14.10.2005

Brazil Blues

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Brazil Blues

von Ignacio Ramonet

Brasilien und die Brasilianer haben das wirklich nicht verdient“, erklärte sichtlich betroffen der brasilianische Staatspräsident Luis Inácio „Lula“ da Silva. Er sprach über den Bestechungsskandal, der sein Land seit vier Monaten erschüttert. Darin sind führende Politiker und Minister seiner Arbeiterpartei (PT) verwickelt. Die Medien stiegen auf die Affäre ein, die rasch Züge einer Soap-Opera annahm. Doch die politische Landschaft Brasiliens ist verwüstet.

Inzwischen scheint erwiesen, dass Mitarbeiter da Silvas, allen voran Kabinettschef José Dirceu, Stimmen gekauft haben. Abgeordnete, die den mit der PT verbündeten Parteien angehören, erhielten aus öffentlichen Kassen monatlich bis zu 10 000 Euro. Auch Lulas Wahlkampf 2002 soll mit veruntreuten Geldern finanziert worden sein.

Bislang gibt es keine Beweise für eine persönliche Beteiligung Lulas. Auch haben sich die kompromittierten PT-Politiker offenbar nicht persönlich bereichert. Sie waren nicht die Korrumpierten, sondern die Korrumpierenden, und sie glaubten, dem höheren Interesse ihrer Partei zu dienen.

Seit Januar 2003 regiert die PT mit Unterstützung diverser verbündeter Parteien in einer Minderheitskoalition. Sie ist in der Abgeordnetenkammer auf die Neutralität oder Unterstützung der Konservativen angewiesen: der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) und der Partei der Liberalen Front (PFL).

In Brasilien fühlen sich die Parlamentarier im Allgemeinen nicht an die Partei gebunden, für die sie gewählt wurden. Daher sind sie für jedwede Form der Bestechung anfällig. Bestechung gehört deshalb seit je zum politischen Alltag. Doch von der PT und einem Präsidenten Lula da Silva haben sich die Bürger anderes erhofft. Denn die PT hatte vor allem eine neue Ethik verkündet. Sie hatte immer wieder betont, dass die „partizipative Demokratie“ in den Kommunen und Bundesstaaten, in denen sie regierte, die beste Garantie gegen Korruption und Bestechung biete. Sie hatte das „partizipative Budget“ als kollektives Instrument zur Kontrolle der öffentlichen Finanzen erfunden. Und der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Lula, der sich mit Willensstärke und Klugheit nach oben gekämpft hatte, war als Paradebeispiel eines ehrlichen Politikers präsentiert worden. Jetzt ist die Enttäuschung so groß wie die Hoffnung bei seinem Wahlsieg im Oktober 2002.

Doch nicht alle waren von dem Korruptionsskandal überrascht. Seit langem schon warnen der linke PT-Flügel und die starken sozialen Bewegungen (darunter die Bewegung der Landlosen) vor einem Abdriften der aktuellen Regierungspolitik. Unerlässliche Sozialreformen werden auf die lange Bank geschoben, und die vom IWF angemahnte Wirtschaftspolitik spricht den Wahlversprechen der PT Hohn. Das Paradoxe ist dabei nur, dass die PT rechte Abgeordnete schmiert, um rechte Gesetze durchzubringen.

Dass die konservativen Kräfte, die sich seit Jahrzehnten in Korruption suhlen, nun frohlocken, kann man verstehen. Auch in Washington vergießt man keine Tränen über das Malheur des brasilianischen Präsidenten. Dessen innovative Süd-Süd-Diplomatie irritiert die Bush-Regierung. Ihr missfällt auch die Schlüsselrolle, die Brasilien in einem von der Linken beherrschten Lateinamerika spielt.

In seiner Rede an die Nation bat der brasilianische Staatspräsident am 12. August sein Volk um Verzeihung und beteuerte, er habe „von den inakzeptablen Praktiken“ nichts gewusst, die er im Übrigen als „Verrat“ betrachte. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden im Oktober 2006 statt. Dann erst wird sich zeigen, ob es Lula gelingen kann, das Vertrauen der unteren Schichten zurückzugewinnen. Sie hatten ihn zur Ikone gemacht und sehen sich heute um ihre Träume betrogen.

Le Monde diplomatique vom 14.10.2005, von Ignacio Ramonet