12.05.2016

Graffiti toter Gangster

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Graffiti toter Gangster

Geschichten aus dem ärmsten Bezirk von San Pedro Sula, der Industriehauptstadt von Honduras

von Juan José Martínez d´Aubuisson

Eric Keller, Freizeittreff, 2011, Öl auf MDF, 130 x 190 cm
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Wie viele junge Männer aus San Pedro Sula hatte Melvin Clavel sein Glück im nächstgelegenen Hafen gesucht. In Puerto Cortés heuerte er mal auf dem einen, mal auf dem anderen Fischtrawler an und erntete, was er dem Ozean entreißen konnte. Schließlich konnte er dem Auf und Ab des Meeres den Rücken kehren und sich wieder auf festem Boden ansiedeln, an dem Ort, wo er aufgewachsen war, im Viertel Sinaí, mitten in dem riesigen Stadtbezirk, der Rivera Hernández genannt wird. Das war im Jahr 2010 und in der gefährlichsten Gegend von San Pedro Sula. Das Meer hatte Melvin belohnt.

Nach Jahren harter Arbeit an Bord der schwimmenden Fischfabriken hatte er genug Geld beisammen, um sich ein großes Haus bauen und eine Familie gründen zu können. Er wurde zum vielleicht reichsten Mann in Sinaí, mitten in dieser Wüste des Elends. Nach all den Opfern, die er gebracht hatte, konnte er im Vorderzimmer seines neuen Hauses sogar eine Pulpería eröffnen. So bezeichnet man in Honduras Gemischtwarenläden, die ein ganz unterschiedliches Sortiment führen und auch unterschiedlich groß sein können.

Melvins Laden war riesig. Er ließ an der Fassade einen langen Sims aus Zement bauen, in dem Gitterstäbe verankert waren, darin eingelassen eine Art Schalter, wo er die Kunden bediente. Dann kamen die Pakete mit Butter, die Süßigkeiten, die Gasflaschen und Coca-Cola-Kästen, alles, was nötig war, um die Pulpería zum besten Geschäft in der Gegend zu machen.

Melvin Clavel wusste, wo er lebte, er kannte das gewalttätige Ökosystem seines Viertels, ja des ganzen Bezirks. Er kaufte sich ein Gewehr, Kaliber 12, und eine Pistole. Er war nicht gewillt, sich von anderen nehmen zu lassen, was er sich auf dem Meer erworben hatte.

In Sinaí herrschte eine Bande, Los Ponces, eine Gaunerfamilie, die tat, was alle Banden in dieser Gegend tun: Terrain gewinnen, bis aufs Blut mit den Nachbargangs kämpfen und von den Einwohnern ihres Gebiets Tribut verlangen, den sie treffend als Kriegszoll bezeichneten. Melvin war mit dem Anführer der Gruppe, Cristian Ponce, aufgewachsen. Jahrelang waren sie Nachbarn gewesen, ihre Mütter kannten sich.

Doch Melvins plötzlicher Wohlstand weckte den Neid der Ponces. Nach zwei Jahren kam ein Junge und sagte Melvin, er müsse Kriegszoll zahlen wie alle anderen Geschäftsleute im Viertel, wenn er sich weigere, werde man ihn töten. Melvin wurde wütend und warf den Jungen mit vorgehaltener Flinte aus der Pulpería. Die Polizei war nie eine Option für Melvin, er vertraute lieber seinen Waffen.

Sie erschossen ihn von hinten, Ende 2012, als er gerade eine Packung Schmalz aus dem Regal holte. Vor den Augen seiner Töchter rang er eine Weile mit dem Tod. Als Killer hatte Cristian einen Jungen namens Cleaford ausgewählt, den Melvin nicht mit der Bande in Verbindung brachte und der sich seinem Opfer hatte nähern können, ohne Argwohn zu erregen. Noch in derselben Nacht brachen Cristian Ponce und seine Bande in Melvins Pulpería ein und schnappten sich ihre Kriegsbeute: Süßigkeiten, Gasflaschen und Kästen mit Coca-Cola. Nachdem sie alle Waren weggeschafft hatten, gingen sie zu den Möbeln über, den Kleidern, dem Fernseher. Das Haus wurde völlig leer geräumt. Aber das war den Ponces nicht genug, wie ein Wirbelsturm rissen sie die Zim­mer­decken herunter, zertrümmerten die Kloschüsseln, Türrahmen, Kacheln, Lampen.

