bei schlechtem Benehmen beobachtet werden kann. Wenn ich im Publikum einer Kunstveranstaltung dem ein Gedicht vortragenden Sudanesen überhaupt nicht zuhöre, weil ich allzu sehr damit beschäftigt bin, mit den anderen schicken Kulturkonsumenten zu plaudern, dann ist dies nicht nur verletzend dem Sudanesen gegenüber, sondern verrät auch das Fehlen eines Organs für jene Ironie, die darin liegt, dass die interkulturelle Begegnung als Plattform einer massiven Demonstration der Missachtung dient.

Man muss sich dennoch hüten, an dieser Stelle in die säuerliche Perspektive des bloßen Ideologieverdachts zu verfallen. Es geht nicht darum, alle Motive als niedrige zu beweisen und den Rest als schönfärberisches Gerede aufzufassen. Der Loyalität und der Tapferkeit, auch dem Edelmut entspricht etwas Reales in unserem moralischen Leben – gerade darin liegt ja die Tragik. Dem Scheitern der Eliten zugrunde liegt der profunde Irrglaube, sie hätten die soziale Welt und ihren Platz in ihr verstanden, sie seien hinreichend „aufgeklärt“. Statt die Buntheit der Perspektiven und die Vielfalt der Argumentationen zu fördern, ist die herrschende liberale Ideologie auf breitester Front zur Attacke auf jeglichen Widerspruch angetreten – einer Dampfwalze gleich rollt sie über abweichende Meinungen hinweg. Die intellektuelle Auseinandersetzung um die empirische Verfassung und die „öffentlich-moralische“ Strukturierung unserer Gesellschaft ist zu einer wichtigen Spezialdisziplin der sozialen Verteilungskämpfe geworden. Aber die erwähnte „Politik der Anerkennung“ scheint nun an ihre Grenzen zu stoßen. Wir stehen heute vor einer geänderten Problemsituation. Diese beinhaltet Globalisierung, Verfall der Gleichheit, postmoderne Konfusion. Der Verteilungskampf innerhalb der entwickelten Gesellschaften geht zwar weiter, doch sind von seinem Ausgang keinerlei Lösungsimpulse zu erwarten, da sich das Schicksal der Erdbevölkerung in ganz anderen Arenen entscheidet.

Um das Überleben kämpfen alle, ob arm oder reich, ob hoch oder niedrig, die Armen allerdings häufiger und öfter und unter Einsatz anderer Ressourcen und zur Bewältigung ihrer eigenen spezifischen Probleme. Einsamkeit und Sinnverlust – als gemeinsamer Nenner – verschonen allerdings niemanden. Die negativen Folgen treten ein, obwohl ihr Gegenteil, das individuelle Glück, angestrebt wird. Von einem Sinn für die Grenzen des menschlichen Glücksstrebens ist in fortschrittlichen Kreisen jedenfalls wenig zu merken. „Unerreichbare Ziele für alle!“ ist die Devise, die uns hier wieder entgegentritt. In der sozialen Wirklichkeit erzeugen wir aber Knappheiten der Arbeit, des Wohnraums und der Ehre.

Diese Knappheiten haben sich in den letzten Jahrzehnten sukzessive verschärft und liegen nun den sich vertiefenden und oft kommentierten Spaltungen der Gesellschaft zugrunde. Das bedeutet, dass die Verlierer der Konkurrenzgesellschaft immer schlechter abschneiden, dass aber auch die Gewinner ihres Sieges nicht richtig froh werden können. Als Gegenmittel ist den Eliten in diesem Zusammenhang nicht viel eingefallen, was über politische Korrektheit und Gesinnungskitsch hinausginge. Die Niederlage wird nicht nur durch die fortschrittliche Ideologie verschleiert und verdrängt, ihr Preis wird auch immer höher. Es ist dies eine Doppelzüngigkeit, die in vielen verschiedenen Varianten auftritt, wenn etwa allseitiges empowerment angepriesen wird und gleichzeitig das Bildungssystem in eine Phase der Auflösung eintritt.

