07.07.2016

Gupsipakha, 2700 Meter über dem Meer

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Gupsipakha, 2700 Meter über dem Meer

Geschichten aus einem Dorf in Nepal, das nach den beiden Erdbeben im letzten Jahr umziehen musste

von Johanna Fricke

Maya geht jeden Tag ins alte Dorf und kümmert sich um die Felder JOHANNA FRICKE
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Für Sande Gurung ist der Umzug seines Dorfs eine Chance. Laprak lag in unmittelbarer Nähe vom Epizentrum des Erdbebens im Himalaja mit einer Stärke von 7,8. Es war ein Samstag, der 25. April 2015. Ein Jahr später steht Sande vor dem Eingang seines kleinen Hotelrestaurants Gupsy ­Rose, das er seit acht Monaten mit seinen beiden Brüdern betreibt, und blickt auf das neue Laprak.

Nebelschwaden kriechen über die Trampelpfade zwischen den Zelten. Wasser tropft von einst weißen Plastikplanen, auf denen die Namen verschiedener Hilfsorganisationen langsam verblassen. „International Commitee of the Red Cross“ kann man noch lesen. Einen Sommermonsun und einen Winter hat die Siedlung schon hinter sich. Die Sonne geht auf und bringt das Wellblech der Hütten zum Funkeln.

Das neue Laprak liegt auf dem Hügel Gupsipakha in 2700 Meter Höhe und 600 Meter oberhalb der alten Siedlung. Im ersten Tageslicht kann man am Horizont die weiße Silhouette von Buddha Himal erkennen, einem Berg des Manaslu-Massivs. Den Menschen aus der Gegend gilt er als heilig. Für die 73 Kilometer nach Gorkha Town, wo die Verwaltung des Distrikts ihren Sitz hat, braucht man mit dem Bus ungefähr fünf Stunden – wegen der schlechten Straßen. Die Reise nach Kath­mandu dauert einen ganzen Tag.

Sande hatte sein Dorf schon vor einigen Jahren verlassen, um sich als Lastenträger in der touristischen Annapurna-Region zu verdingen. Er hat sich hochgearbeitet, wurde Küchengehilfe und schließlich Koch in einem Hotel. An jenem Samstag im April spürte er die Erschütterungen, die sein Heimatdorf – drei Tagesreisen weiter westlich gelegen – in Trümmer legten. 18 Menschen riss es dort in den Tod.1

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Als Sande Gurung von der Zerstörung seines Heimatdorfs erfuhr, beschloss er zurückzukehren. Seit August 2015 beherbergt das Gupsy Rose Gäste – Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Journalisten und Regierungsvertreter. „Es läuft nicht schlecht“, erzählt Sandes Bruder Sudeep. „Aber die Blockade im Winter hat uns zu schaffen gemacht. Es gab kein Gas zum Kochen und kein Benzin. Deswegen konnten auch keine Lebensmittel nach Laprak geliefert werden. Wir mussten alles hochtragen – Nepal bhand“, sagt er und lacht kurz auf. „Da mussten wir auch schließen.“ Dann wird er wieder ernst.

Bhand bedeutet auf Nepali geschlossen. Dann geht gar nichts mehr. Meist rufen Parteien, Gewerkschaften oder andere Organisationen zum Bhand auf. Je nachdem bedeutet es landesweite Streiks, Fahrverbot, Ausgangssperre oder, wie zuletzt, die viermonatige Blockade der Grenze zu Indien (siehe Kasten auf Seite 17).

In den Städten sagen sie, die Blockade sei noch schlimmer gewesen als das Erdbeben. In Kathmandu bildeten sich kilometerlange Warteschlangen vor den Tankstellen, und die Leute kochten mit Feuerholz auf den Dächern ihrer Häuser. In den zerstörten Dörfern fehlten Nahrungsmittel, Zeltplanen, Decken und Medikamente. „Manchmal kamen NGO-Helfer vorbei und brachten uns Reis“, erzählt Sudeep. „Dann ging es uns wieder besser.“

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Zwei Männer kommen den Weg herauf und bleiben stehen, um ein paar Worte mit uns zu wechseln. Buddhi Man Shrestha und sein Kollege Masaru Arakida arbeiten für die japanische Organisation JICA (Japan International Cooperation Agency). Sie sind für ein paar Tage in Laprak, um die Menschen über Erdrutsche aufzuklären. „Das alte Laprak liegt 600 Meter hangabwärts in einem Risikogebiet“, erklärt Shrestha, „die Leute sollten dort nicht mehr siedeln.“ Manche wollen trotzdem bleiben. Die beiden Helfer wollen deshalb später noch mal ins alte Dorf gehen, um vor allem die Alten zu überzeugen.