Ein paar Monate später machte Cristian das Haus zum Hauptquartier der Ponces. Von dort aus bekriegten sie die Nachbargangs, die Vatos Locos, die Barrio Pobre 16, die Tercereños, die Mara Salvatrucha 13 und die gefürchteten Barrio 18, die brutalste Bande von Rivera Hernández.

***

In den 1970ern waren da, wo heute ein Labyrinth dunkler Gässchen, ungepflasterter Straßen und mickriger Häuschen steht, saftige Zuckerrohrfelder und riesige Viehweiden. An dem Tag, als Don José Caballero ermordet wurde, hatte er auf einer Versammlung mit den anderen Wortführern von Rivera Hernández über die Notwendigkeit eines Gemeindefriedhofs diskutiert. Caballero hatte zusammen mit ihnen dieses Land in Besitz genommen, wie es damals üblich war: Er hatte eine Gruppe obdachloser Menschen um sich gescharrt, von denen es damals nach dem Hurrikan „Fifí“ zahllose gab, und nachts die leeren Grundstücke besetzt, ein Lager errichtet und abgewartet, ob sich ein wichtiger Großgrundbesitzer als Eigentümer meldete. Wenn alles gut ging und das Land dem Staat gehörte, konnte man Verhandlungen aufnehmen, den Verkauf der Parzellen organisieren und sich vom Erlös natürlich eine gehörige Scheibe abschneiden.

An dem besagten Tag machte José Caballero einen Vorschlag: Der Friedhof solle den Namen des ersten Toten tragen, der auf ihm beerdigt werde. Alle waren einverstanden. Nach der Versammlung trat ein Mann auf Don José zu und verlangte sein Geld zurück, weil auf dem Grund, für den er bezahlt hatte, bereits eine andere Familie lebte. Don José weigerte sich, und nun trägt der Friedhof seinen Namen.

Fast keiner der Gründer von Rivera Hernández hat überlebt. Don Salomón, der José Caballero als Gemeindevorstand nachfolgte, wurde mit Machetenhieben ermordet, der Mörder war Don Andrés, inzwischen ein gebrechlicher Greis, der über die fünf Schüsse klagt, die Salomón ihm vor über dreißig Jahren verpasst hatte, bevor Andrés ihn mit seiner stumpfen Machete umbrachte.

Etliche Jahre zuvor war auf den Stufen zum Justizgebäude von San Pedro Sula auch Carlos Rivera ermordet worden, der erste Gemeindevorstand der Vorstadt. Ihm zu Ehren gab man dem Bezirk seinen Namen. Der andere Name, Hernández, stammt von einem der ersten Eigentümer der besetzten Grundstücke.

An die tödlichen Gründerjahre, in denen der Kleinkrieg um Parzellen tobte, auf denen gerade einmal Platz für ein Zelt war, erinnert sich auch Juan Ramón, ein dunkelhäutiger kleiner Herr, seit dreißig Jahren evangelikaler Pastor. Er lebt in einem wackligen Häuschen, auf dessen Dach alle paar Minuten eine dicke reife Mango knallt. Seine Frau macht Tortillas und kocht rote Bohnen auf einem Holzofen, der die Ecken mit Rauch füllt. Juan Ramón erzählt bereitwillig von all denen, die er bei den Gründungen der einzelnen Viertel von Rivera Hernández hat sterben sehen. Er hat sie alle gekannt, und wenn er von einem Ermordeten erzählt, weiß er am Ende auch, wo sein Mörder heute lebt – falls er nicht ebenfalls ermordet wurde.

