07.07.2016

Brief aus Rom

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Brief aus Rom

von Stefano Liberti

Das ferne Zentrum FABIO FRUSTACI/ap
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Dass Zezé mal Fünf Sterne wählen würde, nein, das hätte er nie von sich gedacht: „Ich war in der Kommunistischen Partei und dann in all ihren Nachfolgeorganisationen, erst im PDS (Partito Democratico della Sinistra), dann bei den DS (Democratici di Sinistra) und jetzt im PD (Partito democratico). Aber ich konnte es einfach nicht mehr. Das sind alles Bürokraten geworden, sehr weit weg von den Bedürfnissen der Menschen.“ Der alte Genosse Zezé ist vom Glauben abgefallen und hat nun für die Bewegung von Beppe Grillo gestimmt. „Schauen wir einfach, was jetzt passiert. Vielleicht schaffen sie es ja, die heruntergekommenen Vorstädte wieder aufzumöbeln.“

Viale Giorgio Morandi, Tor Sapien­za (Torre bedeutet Turm; viele römische Vorstädte heißen nach Türmen, Anm. d. Ü.), am östlichen Rand von Rom. Hier sind die neu gewählte Bürgermeisterin Virginia Raggi und die Kandidaten des Movimento 5 Stelle (M5S), der Fünf-Sterne-Bewegung, einfach durchmarschiert, mit mehr als 70 Prozent der Stimmen. Ein spektakulärer Sieg, und das in den Hochburgen der Linken, in denen der kommunistische PCI und all seine Nachfolgeorganisationen seit 1976 ununterbrochen regiert haben.

Zezé lebt seit 40 Jahren im Viertel, seit sich die legendäre Stadtregierung unter dem Kunsthistoriker Giulio Carlo Argan an einem innovativen So­zial­wohnungsprogramm versuchte. Das Gebiet rund um den Viale Morandi sollte die Verwirklichung einer urbanistischen Utopie werden: eine Garten­stadt mit kompletter Infrastruktur, in der die Bewohner eine solidarische Gemeinschaft bilden.

Die Wohnblöcke liegen hufeisenförmig um einen grünen Innenhof, mit niedrigeren, für gemeinsame Aktivitäten bestimmten Gebäuden in der Mitte. Eine soziale Vorstadt, eine produktive borgata, sollte hier entstehen, die nicht abhängig vom Zentrum wäre, sondern auf revolutionäre Weise sich selbst genug. Doch nach dem Abschluss der Bauarbeiten wurde die Traumstadt mehr und mehr zum Albtraum. Rom überließ dieses und andere Projekte sich selbst. Es gab weder Geld für Sozialarbeit noch für öffentliche Verkehrsmittel, um das neue Viertel ans Zentrum anzubinden.

Heute herrscht hier nur noch Verwahrlosung. Der Garten ist verwildert, die öffentlichen Gebäude, als Sporthallen und Vereinsräume geplant, haben wohnungslose Familien besetzt. Geblieben ist nur die Lory Bar, wo Rentner wie Zezé den ganzen Tag sitzen und einen cafè corretto (Espresso mit Schuss) nach dem anderen trinken, während die Jugend an den Spielautomaten trainiert.

Die Lory Bar ist das Zentrum des Viertels. Hierher kam 2014 Roms Bürgermeister Ignazio Marino, um sich mit den Bewohnern auszutauschen. Dabei ging es vor allem darum, den von der Presse so genannten Unruhen von Tor Sapienza ein Ende zu setzen. Kurz darauf kam der Skandal namens „Mafia Capitale“ ans Licht, der die Kommunalpolitik endgültig in die Krise stürzte.

In jenem Jahr 2014, in den Tagen vor dem Besuch Marinos, schien eine gesichtslose Vorstadt zum Alabama Italiens geworden zu sein. Die Ankunft von 32 minderjährigen Asylbewerbern im Aufnahmezentrum am Viale Morandi brachte das Viertel an den Rand des Ausnahmezustands. Die jungen Migranten wurden zu Sündenböcken, an denen die Alteingesessenen ihre Wut über die mangelnde Infrastruktur und die Abwesenheit des Staats ausließen. Das Aufnahmezentrum wurde gestürmt, ein Feuer brach aus. Die Polizei griff ein, die Anwohner protestierten weiter.

Nach vier Tagen entschloss sich Marino einzugreifen und mit den Bürgern zu reden. Böse Zungen behaupten, er sei mehr als drei Stunden zu spät gekommen, weil er sich in dieser Gegend der Stadt nicht auskennt und sich verfahren habe. Gleich nach seinem Empfang zog er sich von Pfiffen und Beschimpfungen begleitet mit einer Delegation aus dem Viertel in die Lory Bar zurück. Ergebnis: Der Bürgermeister versprach eine häufigere Busverbindung ins Zentrum und regelmäßige Müllabfuhr. Dann stieg er wieder in sein Auto. Zwischen der Lory Bar und seinem Amtssitz auf dem Kapitol liegen nur 13 Kilometer – gefühlt sind es Lichtjahre.

