14.10.2005

Elite für alle

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Elite für alle

Vier Uhr nachmittags. Vor der 2. Grundschule Berlin-Prenzlauer Berg hält ein Porsche Carrera, ein kleines Mädchen schleudert seinen Schulranzen auf die Ledersitze. Die New-Economy-Klasse vom Kollwitzplatz sammelt ihre Sprösslinge ein. Eine Schautafel stellt die Schule als ökologisches Projekt vor, weit und breit kein Baum, kein Strauch, kein Gras. Mehr Rot als Grün. An der Baustellenabsperrung stauen sich die Kleinwagen junger Omas. Alleinerziehende Mütter hetzen mit Kleinkindern und Fahrrädern auf den Schulhof mit seinem roten Sportplatzbelag und den weißen Linien drauf: die Aschenbahn der Eliten von morgen, Darwin für die postindustrielle Wissensgesellschaft.

Arthur ist sechs und schon unterfinanziert. Der größte deutsche Bildungsdiscounter, der Staat, gibt für Arthur, einen von 56 Erstklässlern der 2. Grundschule, jährlich gerade mal 3 500 Euro aus. Dafür darf er sich sechs Jahre auf die Frage vorbereiten, auf welchem Bildungsweg er am besten die Leistungsstandards erreichen wird, die die deutsche Kultusministerkonferenz als Reaktion auf Pisa I für den Mittleren Schulabschluss aufgestellt hat. Jede Woche lernen Arthur und seine achtundzwanzig Mitschüler einen neuen Buchstaben. Der Klassenraum liegt im zweiten Stock, es riecht nach altem Bodenbelag, die in Apricot gestrichenen Flure und Klassenzimmer schweben in dem hundert Jahre alten Backsteingebäude wie Inseln der Glückseligkeit im korrodierenden deutschen Schulsystem. Die Lernmaterialien, dünne Kopierblätter in Plastikheftern, werden schmuddelig und mürb sein, bevor die Klasse im nächsten Sommer mit dem Alphabet durch ist. Lesen kann Arthur längst, er ist ein kluger Junge, Bücher gehören zu seinem Alltag. Statistisch zählt seine Mutter zur deutschen Bildungsschicht, ihrem sozialen Status nach als alleinerziehende Studentin zur eher unterprivilegierten Klasse.

„Lernen für die Welt von morgen“ nannte die OECD ihre internationale Schulleistungsstudie (Pisa), bei der deutsche Schüler auf die Sitzenbleiberbank verwiesen wurden. Der rot-grünen Bundesregierung war die dadurch ausgelöste deutsche Bildungsdebatte unversehens in den Schoß gefallen. Die Schließung hunderter Gesamtschulen im ländlichen Raum, die desaströse Allgemeinbildung von Handwerksaspiranten mit Hauptschulabschluss, die Unterfinanzierung der Universitäten, die Reformierung des dreigliedrigen Schulsystems, die Forderung nach Ganztagsschulen standen schließlich nicht erst seit Pisa auf der politischen Agenda. Aber die soziale Fantasie der Politik war nun enorm beflügelt. Bildung wurde zur „sozialen Frage des 21. Jahrhunderts“ ausgerufen, „Bildungsarmut“ und „Bildungsgerechtigkeit“ wurden erfunden, Bündnisse für Bildung geschmiedet, der Kulturkrieg um die Bildung wurde erklärt. Unionspolitiker trauten ihren Ohren nicht beim Ruf der Sozialdemokraten nach Eliteuniversitäten. „Brain up!“, Harvard in Bremen, Princeton in Potsdam, Oxford in Bottrop! Ging es nicht gerade der rot-grünen Koalition darum, den seit Jahren wachsenden Abstand zwischen guten und schlechten Schulabgängern zu verringern?

Das aber ist alles andere als eine deutsche Debatte. Eliteuniversitäten – oder wie sie bei uns derzeit heißen: Exzellenz-Universitäten – sind libertäre Tempel eines gnadenlosen Konformismus. Statussicherheit und die Benimm- und Dresscodes der höheren Schichten, multipliziert mit iPods, Sneakers, Handys, den Zeitgeistattributen der Jugendkultur, bestimmen ihre Ordensregeln.

Charlotte Simmons, die Heldin aus dem neuen Campus-Roman von Tom Wolfe, hat sich aus der Mittelschicht hochgearbeitet in eine amerikanische Spitzenuni. Sie hat nichts als ihre stupende Begabung in theoretischer Chemie und ein Stipendium. Aber das reicht nicht. Die Initiation in den Orden der Auserwählten verlangt, dass Charlotte das Stigma ihrer Herkunft ablegt – ländliche Kleidung, christlichen Fundamentalismus und die Rechtschaffenheit des Armeleutekindes – und im Tausch dafür die Image- und Statussymbole der Upperclass annimmt. Charlotte verliert ihre Unschuld, aber sie gehört von nun an dazu.

Fünf Jahre Pisa-Panik haben uns der Lösung der Aufgabe, wie Bildung in gesamtgesellschaftliche Leistung, Lese-und naturwissenschaftliche Kompetenz in soziale Kompetenz umzusetzen wären, nicht näher gebracht. Wir sind ein (dummes) Volk geblieben, aber wenigstens wissen wir jetzt, warum. Die Bildungsdebatte war das trojanische Pferd der Sozialdemokraten im Kampf zwischen Bund und Ländern, Fraktionen und Ressorts um die künftigen Leistungsträger der Republik. Jetzt staunen wir, der Bauch ist leer. Bildungsgerechtigkeit für Migranten, Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose heißt noch lange nicht, den Funktions- und Machteliten neue bildungspolitische Cluster aufzuzwingen.

Ebenso wie die deutschen Bachelor- und Masterabschlüsse keineswegs die universitäre Ausbildung verbessern, sondern Industrie und Wirtschaft mit Turboakademikern beliefern werden. Mit ihrem Traum von der „Elite für alle“ hat auch die SPD ihre Unschuld verloren. Die Idee, die Kaderschmieden der Upperclass von den Unterschichten stürmen zu lassen, wird auch in der postindustriellen Gesellschaft ein frommer Wunsch bleiben. Der egalitäre Weg der Chancengleichheit endet vorläufig in der Sackgasse des Bildungs-Taylorismus.

Beatrix Langner

© Le Monde diplomatique, Berlin Beatrix Langner ist freie Literaturkritikerin und lebt in Berlin und am Fläming.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Beatrix Langner