Für den Neuanfang haben die Lapraki (627 Haushalte) gut 18 Hektar Land auf Gupsipakha bekommen. Die Kathmandu Post schreibt, die Leute seien glücklich, und Laprak solle als erdbebensicheres Modelldorf wiederaufgebaut werden. Die nepalesische Regierung braucht positive Nachrichten, nachdem sie im vergangenen Jahr viel Kritik geerntet hat. Umgerechnet 4,1 Milliarden Euro Spendengelder haben internationale Geber zugesagt, womit zumindest ein Teil des Schadens von geschätzt 7 Milliarden Euro gedeckt wäre. Ein Jahr nach dem Beben leben noch immer knapp 770 000 Familien in Notunterkünften. Laprak, so scheint es, ist ein Beispiel für gelingenden Wiederaufbau.

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Es dauert eine Weile, bis die Morgensonne über der Bergkette erscheint; die Vorbeikommenden tragen Kopfbedeckungen gegen die Kälte. Sande zeigt auf einen schwarzen Schlauch, der in einiger Entfernung aus dem staubigen Boden ragt. Am oberen Ende ist ein Wasserhahn befestigt. Da kannst du dich waschen, bedeuten seine Gesten. Er ist von Geburt an taubstumm. Drei Frauen kommen den Weg herauf, jede trägt einen großen Korb auf dem Rücken, darin sind Plastikkanister, Messingkrüge und leere Plastikflaschen. Aus dem aufgedrehten Hahn kommt aber kein Wasser. Die Frauen setzen die Körbe ab, stellen ihre Gefäße in einer Reihe auf und gehen wieder weg. Sie werden später zurückkommen, gibt Sande zu verstehen, wenn es wieder Wasser gibt. Dann geht er zurück in sein Hotel aus Blech, um den ­Frühstückstee für die Gäste vorzubereiten.

Etwas entfernt haben Männer Stühle im Kreis aufgestellt. An diesem Vormittag tagt die Laprak Society. Bürgerinitiativen wie diese haben in einigen Dörfern die kommunalen Aufgaben übernommen. Im Chaos, das auf die Erdbeben folgte, fehlten demokratisch gewählte Regierungsvertreter vor allem im ländlichen Raum, um die Verteilung von Hilfsgütern zu beaufsichtigen.

In Laprak leben viele Familien vom Trekkingtourismus. Deshalb sitzen in der Laprak Society hauptsächlich Bergführer. Den Vorstand bilden ein paar Manager von Trekkingagenturen und der Leiter einer Schule in Kathmandu. Kathmandu? Tatsächlich haben die meisten Mitglieder der Laprak Society ihren Wohnsitz in der Hauptstadt, erklärt Dalbir Gurung, der erste Vorsitzende, der einen müden Eindruck macht. Viele in der Runde wirken frustriert.

Die Männer haben sich versammelt, um über die Zukunft des Dorfs zu sprechen. „Wir haben monatelang verhandelt“, sagt Dalbir Gurung. „Die Regierung hat uns das neue Land zugesprochen, aber weiter ist nichts passiert. Jetzt sind die Leute verwirrt. Wir würden selbst anfangen zu bauen, es gibt sogar Hilfsorganisationen, die uns unterstützen wollen, aber die Politik verzögert alle Maßnahmen. Dabei brauchen wir dringend feste Häuser.“

Obwohl seit dem Ende der Grenzblockade theoretisch wieder Baumaterialien in die Dörfer transportiert werden können, bestehen alle Unterkünfte auf dem Hügel aus Wellblech oder Zeltplanen oder einer Kombination von beidem. Warum bauen die Leute nicht?