Es kommt nun ganz allgemein zum Ende der Gleichheit, zu jenen sich ständig vertiefenden gesellschaftlichen Spaltungen, die von den Mitgliedern der Eliten (meist aufrichtig) beklagt werden. So scheint der Prozess der Polarisierung der Frauen derselben Logik zu folgen wie jener der Polarisierung der Schwarzen in den USA. Dort entsteht allmählich eine schwarze Mittelschicht, während sich gleichzeitig die schwarze Unterklasse immer deutlicher ausformt. Ob bei diesen Konstellationen noch sehr viel Solidarität zwischen den Gewinnern der unterprivilegierten Gruppen und deren zahllosen Verlierern bestehen bleiben kann, ist eine offene Frage. Schwer zu leugnen ist allerdings, dass die Sieger vom Turbokapitalismus vereinnahmt und für seine Zwecke instrumentalisiert werden, wie die aus der Unterschicht rekrutierte Leibwache der Despoten, die die weiterhin ausgegrenzten Mitglieder der Unterschicht in Zaum halten soll. Die produktivistische Gesellschaft ist offen und tolerant gegenüber allen Minderheiten, an deren Mitgliedern sie verdienen oder die sie auf andere Weise in ihre Dienste stellen kann. Ein schlechtes Gewissen hat man gegenüber den Gehörlosen und den Afroamerikanern, weit seltener jedoch gegenüber den Verlierern der Wettbewerbsgesellschaft. Das erinnert uns daran, dass die Spaltung benachteiligter Gruppen durch den Aufstieg einzelner Mitglieder funktional ist und Strukturen der Ungleichheit perpetuiert. Damit stehen – verglichen mit rassistischen Ideologemen – wesentlich respektablere Theorien zur Legitimation bereit, äußerst durchsetzungsfähige Ideologien der Ungleichheit, die unter anderem voraussetzen, dass Verlierer und Sieger ohnehin bekommen haben, was sie verdienen. Es ist, als wäre die Demokratisierung der Ansprüche und Verhältnisse, ja schon das Denken der „Klassenlosigkeit“ an eine unüberwindliche Schranke gestoßen. Diese Schranke ist das Ergebnis der modernen Arbeitsteilung. Die einen publizieren, die anderen übersetzen, die einen dirigieren, die anderen musizieren. Solange radikale Visionen vom Generaldirektor, der sein Büro selbst aufräumt, das bleiben müssen, was sie sind, nämlich Visionen, so lange werden Positionen in der Arbeitswelt mit unterschiedlichen Auszahlungen und Belastungen verknüpft sein.

Christopher Lasch nennt die Vorspiegelung, alle Menschen könnten den Eliten beitreten, „zutiefst anstößig“. Freilich lag früher einmal der politische Wille vor, hier ausgleichend zu wirken; dies zeigte sich unter anderem in der Schaffung halbwegs sicherer Jobs für Putzfrauen und Forstarbeiter oder auch in der Einrichtung solidarischer Unterstützungsnetze. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus gerieten diese korporatistischen Strategien in Misskredit; der Staatsverdruss entlud sich in Ressentiments gegen die sozialen Sicherungssysteme.

Das wirft die Frage auf, welchen Beitrag die Eliten zur kognitiven Herrschaft des Turbokapitalismus leisten, zur Verschleierung der Herrschaftsverhältnisse und zur Verschleierung der Tatsache, dass Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden. Daniel Goleman versichert nicht nur allen Menschen, dass sie „irgendwie“ intelligent sind, er versucht auch nachzuweisen, dass Widerstand, Verweigerung und Erfolglosigkeit dumm sind. Dieser Schachzug totalitärer Systeme ist altbekannt – diese haben Gefolgschaft stets auf überlegene Intelligenz, wenn nicht gar Erleuchtung zurückgeführt. Daneben gibt es noch abertausende Profiteure der turbokapitalistischen Raserei, die in das gelungene Leben – will hier heißen, die Kunst des klaglosen Funktionierens – einweisen, nicht zu vergessen all die Damen und Herren, die an der Zähmung der Scharfkantigen und Widerspenstigen mitwirken. Neben diesen expliziten Anweisungen gibt es die verschiedenen Sozialisationsinstanzen, von Filmen, Fernsehserien, Zeitschriften und Büchern bis hin zu den Seminaren der Psychoszene und sogar den Schulen, die eine weltliche Religion der Tüchtigkeit, der Selbstverwöhnung und des Individualismus vermitteln, die Menschen zu idealen Marktteilnehmern und Selbstvermarktern macht. Die Anleitung zur „Flexibilität“ in den persönlichen Beziehungen mag offiziell von was ganz anderem als der flexiblen Arbeitskraft handeln, doch bereitet sie ebenfalls auf die totale Arbeitswelt vor.