Zezé erinnert sich noch lebhaft daran, wie seine Straße zum Mittelpunkt der Welt geworden zu sein schien, mit den ausländischen Fernsehsendern, dem Bürgermeister, den Flüchtlingen: „Sky hat direkt unter meinem Fenster gesendet.“ Aber dann wird er wieder ernst – und düster: „Es war nur ein Strohfeuer. Die Politik hat sich einen Tag sehen lassen, dann ist sie wieder abgetaucht. Und wir sind hier weiter uns selbst überlassen.“

Aus dem Abgehängtsein erwächst das Ressentiment und aus dem Ressentiment der enorme Erfolg des M5S. Hier an der Peripherie, in den Schlafstädten rund um die Stadtautobahn, wo etwa die Hälfte der Bevölkerung Roms wohnt, hat die Fünf-Sterne-Bewegung ihre größten Erfolge eingefahren. Und zwar zunächst einfach deswegen, weil sie nicht der PD ist. Die alte Mitte-links-Partei hat ihr Wahlvolk verraten und die Peripherie im Stich gelassen. Sie hat auf die Wohlhabenden gesetzt und deren Bedürfnisse nach einer sauberen Shoppingmetropole erfüllt. Folglich hat sie nur im Zentrum gewonnen und in zwei Nobelvierteln im Norden – in zwei von 15 Wahlbezirken.

Die Parabel von Tor Sapienza – und der ganzen östlichen Peripherie der Hauptstadt – besteht aus zwei sich widersprechenden und einander tragisch ergänzenden Geschichten: dem Desinteresse der Politik und dem Raubzug der Bauunternehmer.

In den letzten 25 Jahren (erst recht seit 2000) sind Wohnviertel ohne In­fra­struk­tur und ohne Anbindung ans Zentrum wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Mitte-links-Regierung hat den großen Immobilienfirmen ­Cartes ­blanches ausgestellt und eine riesige Immobilienblase entstehen lassen. Rom ist in die Hände von skrupellosen Spekulanten, gierigen Geschäftemachern und diversen Verbrechern geraten, die die Peripherie zu ihrem Beuteparadies erkoren haben. In diesem „Far East“ bestimmen sie die Regeln, während eine ignorante Stadtregierung sich um die innerstädtischen Fußgängerzonen an den Fori imperiali oder rund ums Kolosseum kümmert und ansonsten planlos mit Baugenehmigungen um sich wirft.

„Wenn das Kolosseum das Paradies ist, dann sind wir hier im letzten Kreis der Hölle“, sagt Zezé. Die danteske Metapher trifft die Sache gut: Es gibt keinen U-Bahn-Anschluss, und die Busse kommen nur alle Jubeljahre – vor allem um weiterzufahren, Richtung Megamall im Osten, dem größten Einkaufszentrum Europas. Wenn die Jugendlichen mal ein Auto haben, um ins Zentrum innerhalb der Stadtmauern zu fahren, sagen sie: „Heute fahren wir nach Rom.“

Die Isolierung der Vorstädte ist das Resultat von konkreten politischen Entscheidungen. Dahinter steckt die Vorstellung von einer in konzentrischen Kreisen angelegten Stadt, mit den Reichen im Zentrum und Stück für Stück weiter entfernt die immer Ärmeren. Jeder Begegnung zwischen den Klassen wird so ein Riegel vorgeschoben.

Wenig öffentlicher Nahverkehr, keine öffentlichen Dienstleistungen, Straßen, die kaum dazu einladen, sich auf den Weg zu machen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Alle in den letzten Jahren neu entstandenen Stadtviertel folgen diesem Konzept. Die Planung von Ponte di Nona, einem Viertel noch weiter im Osten als Tor Sapienza, wurde von vornherein den Immobilienentwicklern überlassen. Die Hauptverkehrsader heißt Viale Francesco Gae­ta­no Caltagirone, dem Spekulanten zu Ehren, der das Schlafghetto hochgezogen hat. Weil sie sich so abgeschnitten fühlen, haben die Bewohner selbst eine Verbindungsstraße angelegt, im römischen Dialekt ironisch „Via Mejo De Niente“ getauft (Besser-als-gar-nichts-Straße).

Die östliche Peripherie ist die Müllhalde der Stadt. Hier haben die Mitte-links-Regierungen alle Probleme entsorgt. Hier sind die Lager der Roma und die Asylbewerberheime, ein explosiver Melting Pot aus Armut und Exklusion, der sich gelegentlich in Protesten der Intoleranz entlädt wie 2014 im Via­le Morandi.

Virginia Raggi, Roms neue und erste Bürgermeisterin, wohnt auch in der Peripherie, aber im weniger problematischen Westen. Sie ist das Symbol für den Wandel, deswegen hat sie so große Zustimmung bekommen. Es war eine Wahl aus Verzweiflung, ein Antivotum, eine Protestwahl. Das sagen zumindest die politischen Analysen. Begeisterung kommt jedenfalls nicht auf: In all den Vierteln, in denen Raggi gewonnen hat, sieht man kein Siegeszeichen, keine Fahne des M5S, nicht einmal Slogans auf den Hauswänden.

„Wir warten mal ab. Aber erst mal haben wir eine Veränderung erzwungen, und das ist für sich allein schon gut“, sagt Zezé, der alte Genosse, der nie gedacht hätte, dass er im Alter noch mal vom Glauben abfallen und M5S wählen würde. So ganz überzeugt wirkt er dabei allerdings nicht.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

Stefano Liberti ist freier Journalist in Rom und Autor von „Landraub. Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus“, Berlin (Rotbuch) 2012. Er twittert unter @abutiago.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.07.2016, von Stefano Liberti