„Zu teuer“, sagt Dalbir. Die Regierung habe für jedes zerstörte Haus zwei Lakh versprochen, umgerechnet etwa 1600 Euro. Doch das Geld ist bislang nicht überwiesen worden, außerdem bräuchte es das Drei- bis Vierfache.

„Build back better“ lautet das offizielle Motto für den Wiederaufbau. Besser als vorher sollen die neuen Gebäude sein, damit sie künftigen Erdbeben standhalten und nicht wieder zu tödlichen Fallen werden. Die meisten Häuser in Nepal sind zweistöckig, mit Wänden aus aufgeschichteten, höchstens mit Lehm verbundenen Steinen und schweren, schiefergedeckten Dächern – alles andere als erdbebensicher. Finanzielle Unterstützung sollen nun nur diejenigen bekommen, die nach den Vorgaben der Regierungsexperten bauen.2

Mit ihren strengen Auflagen will die zuständige National Reconstruction Authority (NRA) auch der Korruption vorbeugen. Doch damit verzögert die Behörde den Wiederaufbau in Laprak, statt ihn zu beschleunigen. Im Nachbardorf hat die japanische NGO schon Workshops für erdbebensicheres Bauen veranstaltet. „Sie wollen uns auch unterstützen. Und wir bekommen Spenden aus Frankreich“, erzählt Dalbir. „Aber jetzt hat die NRA verboten, dass NGOs in Nepal Häuser bauen. Sie wollen verhindern, dass sich Leute ungerecht behandelt fühlen. Wenn wir uns nicht daran halten, bekommen wir vielleicht auch später kein Geld von der Regierung.“ Es sei ein großes Problem, dass die Beamten in der Stadt keine Ahnung davon hätten, wie die Lage in den Dörfern sei.

Dann verabschiedet sich Dalbir – er muss seine Rückfahrt nach Kathmandu vorbereiten und hofft, dass er für den nächsten Tag einen Sitz in dem Jeep ergattern kann, der am Vortag Gemüse geliefert hat. Vielleicht können ihn aber auch die Japaner mitnehmen.

Ein anderes Vorstandsmitglied will zunächst nicht mit uns reden, weil er von seinen Erfahrungen mit Journalisten enttäuscht ist. „Die sind bloß gekommen, haben Fragen gestellt und sind wieder abgereist. Geholfen hat uns das nicht“, sagt er. Wer ihnen denn geholfen habe? Die Regierung? Der Mann winkt ab. „Nach dem Erdbeben haben wir in Laprak vier Tage lang auf Hilfe gewartet, mit all unseren Verletzten. Die Toten mussten wir verbrennen. Am fünften Tag sind wir nach Gupsipakha gezogen, und dorthin kamen Leute aus Singapur und andere Helfer. Wir Dorfbewohner haben uns gegenseitig geholfen und das Essen geteilt.“ Auf die Frage, wie sie das neue Land unter den Familien aufteilen, antwortet er ausweichend, sie hätten noch keine Lösung gefunden.

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Pradip Gurung ist zu spät nach Gupsi­pakha gekommen. Er ist Lehrer für Nepali und Literatur an der einzigen Schule des Orts und spricht fließend Englisch. Auf seinem blauen T-Shirt prangt die Aufschrift „United Vision Nepal“ – eine Kleiderspende. „Zuerst war viel Platz auf dem Hügel“, sagt er. „Aber nach dem Erdbeben musste ich meine Familie in ein Krankenhaus bringen. Meine Frau war bewusstlos und unser Säugling erst zwei Monate alt. Ein indischer Helikopter nahm uns mit.“

Er zeigt auf die dicht stehenden Hütten und Zelte: „Als wir zurückkamen, konnten wir keinen freien Platz für ein neues Haus finden. Manche Leute haben sehr groß gebaut und sich Gartenland dazu genommen. Manche haben sogar mehrere Häuser. Wir haben keinen Garten und noch nicht mal eine Toilette.“

Die Aufteilung des neuen Stück Lands ist ein Thema, zu dem sich in Laprak niemand wirklich äußern will. Land ist wertvoll, nicht nur als Siedlungsfläche, sondern auch als Ackerland. In den ländlichen Gebieten leben nach wie vor viele Menschen größtenteils von Feldbau und Viehwirtschaft. Wer nicht genug anbauen kann, braucht Geld, um zusätzlich Nahrungsmittel zu kaufen. Wer Geld braucht, muss in eine der größeren Städte – meist ist Kathmandu die erste Station. Oder er muss versuchen, einen Job im Ausland zu finden.