Es sind die Enkel dieser Männer, die auch heute um das Gleiche kämpfen: um Land. Wie ihre Vorfahren begießen die Gangmitglieder tagtäglich dieses elende Viertel mit ihrem Blut, um ihr Terrain unter ihrer Kontrolle zu halten.

Zwei Monate, nachdem das erste Zeltlager errichtet worden war, traf eine weitere Gruppe ein, kurz darauf noch eine, magisch angezogen von dem freien Land. So kam eine Siedlung zur anderen, mit der Zeit wurden Stadtviertel daraus. Eine Siedlung wurde „Celio González“ getauft, zu Ehren des amtierenden Präsidenten, in der Hoffnung, dieser möge sich geschmeichelt fühlen und nicht zulassen, dass man die Leute von staatlichem Grund und Boden vertrieb. Ein anderer Verband nannte sich „Asentamientos Humanos“, „Menschensiedlungen“, in Anlehnung an die „Menschenrechte“, um den Behörden in Erinnerung zu rufen, dass es sich hier um menschliche Wesen handelte, und sie davon abzuhalten, die Siedler wie eine Plage zu vertreiben. Beide Gruppen erreichten ihr Ziel, die Zeltlager wuchsen zu großen Vierteln an, die es wegen der Bandenkriege zu trauriger Berühmtheit in San Pedro Sula gebracht haben.

Rivera Hernández war seit jeher ein Synonym für Gewalttätigkeit. Die Menschen lebten dort eng zusammengedrängt unter größten Entbehrungen, und das wenige, was es gab, musste man sich mit der Machete erkämpfen. Manche wurden bei kleinen Streitereien getötet oder verletzt. Auf dem Friedhof liegen junge Männer und Frauen, die von ihren Nachbarn ermordet wurden. Es war eine Gewalt Mann gegen Mann, keine Organisation, keine große Gruppen, höchstens Familien, die wegen früherer Bluttaten zerstritten waren.

Die erste Gang im Bezirk war Barrio Pobre XVI, sie entstand Ende der 1980er Jahre, gegründet von Leuten, die als Straffällige aus den USA in ihre Herkunftsländer abgeschoben worden waren. Barrio Pobre XVI war ursprünglich nämlich eine Latinogang in Südkalifornien namens Barrio Pobre 13. Aber in San Pedro Sula wollte man sich von der Mara Salavatrucha 13 und auch von der Mara Barrio 18 abgrenzen, und so wählten sie eine Ziffer dazwischen.

Barrio Pobre XVI war für die jungen Männer der Gegend eine Offenbarung. Die Jungs aus den USA waren tätowiert, sprachen Englisch, trugen Gangsterklamotten von „drüben“, kurzum, sie waren der Inbegriff des Modernen. Einer von ihnen baute in San Pedro Sula binnen weniger Jahre eine Bande von Killern und Erpressern auf, die bald den Bezirk Rivera Hernández beherrschte. Man nannte ihn „El Yankee“. Ein dunkler, kräftiger Typ, dessen Name heute auf einer Mauer steht, daneben ein Grab aufgesprüht und die Worte „en memoria“, gefolgt von der Signatur seiner Bande: BP XVI.

Die Geschichten der Gangs werden selten aufgeschrieben, die Mitglieder tätowieren sich ihre Erinnerungen auf den Körper und nehmen sie mit ins Grab. Manchmal schmücken sie die Hauswände damit, die – wie die Stelen der Maya – der Geschichtsschreibung dienen. Der Name El Yankee wurde Jahre später mit schwarzer Farbe durchgestrichen und neben das „BP XVI“ ein riesiges „MS X3“ gesetzt. Die ursprüngliche kleine Gang hatte dem Ansturm der beiden größten Banden Amerikas, der Salvatrucha 13 und Barrio 18, nicht standgehalten. El Yankee war zu Hause, vor den Augen seiner Familie, von Kugeln durchsiebt gestorben.

