14.10.2005

Demokraten, Clans und Apparatschiks

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Demokraten, Clans und Apparatschiks

von Marcus Bensmann

Nachdem die oppositionellen Bewegungen in Georgien, der Ukraine und in Kirgisien auf der Straße erfolgreich waren, schien auch Usbekistan für eine „farbige Revolution“ reif zu sein. Doch der Aufstand gegen die postsowjetische Herrschaftselite wurde blutig niedergeschlagen. Am 13. Mai schossen Truppen des usbekischen Innenministeriums in eine demonstrierende Menschenmenge. Laut Human Rights Watch wurden dabei mehr als 500 meist unbewaffnete Demonstranten getötet. Nach diesem Massaker hat die Regierung unter Präsident Islam Karimow ihr despotisches Zwangssystem weiter gefestigt.

Die Hoffnung des Westens, die usbekische Gesellschaft sei langfristig durch Reformen – unter Leitung der herrschenden Elite – zu demokratisieren, hat sich zerschlagen. Vollends deutlich wurde dies im September, als in der Hauptstadt Taschkent ein veritabler stalinistischer Schauprozess begann. Vor dem Obersten Gericht sind 15 Männer als „Terroristen“ angeklagt, die angeblich in Andischan mit ausländischer Hilfe einen Staatsstreich versucht haben, der nur durch die heldenhaften usbekischen Sicherheitskräfte vereitelt worden sei.

Schauprozess in Taschkent

Die Angeklagten sitzen in einem Käfig. Ihre Gesichter sind aufgedunsen, die Augen leer. Sie sprechen mit stockender Stimme. Über ihnen thront das Richtertrio, der Staatsanwalt blättert finster in den Akten. Gleich am zweiten Prozesstag gestehen die Männer in dem Eisenkäfig in allen Anklagepunkten. Die Terrorgruppen Hizb ut-Tahrir und die Islamische Bewegung Turkestan hätten aus dem Ausland einen Aufstand in Andischan geplant und finanziert. Sie selbst seien in Kirgisien von einem Tschetschenen ausgebildet worden und hätten dann versucht, am 12. Mai die Stadt zu stürmen. In Andischan habe es weder eine Demonstration noch ein Massaker der usbekischen Sicherheitskräfte gegeben. Gemordet und gefoltert hätten allein die Terroristen. Danach beschuldigten sie die Presse, die Aufständischen aufgewiegelt und eine Desinformationskampagne zugunsten der Terroristen organisiert zu haben. Auch die US-Botschaft in Taschkent habe den geplanten islamischen Putsch mit Geld unterstützt. Die monotonen Schuldbekenntnisse klingen wie auswendig gelernt und bestätigen die Anklage des Staatsanwaltes in jedem Punkt.

Alles spricht dafür, dass diese Aussagen unter Folter zustande gekommen sind. Die staatlichen Medien kommentieren die Geständnisse in höhnischem Ton. Von einer Unschuldsvermutung kann keine Rede sein, die Angeklagten sind bereits vor dem Urteilsspruch Terroristen und Mörder. Akribisch wird das bedrohliche Bild einer Verschwörung gegen den usbekischen Staat gezeichnet, an der angeblich nordamerikanische NGOs, die US-Botschaft, islamistische Terroristen und ausländische Journalisten beteiligt waren.

Unzweifelhaft ist in Usbekistan nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Hinwendung vor allem der jüngeren Menschen zum Islam zu beobachten. Das dichtbesiedelte Ferghanatal, wo die Grenzen dreier Staaten Zentralasiens ineinander verkeilt sind, wurde seit der zentralasiatischen Unabhängigkeit zur Brutstätte zweier radikalislamischer Bewegungen: der Hizb ut-Tahrir (HT) und der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU). Die HT unterhält konspirative Kleinstgruppen und predigt die Errichtung eines islamischen Kalifats. Sie beschränkt sich bisher jedoch auf Propaganda und lehnt in ihren Aufrufen jegliche Gewalt strikt ab.