Als Lehrer hat Pradip immerhin ein regelmäßiges Einkommen, und 170 Euro im Monat sind gemessen am Durchschnittslohn von 38 Euro viel. Aber er muss auch eine fünfköpfige Familie versorgen. Und er hat Schulden. Ein Jahr vor dem Erdbeben war die junge Familie in ihr neues Haus gezogen. Die etwa 5000 Euro für den Bau hatten sie sich von Verwandten geliehen. „Jetzt muss ich vier oder fünf Jahre arbeiten, damit ich es zurückzahlen kann“, sagt Pradip müde.

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Er bietet an, mir das alte Dorf zu zeigen. Der Weg dorthin ist steil, und die staubige Piste verwandelt sich nach einer halben Stunde in etwas zwischen Treppe und Pfad – hier würde kein Fahrzeug mehr durchkommen. Außer mir haben alle Plastiksandalen an den Füßen, aber ich bin die Einzige, die auf den lockeren Steinen ausrutscht. Die Entgegenkommenden sind mit Holzbalken und Brettern beladen. Eine Frau trägt ihre Tochter in einem Korb auf dem Rücken, in der Hand hält sie einen aufgespannten Regenschirm gegen die starke Sonne. Überhaupt sind mehrheitlich Gruppen von Frauen zwischen den beiden Siedlungen unterwegs. Einige von ihnen, deren Körbe nicht beladen sind, halten tatsächlich Strickzeug in den Händen – sie stricken im Gehen Schals und Mützen aus farbiger Wolle.

Unter ihnen ist auch Maya, Pradips Frau. Sie hat ihre beiden kleinen Kinder dabei und ist auf dem Weg zu den Feldern der Familie. Sie sagt, sie lebe zwischen oben und unten. „Ich würde lieber im alten Laprak wohnen, doch oben ist es sicherer.“ Unten liegen aber die Felder der Familie, und weil ihr Mann an der Schule arbeitet, muss sich Maya um die Landwirtschaft kümmern. Sie steht jeden Tag gegen vier Uhr morgens auf, nimmt die beiden kleineren Kinder mit hinunter zum alten Haus der Familie, kocht dort Reis für sie und geht anschließend auf den Feldern arbeiten. „Die Kinder helfen mit, oder sie spielen mit den anderen aus dem Dorf“, erzählt sie.

Am späten Nachmittag macht sie sich auf den Heimweg und kommt nach Einbruch der Dämmerung auf Gup­si­pakha an. Dann bereitet sie das Abendessen zu. Fünf Monate im Jahr lebt die Familie von selbst angebautem Mais, Hirse, Kartoffeln und Gemüse. Danach müssen sie Lebensmittel kaufen. „Wegen der beiden Kleinen brauche ich immer eine Stunde länger für den Weg“, erzählt Maya. Der Abstieg dauert zwei Stunden, der Weg zurück nach Hause drei.

Während des Gesprächs haben sich weitere Frauen um uns versammelt. Sampurna Ghale, die aus dem Nachbardorf Barpak zu Besuch ist, erzählt ihre Geschichte: „Ich bin allein, ich habe kein Haus, nur Trümmer. Jeden Tag klopfe ich Steine, um etwas Geld zu verdienen. Aber selbst wenn ich Geld hätte – wie soll ich mein Haus wiederaufbauen, wenn ich doch keine Verwandten habe, die mir helfen können?“

Eine alte Frau mit großen, goldenen Ohrringen scherzt, dass der Hausbau in Laprak von nun an Frauensache sei: „Unsere jungen Männer gehen alle ins Ausland. Dann schicken sie Geld, und wir können Tee kaufen und ihn mit Zucker trinken. Aber niemand ist da, um die Arbeit zu machen.“