Unter den herrschenden Bedingungen wird uns die Arbeitslosigkeit erhalten bleiben, nach Auffassung mancher Experten bis zu dem Zeitpunkt, da sich ein „Gleichgewicht“ eingestellt hat, wenn die Löhne in Europa tief genug gesunken und in den aufholenden Ländern auf europäisches Niveau gestiegen sind. Bis dahin wird es Heulen und Zähneknirschen geben, und die Politik wird sich darin erschöpfen, den Weg zu dieser Neuordnung zu managen. Es ist wie eine Autofahrt, deren Ziel bekannt ist und die wir ohne Unfälle hinter uns bringen möchten. Im Rahmen dieses schmerzhaften Umgestaltungsprozesses sind wir immer wieder darauf zurückgeworfen, unsere persönlichen Kräfte zu mobilisieren, um unser physisches und psychisches Überleben angesichts der Niederlagen und Verwundungen zu ermöglichen. Einrichtungen wie das Grundeinkommen sollten es erleichtern, diese Ressourcen zu mobilisieren. Immer noch gilt, dass Ironie und ein gewisses Maß Stoizismus in dieser Situation unverzichtbar sein werden, auch wenn wir uns diese abgeklärte Haltung nicht unbedingt in jedem Fall über die professionellen Anbieter von Sinn und Seelentrost beschaffen werden müssen. Was kaum hilfreich sein wird, sind Zynismus, Spaß, Sentimentalität, Sprachreform und die irregeleitete Idee, man müsse die bösen anderen nur entsprechend „aufklären“, dann wären die Probleme auch schon gelöst.

Aufklärung, so die naive Hoffnung, soll Einzelpersonen in Wissenszustände versetzen, die sie befähigen, ihre „Vorurteile“ aufzugeben. In diesem Geiste sind viele Leute der Idee verhaftet, ältere Arbeitnehmer würden regelmäßig an den Vorurteilen der Arbeitgeber scheitern, statt an den beinharten und durchaus realistischen betriebswirtschaftlichen Kalkülen, die tatsächlich am Werk sind. Die reale Anomie, die uns heute entgegentritt, hat qualitativ neue Formen angenommen. Wir leiden darunter, dass wir in den zweifelhaften Genuss neuer Freiheiten gelangen, die sich – nur ein wenig anders gesehen – als Einbuße vertrauter Sicherheiten darstellen, und wir leiden auch darunter, dass vieles von dem, was wir heute erlangen können, eine Parodie seiner selbst ist – man denke an die „Freiheit“, sich 600 Piercings ins Gesicht zu clipsen, oder an den sozialreformerischen Schachzug, den Ausdruck „Obdachlosigkeit“ konsequent durch „Wohnungslosigkeit“ zu ersetzen. Den parodistischen Charakter dieser Errungenschaften zu durchschauen ist nicht jedem Menschen gegeben. In der Folge werden wir zu Opfern unserer eigenen oder auch fremder Vorspiegelungen, sodass das allseits angestrebte Ziel persönlicher Autonomie und Mündigkeit nur gründlich verfehlt werden kann.

Vor einem einfacher strukturierten, dafür aber nicht weniger dringlichen Problem stehen jene, deren materielles Überleben gefährdet ist. Sie müssen ihre Grundbedürfnisse decken, etwas, was sie allein auf sich gestellt nicht bewerkstelligen können. Mit der Zerstörung des inoffiziellen Sektors der Ökonomie und der gewachsenen Nachbarschaften sind die marginalen Gesellschaftsmitglieder in verstärktem Ausmaß auf offizielle Mechanismen zurückgeworfen – darauf, dass ihnen jemand eine Arbeit gibt oder dass sie im Fall des Ausschlusses von der Arbeitswelt die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, die ihnen ein Überleben ermöglichen.