Die IMU unterhielt Ende der Neunzigerjahre eine schlagkräftige Mudschaheddin-Armee, die unter dem Schutz der Taliban in Nordafghanistan agierte, aber immer wieder auch usbekisches Staatsgebiet angriff. Im Antiterrorkrieg von 2001 in Afghanistan wurde die Kampfkraft der IMU jedoch weitgehend vernichtet; die meisten Kämpfer und ihr militärischer Führer wurden durch Bomben der US-Luftwaffe getötet.

Einige versprengte Gruppen halten sich bis heute im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet versteckt. Doch zu größeren Operationen ist die IMU kaum mehr in der Lage. Dennoch verfolgt der usbekische Staat unerbittlich die angeblichen Anhänger der HT und der IMU. Geständnisse werden mit Folter erpresst; viele tausend junge Männer verschwinden in den Gefängnissen.

Die usbekische Staatsführung rechtfertigt mit dem Kampf gegen den Terror das innerstaatliche Repressionssystem. Dabei wird jeder Protest gegen das Herrschaftssystem – wie in Andischan – als Terrorismus denunziert. Doch der Aufstand von Andischan hatte interne Gründe: Die städtische Bevölkerung der usbekischen Provinzstadt wollte sich nur gegen die allerorts herrschende Justizwillkür wehren.

Ein Jahr zuvor hatten die Behörden in der usbekischen Provinzstadt 23 Unternehmer unter dem Vorwand verhaftet, sie hätten eine islamistische Gruppierung gegründet. Die Männer waren Besitzer von Schreinereien, Textilunternehmen, Restaurants oder Mühlen; sie beschäftigen in ihren Betrieben an die 2 000 Menschen. Sie bekannten sich zu den Geboten einer Arbeitsethik, die ein Religionslehrer aus Andischan namens Akram Judaschew 1992 ersonnen hat: Schaffe wirtschaftliche Werte, ernähre die Familie, sei gottesfürchtig, und tue Gutes. Er hatte weder zur Bildung eines Gottesstaates noch zur Opposition gegen die usbekische Regierung aufgerufen. Gleichwohl sitzt der muslimische Religionslehrer als Terrorist im usbekischen Gefängnis ein.

Die Geschäftsleute in Andischan halfen einander mit Krediten, zahlten überdurchschnittliche Löhne und spendeten ein Teil ihres Gewinns für wohltätige Zwecke. Lange wurden sie vom usbekischen Staat gehätschelt und im usbekischen Fernsehen als die erfolgreichen Unternehmer von Andischan gefeiert. Doch im Sommer 2004 wurden sie plötzlich verhaftet und ihre Unternehmen geschlossen.

Dagegen wehrten sich die entlassenen Arbeiter wie auch die Freunde und Verwandten der Inhaftierten und demonstrierten während des Prozesses schweigend und friedlich vor dem Gerichtsgebäude. Die Angeklagten beteuerten – mit der usbekischen Verfassung in der Hand – ihre Unschuld. Selbst der Staatsanwalt musste zugeben, dass die Angeklagten eigentlich gar nichts verbrochen hatten. Den Vorwurf des Terrorismus und der Verfassungsfeindlichkeit hatte er gleich zu Beginn fallen lassen. Dennoch sollten die Männer verurteilt werden. Als unabhängige Geschäftsleute waren sie der usbekischen Regierung einfach suspekt, weil sie sich der Kontrolle des in Usbekistan herrschenden Beamtenapparats entzogen.

In der Nacht zum 13. Mai schlug der zunächst friedliche Bürgerprotest in einen Aufstand um. Noch ist unklar, wie es zu dem Sturm auf die Kaserne von Andischan und zu der Geiselnahme durch die Aufständischen kam, die den Gouverneurssitz von Andischan besetzt hatten. Fest steht aber, dass die vieltausendköpfige Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude eingefunden hatte, von den usbekischen Sicherheitskräften beschossen wurde. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass bei der Protestbewegung der Andischaner Bürger auch radikale islamische Gruppen mit von der Partie waren. Doch während der Demonstrationen wurde keinmal „Allahu Akbar“ gerufen oder die Errichtung eines islamischen Staates gefordert.