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Von der Schule, in der Pradip als Lehrer gearbeitet hat, sind nur ein paar Mauerreste zwischen den Trümmern stehen geblieben. Kinder spielen auf dem ehemaligen Schulhof, kicken eine leere Plastikflasche herum. „Zum Glück ist es an einem Samstagvormittag passiert“, sagt der Lehrer, „es war schulfrei, und viele Menschen waren nicht zu Hause, sondern auf den Feldern oder hüteten ihre Ziegen außerhalb des Dorfs. Sonst hätte es noch viel mehr Tote gegeben.“

Ein gutes halbes Jahr ist der Unterricht ausgefallen. Jetzt findet er wieder statt – in einem Zelt. Die Schule liegt etwas oberhalb der alten Ortschaft. Man hat einen guten Blick über die Terrassenfelder und auf das, was übrig geblieben ist von den schiefergedeckten Steinhäusern, den Viehställen und engen Gassen eines einst belebten Dorfs.

Am Dorfbrunnen waschen ein paar junge Frauen Kleider. Zwischen Mauern haben sie Leinen aufgespannt. Die Wäsche flattert im Wind. Ein paar Hühner picken im Staub. Aus einigen Schornsteinen kräuselt Rauch in den Himmel.

Im alten Laprak sitzt Dam Bahadur vor seinem Haus, den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen – gegen die Sonne und die Traurigkeit. Sein gebräuntes Gesicht ist faltig vom Alter, vom Lachen und von einem harten Leben. Das Erdbeben im letzten Jahr hat ihm seine einzige Tochter genommen. Jetzt leben er und seine Frau zu zweit in einem einsturzgefährdeten Haus aus Holz, Wellblechstücken, Steinen und Lehm.

Nur zweimal haben die Eheleute auf Gupsipakha übernachtet. Dann fanden sie, es sei Zeit, in ihr altes Dorf zurückzukehren. Selbst auf die Gefahr hin, unter einem Erdrutsch begraben zu werden. „Wir sind hier geboren, und hier sterben wir“, sagt der 73-Jährige. „Sicher oder nicht – was sollen wir dort oben tun? Und was sollen wir essen? Unsere Tochter hat früher manchmal Kartoffeln und Zwiebeln geerntet und verkauft, dann hatten wir etwas Geld. Jetzt haben wir nichts mehr, und wir sind zu alt, um jeden Tag weite Wege zu unseren Feldern zu laufen.“

Die Regierung hat einen Ingenieur geschickt, um sein Haus zu überprüfen. Und der hat es als unbewohnbar registriert. Ob er wisse, dass die Regierung ihm möglicherweise keine Entschädigung zuerkennen wird, wenn er nicht nach Gupsipakha zieht? Er zuckt mit den Achseln und steht auf, um uns ins Haus zu führen. Neben dem Wohnraum liegt der Stall. Sechs Küken piepsen im Stroh. Dam Bahadur schiebt zwei Ziegen beiseite und sagt, er wolle den Unterstand umbauen – zu einem Homestay-Hotel für Touristen. Ein traditionelles Haus soll es werden, aus Stein, Holz und Lehm und mit einem Ziegeldach. Diese Materialien kann er sich leisten. Und die Touristen mögen so was.

Eigentlich hätte das Dorf schon vor fast 20 Jahren nach Gupsipakha umziehen sollen – wegen der Lawinengefahr im Tal. Aber damals waren die Probleme auf dem Hügel schon die gleichen wie heute: Wassermangel, Kälte und zu wenig Ackerland. Die Dorfbewohner kehrten schließlich in ihre vertraute Umgebung zurück. „Dies ist ein guter Ort“, findet Dam Bahadur, „dort oben kann man nur ein bis zwei Monate leben, danach ist es zu kalt.“

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Es ist Nachmittag und Zeit, auf den Hügel zurückzukehren. Zurück an den „kalten Ort“, wie die Lapraki die neue Siedlung nennen. 600 Höhenmeter machen einen Unterschied im Himalaja. „In den Wintermonaten ist Schnee gefallen. Schnee.“ Die Art, wie Pradip das Wort wiederholt, lässt erahnen, was der Kälteeinbruch im Januar für die Menschen auf dem Hügel von Gupsipakha bedeutet hat. Aus Blech und Plastik zusammengeschusterte Häuser bieten nicht ausreichend Schutz vor dem rauen Klima.

