12.05.2016

Mehr Spielraum für Rohani

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Mehr Spielraum für Rohani

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Die hohe Wahlbeteiligung, die beim ers­- ten Wahlgang am 26. Februar 62 Prozent und bei der Stichwahl am 29. April 59 Prozent betrug, wird die Mächtigen im Iran freuen. Denn in ihren Augen zeigt sich darin, dass die Protestbewegung von 2009 Geschichte ist. Schließlich hatte auch ein Mann wie der in Ungnade gefallene reformorientierte Expräsident Mohammed Chatami (1997–2005) im Internet seine Unterstützung für die gemäßigten Konservativen geäußert. Zwar hatte ein Gericht den Medien untersagt, ihn zu erwähnen, aber er erhielt eine unerwartete Würdigung durch Präsident Hassan Rohani, der kurz nach dem ersten Wahlgang Chatamis Heimatstadt Yazd besuchte: „Der heldenhafte Iran wird seine Diener nie vergessen. Niemand kann ihre Namen zum Verschwinden bringen“, erklärte Rohani laut AFP-Meldung vom 7. März 2016.

Noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass Mir Hossein Mussawi und Mehdi Kar­roubi, Kandidaten der Präsidentschaftswahl von 2009, die damals Mahmud Ahmadinedschad unterlagen, ihre Stimme abgaben. Seit der Anfechtung der Wahlergebnisse von 2009 und den darauffolgenden Repressalien gelten beide Würdenträger als geächtet und stehen seit 2011 unter Hausarrest. Vor der Wahl hat der Oberste Führer dem iranischen Volk die Botschaft vermittelt: „Geht wählen, auch wenn ihr das politische System des Irans nicht unterstützt. Geht wählen und stärkt damit die Sicherheit und das Ansehen unseres Landes und seines Volkes.“

Das Bündnis zwischen Reformern und Gemäßigten wurde durch den Wahlsieg vieler unabhängiger Abgeordneter noch gestärkt. Allerdings ist diese Allianz kein Garant für eine dauerhafte Versöhnung zwischen Reformern und Gemäßigten. Präsident Rohani bekommt mit der Politik der Öffnung mehr Spielraum, um seine Ziele zu verwirklichen. Aber dafür muss er sich immer noch mit den verschiedenen Strömungen im Parlament einigen. Und er muss auf die religiösen, kulturellen und sozialen Werte der Gesellschaft Rücksicht nehmen.

Mit seiner Kritik an der „neuen Verwestlichung“ und an denen, die „unfreiwillig dem Weg der Konterrevolution folgen“, hat der Kommandeur der Revolutionsgarden, General Mohammed Ali Dschafari, die Begeisterung all jener gedämpft, die nach dem Atomabkommen auf eine Ära der Verständigung und Versöhnung im Land hofften. Präsident Rohani hat indirekt darauf geantwortet, indem er das „radikale Denken“ kritisierte und das „gemäßigte Denken“ verteidigte: „Wir müssen mit der Welt sprechen und gleichzeitig versuchen, autark zu werden“, erklärte er laut AFP vom 7. April.

Vorerst stehen die früheren Präsidentschaftskandidaten weiter unter Hausarrest, obwohl keine offizielle Anklage gegen sie erhoben wurde. Das neue Klima hat Karroubi jedoch ermutigt, zwischen den Wahlgängen an den Präsidenten zu schreiben. In seinem offenen Brief bat er darum, vor Gericht gestellt zu werden, um öffentlich zu beweisen, dass es bei der Wahl von 2009 Wahlbetrug gab. Die Aussichten, dass Rohani seine Rehabilitierung durchsetzen könne, hielt er allerdings für gering, denn das wäre eine Schwächung der Ultrakonservativen.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2016