Die restriktive usbekische Gesellschaft eröffnete den Menschen in Andischan keinen anderen zivilen Protestweg, um die offensichtliche Unrechtmäßigkeit der Verhaftungen anzuprangern. Denn es gibt keine handlungsfähigen NGOs und keine unabhängige Presse, die den Protest hätte artikulieren können. Selbst die Bittbriefe an den Präsidenten blieben ungehört.

Die Brutalität, mit der die usbekischen Sicherheitskräfte den Aufstand in Andischan niederschlugen, lässt sich zum Teil sicher auch aus den Ereignissen in Kirgisien vom März 2005 erklären. Damals hatten Anhänger der kirgisischen Opposition binnen wenigen Tagen zunächst die administrativen Zentren in den Südprovinzen besetzt und dann die Hauptstadt Bischkek gestürmt. Der kirgisische Präsident Askar Akajew musste nach Moskau fliehen. Als Islam Karimow den Aufstand in Andischan niederschlagen ließ, dürfte er die schmähliche Flucht seines kirgisischen Kollegen vor Augen gehabt haben. Doch während sich in der Provinzstadt Andischan ein Bürgertum artikuliert hatte, dass seine Freiheit und seine Besitztümer durch eine Willkürjustiz bedroht sah, war der kirgisische Machtumsturz lediglich eine als Revolution maskierte Clanrevolte.

Anders auch als in Georgien und der Ukraine wurde der Protest in Kirgisien nicht von der städtischen Bevölkerung getragen. Dennoch gibt es einige Parallelen: Der Protest gegen das Herrschaftssystem Akajews in dem zentralasiatischen Gebirgsstaat hatte sich ebenfalls an der Empörung über die gefälschten Parlamentswahlen vom Februar entzündet. Und kirgisische Demokratieaktivisten, die zum größten Teil in US-finanzierten NGOs organisiert waren, hatten Korruption und Machtmissbrauch von Präsident Akajew angeprangert, dessen Familienclan den Staat als seine Beute behandelte. Ungeniert hatten sich Haidar, der Sohn des Präsidenten, und der Mann seiner Tochter Bermet an den wenigen lukrativen Wirtschaftsunternehmen Kirgisiens bereichert. Zudem hatten sich beide Sprösslinge des Präsidenten bei den Parlamentswahlen, die von der OSZE als undemokratisch kritisiert wurden, ein Mandat gesichert.

Die von der US-amerikanischen Organisation Freedom House finanzierte Zeitung Maja Stalitza war das Kommunikationsmedium einer Opposition, die allerdings von ausrangierten Politikern der südlichen Clans dominiert wurde. Die Kirgisen sind trotz ihrer langjährigen Sowjetisierung nach wie vor auf die Clanstrukturen festgelegt. Diese aus der Nomadenzeit stammenden Normen und Beziehungen stiften immer noch eine übergeordnete Loyalität. Da aber Aksar Akajew, der Kirgisien seit dem Ende der Sowjetunion regiert, den nördlichen Clans des kirgisischen Gebirgsland entstammt, fühlte sich der Süden übergangen.

Über die Jahre hat die Regierung Akajew allerdings an Autorität eingebüßt. Das ermutigte die Clanführer des Südens, nach den offensichtlich gefälschten Parlamentswahlen im Februar, zum Sturz der Regierung Akajew aufzurufen. Dabei taten sich besonders südliche Oppositionspolitiker hervor, die ihre Clanverbände in die politische Auseinandersetzung einbrachten. Die verarmten Dörfler, die sich mit Mühe von Viehzucht und Weidewirtschaft ernährten, waren dankbare Demonstranten. Bezahlt wurden sie teilweise von zweifelhaften Geschäftsleuten und auch ganz normalen Kriminellen, die mit den südlichen Clanführern verbandelt sind.

Kirgisische Wahlen mit sowjetischen Resultaten

Etwa 500 dieser unzufriedenen Provinzler erstürmten am 21. März die Stadt Osch im Süden Kirgisiens. Deren Bewohner, großenteils Usbeken, verrammelten ihre Geschäfte und Marktstände und flüchteten sich hinter die starken Tore ihrer Häuser. Die kirgisischen Sicherheitskräfte taten nichts, um ihren Präsidenten zu verteidigen. So konnte die mit Wodka aufgeputschte Landbevölkerung in den menschenleeren Straßen der zweitgrößten kirgisischen Stadt marodieren. Als sich diese Szenen zwei Tage später in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek wiederholten, flüchtete Akajew außer Landes.