***

Anfang 2013 waren von Melvin Clavels Haus nur noch Dach, Fußboden und zementgraue Wände übrig. Wo Regale mit Süßigkeiten gestanden hatten, war nur noch Müll zu sehen und ein getrockneter Blutfleck. Auch die Bande, die ihr Quartier hier aufgeschlagen hatte, sollte ein trauriges Ende nehmen. Ihr Anführer Cristian Ponce wurde von den Olanchanos, einer Truppe von angsteinflößenden Narcos und Killern, umgebracht. Verraten hat Cristian Ponce sein jüngerer Bruder, der danach als Illegaler in die USA floh. Die übrig gebliebenen Ponces brachten sich nach und nach gegenseitig um. Nach Cristians Tod traute keiner keinem, jeder war ständig auf der Hut.

Außerdem hatten zu dem Zeitpunkt andere Gangs ein Auge auf das Sinaí-Viertel geworfen. Zum einen belauerte es die Mara Salvatrucha 13, die vermutlich größte Bande in Rivera Hernández, zum anderen die Olanchanos. Zwei Blocks weiter wetzten die Vatos Locos ihre Macheten. Hinzu kamen die beiden kleineren Banden der Par­queros und der Tercereños und – einen knappen Kilometer entfernt – die brutalste Gang weit und breit: Barrio 18.

Das war zu viel für die Ponces. Nachdem einige von ihnen zur Mara Salvatrucha 13 übergelaufen waren, blieben nur vier Jungs übrig, die das Viertel noch anderthalb Jahre kontrollierten. Im Januar 2014 hatten sie den Kriegszoll noch einmal angehoben, sie nahmen die Leute hemmungslos aus und folgten der Logik, die Cristian ihnen beigebracht hatte: Wer nicht zahlt, stirbt.

Ein Opfer war die Familie Argeñal, die einen kleinen Laden hatte. Der Zoll war inzwischen unbezahlbar, die Argeñals versuchten zu verhandeln. Aber sie hatten keine Chance, die Ponces entführten die dreizehnjährige Tochter der Familie. Die Polizei unternahm einen zaghaften Versuch, sie aufzuspüren, durchsuchte ein paar Häuser und ließ die Mutter dann allein an Türen klopfen und um ihre Andrea Abigaíl flehen. Die Ponces hielten sie mehrere Tage lang gefangen, dann vergewaltigten und zerstückelten sie das Mädchen und vergruben es im Hof von Melvin Clavels Haus. Während sie das taten, soll einer von ihnen ihre Mutter angerufen haben, damit sie die Schreie und Machetenhiebe hörte.

Mit dieser Tat unterschrieb die Gang ihren eigenen Totenschein. Die Olanchanos ärgerten sich über die große Aufmerksamkeit von Medien und Polizei, schnappten sich zwei der verbliebenen Ponces, folterten und töteten sie. Einer tauchte in einem Sack am Straßenrand auf, den anderen fand ein Bauer unter der Erde. Einen weiteren tötete die Mara Salvatrucha 13 mitsamt seiner Familie. Nur ein Ponce lebt noch in der Gemeinde.

Längst will niemand mehr in den ehemaligen Häusern der Ponces leben. In den Ritzen wächst das Unkraut, kein Dach, keine Türen, an den Wänden die Graffiti toter Gangster, am Boden grünliche Pfützen, über denen die Mücken schwärmen, eine Brutstätte für das Chikungunyafieber, die große Plage der Region.

Melvin Clavels alte Pulpería jedoch hat wieder einen Bewohner gefunden. Während in Rivera Hernández sechs Gangs einander erbittert bekämpften, hat eine andere Macht stillschweigend das Clavel-Haus in Besitz genommen. Sie trägt den Namen Daniel Pacheco. Kaum hatte er seinen Anspruch erhoben, zogen sich die sechs „Heere“ zurück.