Sechs Menschen sind im ersten Winter auf dem Hügel gestorben. Es gibt einen Arzt in Laprak, aber der war im Winter in Kathmandu, zur Fortbildung. Wie so oft in Nepal stammt der Arzt selbst nicht aus dem Dorf, in dem er praktiziert. Ausgebildete Mediziner tun häufig zwei, drei Jahre Dienst in den abgelegenen Dörfern Nepals. Danach bemühen sich viele um eine Versetzung in die Stadt.

„Alle Wasserleitungen waren eingefroren“, erzählt der Lehrer. „Jeden Tag mussten die Leute runter ins Tal, um Wasser zu holen.“ Aber auch in den wärmeren Monaten herrsche Wassermangel – eine Folge des Klimawandels, wie Studien über Nepal belegen.3 Zudem waren nach den beiden Erdbeben viele Quellen verstopft oder ausgetrocknet. „Noch einen Winter in den Hütten können wir nicht überstehen“, sagt Pradip, bevor er sich verabschiedet. Er habe vor Kurzem das größere Nachbardorf Barpak besucht. Dort haben einzelne Familien, deren Angehörige in der Stadt oder im Ausland arbeiten, angefangen neue Häuser zu bauen – mehrstöckige Villen aus Beton, die sie in leuchtenden Farben angestrichen haben.

***

Im Gupsy Rose Hotel duftet es nach Abendessen. Es gibt Spiegeleier auf gebackenen Weizenfladen und Gemüse. Nicht das übliche Gericht aus Reis und Linsen – das verbraucht zu viel Energie. Gas und Benzin sind im ganzen Land immer noch schwer zu bekommen, auch nach dem Ende der Grenzblockade im Süden. Sande stellt zur Feier des Tages Bier auf den Tisch. Wie sein Bruder Sudeep erklärt, gibt es tatsächlich etwas zu feiern: Demnächst kommt Nepals neue Staatspräsidentin Bidhya Devi Bhandari zu Besuch, um im neuen Laprak über den Aufbau eines Modelldorfs zu sprechen, das in den nächsten zwei Jahren entstehen soll.

Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Sudeep, der in Kathmandu Pharmazie studiert, ist unsicher, ob er nach dem Studium in Nepal bleiben wird. Auf jeden Fall hat er bessere Möglichkeiten als viele andere, die ohne Ausbildung das Land verlassen und unter schlimmen Bedingungen arbeiten und leben. Oft haben sie sogenannten Vermittlungs­agenten viel Geld bezahlt.4

Das Gupsy Rose Hotel auf dem Hügel aber wird geöffnet sein. Vielleicht mit einer Dependance im alten Dorf. „Wir freuen uns auf Besucher“, übersetzt Sudeep die Zeichensprache seines Bruders, „besonders über ausländische Touristen. Sie werden wiederkommen, weil Laprak auf dem Manaslu-Wanderweg liegt.“ Nepal sei ein beliebtes Reiseziel, „wegen der Berge und wegen der Menschen“, sagt er und lächelt.

1 Nach dem zweiten schweren Beben waren es landesweit insgesamt 8617 Todesopfer, siehe „Nepal Earth­quake facts and figures“, UN Dispatch, 19. Mai 2015.

2 Siehe „Deconstruction authority“, Nepali Times, vom 11. bis 17. März 2016.

3 Siehe Ajaya Dixit, „Climate Change in Nepal: Impacts and Adaptive Strategies“, World Resources Report, Washington, D. C.

4 Siehe Paul Clewett, „Refining Nepal: Internal Migration in a Post-Conflict, Post-Disaster Society“, 18. Juli 2015, Migration Policy Institute, Washington, D. C.

Johanna Fricke ist Ethnologin und freie Journalistin.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Johanna Fricke