Die Clanführer des Südens waren nun die neuen Herrscher Kirgisiens. Und sie verloren keine Zeit, sich zu bedienen. Im Juli wurde Kurmanbek Bakijew mit einem sowjetisch anmutenden Wahlergebnis (80 Prozent) zum Präsidenten gewählt. Seine Brüder erhielten Botschaftsposten und wichtige Schlüsselpositionen, auch die wenigen Wirtschaftsunternehmen wurden neu verteilt.

Obwohl es sich in Kirgisien um einen Clanputsch handelt, hat er durchaus zur Stärkung der Zivilgesellschaft beigetragen. Die staatliche Macht ist nicht mehr das Monopol nur einer Clique. Die Bevölkerung ist durch den Machtumsturz hochgradig politisiert; die Medien können ungehindert berichten. Das staatliche Fernsehen überträgt ungekürzt die Debatten des Parlaments, in denen Abgeordnete den neuen kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew der Korruption und krimineller Machenschaften bezichtigen – ein für zentralasiatische Verhältnisse einmaliger Vorgang. Und die Bevölkerung schaut zu und diskutiert auf dem Basar und den Straßen das Gesehene. Die konkurrierenden Machtzentren eröffnen Freiräume, die eine selbstbewusst werdende Zivilgesellschaft ausfüllen und für sich nutzen kann.

Demonstrierende Gruppen vor dem Weißen Haus, dem Regierungssitz in Bischkek, sind heute ein fast alltäglicher Anblick. Und während solche Demonstrationen in anderen zentralasiatischen Staaten von Polizeiknüppeln auseinander getrieben werden, klären in Kirgisien die Demonstranten die anrückenden Polizisten darüber auf, dass sie nichts anderes machten, als ihre staatsbürgerlichen Rechte wahrzunehmen. Bei einer dieser Demonstrationen ging ein sichtlich nervöser Polizist auf den Anführer des Demonstrationszugs zu und hielt ihm höflich vor, dass er die öffentliche Ordnung störe. „Genau das ist unser Ziel“, lautete die Antwort an den Ordnungshüter.

Auch anderswo werden die Konflikte ganz öffentlich ausgetragen. Eine Delegation aus der südlichen Provinz Narin begab sich unlängst nach Bischkek, um die ausgebliebenen Kohlelieferungen für den Winter anzumahnen. Auf einer Pressekonferenz drohte sie mit der Blockierung der wichtigsten Handelsstraße, die Bischkek mit China verbindet. „Wir haben leider keine andere Wahl, sonst frieren wir im Winter“, sagt der Vertreter einer Jugendorganisation aus Narin vor der Hauptstadtpresse. Seine Rede wird von den privaten und staatlichen Fernsehkanälen direkt übertragen.

Noch fehlt der kirgisischen Zivilgesellschaft eine ökonomische Grundlage. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen die meisten Fabriken und Produktionsanlagen in Kirgisien Bankrott. Die Menschen in den Städten haben ihre Arbeitsplätze verloren und ernähren sich heute überwiegend von kleinen Handelsgeschäften.

Der Tatar Ramil Bucharow hat in einer alten Fabrikhalle eine Werkstatt eingerichtet, wo er Mullbinden aus Baumwolle herstellt. „Wir haben viele Aufträge, kriegen aber keinen Kredit, um Rohmaterial zu erwerben“, klagt Ramil Bucharow. Und doch hat der Machtwechsel auch für ihn etwas gebracht. Denn was die Bestechungsgelder betrifft, so treten die Vertreter des Staates jetzt zumindest diskreter und bescheidener auf: „Man merkt, dass Polizisten und Beamte jetzt einfach mehr Respekt vor der Bevölkerung haben.“ Bucharow hofft nur, dass es ein Wandel auf Dauer ist.

© Le Monde diplomatique, Berlin Marcus Bensmann lebt als freier Journalist in Zentralasien.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Marcus Bensmann