Aus diesen einfachen Gründen ist das in der Vergangenheit geschaffene soziale Netz gerade in der gegenwärtigen Situation von derart zentraler Bedeutung. Die offizielle Politik scheint sich aber dieser Bedeutung nur undeutlich bewusst zu sein, jedenfalls fällt ihr nicht mehr ein, als die Zwänge, denen die Arbeitslosen ausgesetzt sind, noch weiter zu verschärfen. Konkret wird dies nur wenig bewirken, auf längere Sicht gibt es allerdings eine Richtung vor. Es ist dies eine Richtung, die nur immer weiter von jener wohlgeordneten Gesellschaft wegführt, wie sie dem Liberalismus à la Rawls vorgeschwebt hat.

Eine billige Kritik am Neoliberalismus? Dem Vorwurf ist zu entgegnen: Nichts hindert uns daran, die Toleranz gegenüber Rechten des Individuums zu akzeptieren, während wir andere damit verknüpfte Erscheinungen kritisieren, die da wären: Fortschrittswahn, Fernstenliebe, Aufstiegsmanie, Individualismus, Hedonismus, Konsumismus, eventuell alles, was der „Spaßgesellschaft“ zugrunde liegt, Unverbindlichkeit der Beziehungen – vor allem aber die Unterwerfung unter die Logik der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft. In einer solchen gibt es die Probleme der Sieger und jene der Besiegten.

Die kosmopolitischen Eliten liberaler wie sozialdemokratischer Prägung sind eine zentrale Adresse meiner Kritik. Ihr unverwandtes Starren auf die Hauptgewinne der Lebenslotterie, das sich – als Ersatz für einen inhaltlichen Gerechtigkeitsdiskurs – in eine „Politik der Anerkennung“ übersetzte, ist Teil eines meritokratischen und konkurrenzorientierten Syndroms. Deshalb bleibt eine Kritik am Turbokapitalismus unvollständig, wenn sie nicht den Eliten einen Spiegel vorhält, in dem sie sich in ihrer ganzen Hässlichkeit erkennen können, auch wenn manche der ihnen Angehörenden gelernt haben, dazu ein betroffenes Gesicht zu machen.

Bei vielen Menschen entsteht das Gefühl, von den Eliten verachtet und an den Rand gedrängt zu werden, weshalb Wähler zeitweise in Scharen zu den rechten Rattenfängern überlaufen. Die Warnung, dass dies in einem bisher noch nie gesehenen Ausmaß jederzeit wieder geschehen kann: das ist die Schrift an der Wand, der im Trubel der Spaßgesellschaft so wenig Beachtung geschenkt ist. Sie wird erst verblassen, wenn wir aufhören, uns mit der Chancengleichheit innerhalb eines vorgegebenen Spiels zu befassen und stattdessen ein brandneues Spiel verlangen. Auch das würde natürlich „Aufklärung“ notwendig machen, aber diesmal über Grundfragen, wie jene einer überlebensfähigen Gesellschaft.

Dass der Fortschritt ausgeblieben ist, gibt Anlass zur Bekümmerung, ganz wie die Tatsache, dass die Illusion des Fortschritts unermüdlich weiterwirkt. Diese unterscheidet sich aber von einem politischen Ideal. Für Ideale lohnt es sich zu kämpfen, für Illusionen nicht. Das Ideal der Freiheit stiftet Hoffnungen und spornt zum Handeln an, die Illusion der Freiheit des Handelns unterdrückt politische Aktivität. Die Schimäre des Fortschritts behauptet sich hartnäckig gegen die eigentlich unübersehbaren Anzeichen, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Illusionen zu zerstören, ohne dabei auch die Hoffnung über Bord gehen zu lassen, ist die Haltung, die den Idealen den ihnen gebührenden Raum lässt. Deren Vernunft manifestiert sich in Überlebenskämpfen, die zumindest den Funken einer Siegeschance bieten.

© Le Monde diplomatique, Berlin Hans Georg Zilian arbeitete als Sozialforscher und Essayist in Graz. Er starb im Juni 2005. Auf welche Weise er sich „mit der Arbeitswelt, dem Bildungssystem, Gefängnissen, Hochtechnologie, Skinheads, Sozialwissenschaft, Biomasse und anderen Menschen und Dingen“ befasst hat, zeigt das Buch, das kurz vor seinem Tod im Styria Verlag (Graz und Wien) erschien: „Unglück im Glück. Überleben in der Spaßgesellschaft“. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung des Verlags leicht überarbeitete Auszüge aus den gesammelten Essays.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Hans Georg Zilian