***

Aus einem Haus mit Eisentor tritt „El Polache“, gefolgt von „El Colocho“ und „El Gato“. Sie sehen uns misstrauisch an und umstellen uns. Wir sind schließlich ein sehr seltsames, exotisches Grüppchen: ein salvadorianischer Ethnologe und ein Zeichner aus der Hauptstadt Tegucigalpa und Daniel Pacheco, der uns hierher begleitet hat.

Die Jungs sind Mitglieder der Mara Salva­trucha, und ihre Mission ist eindeutig: ihr Territorium kontrollieren und gegen andere eindringende Gangs verteidigen. Plötzlich erscheint ein schlacksiger, dunkelhäutiger junger Mann. Man nennt ihn „El Calaca“, den Knochenmann. Er ist der König des Elends, stellt uns ein paar Fragen. Aber unsere Versuche, sie zu beantworten, sind hilflos, wie aus einer anderen Welt. Da ergreift Daniel Pacheco das Wort. Die Wogen glätten sich, und die Jungs bitten uns ins Haus.

Daniel Pacheco ist ein evangelikaler Pastor, wie schon sein Vater. Prediger wie er sind in Rivera Hernández die einzigen Respektpersonen außerhalb der Gangs. Sie sind heilige Männer, bei denen die Leute Hilfe suchen, wenn sie für ihre Kinder nichts mehr zu essen haben oder eine Gang jemanden aus der Familie entführt hat – eine Folge davon, dass es hier weder staatliche Institutionen noch Hilfsorganisationen gibt, an die man sich wenden könnte.

Prediger gibt es viele, ebenso kleine Kirchen. Fast eine pro Straße. Doch wirklich verehrt werden nur sehr wenige. Prediger stehen ständig unter Beobachtung. Ein guter Pastor muss seiner Frau treu sein, er darf sich kein Geld leihen und schon gar nicht im Laden an der Ecke mit den anderen Männern eine Zigarette rauchen oder Geldprobleme haben. Nur wenn er all diesen Ansprüchen genügt, wird er zum heiligen Mann. Nur dann schenken ihm die Leute absolutes Vertrauen.

Meistens geben heilige Männer ihren Status an ihre Söhne weiter, die sie von klein auf in der Kunst des Predigens und der Läuterung unterrichten, und so entstehen kleine Pastorendynastien. Daniel Pacheco ist Sohn und Enkel solcher Volksprediger, und so wie er unterrichtet wurde, unterrichtet auch er seine Söhne. Pacheco ist jedoch etwas Besonderes innerhalb der kleinen Gruppe der Heiligen: Er spricht und verhandelt mit den sechs Gangs und ihren Heeren, die Rivera Hernández regieren.

Im Haus ruft der Pastor den Jungs in Erinnerung, wie er sie einmal aus dem Gefängnis geholt und sich bei den Behörden für sie eingesetzt hat. Und dass er Zuich und Stark, die lokalen Feldherren der Mara Salvatrucha, von klein auf kennt. Die Jungs nicken respektvoll. Wir bieten ihnen die Schachtel Huhn mit Reis an, die wir im chinesischen Restaurant um die Ecke gekauft haben. Die Jungs halten sich erst zurück wie argwöhnische Tiere, aber der Pastor ermuntert sie: „Na los, esst, lasst es euch schmecken! Wer weiß, wie viele Tage ihr schon Hunger schiebt!“ Die jungen Männer bekommen oft nichts zu essen, weil sie in der Hierarchie der Gang weit unten stehen. Manchmal schieben sie den ganzen Tag über Wache, ohne etwas zu essen. Daniel Pacheco bringt ihnen öfter was vorbei.

Die jungen Killer werden lockerer, erzählen vom Krieg gegen die anderen fünf Banden und vom „Verrat der Ponces“, und wie sie sie ausgeschaltet haben, wie sie Schüsse, Messerstiche und Machetenhiebe überlebt haben.

***

Pastor Pacheco schleust uns in das Terrain des Barrio 18 ein, berüchtigt wegen zahlreicher Morde und der straffen Kontrolle über Bewohner ihres Gebietes. Wir fahren mit seinem Wagen, der mit Evangelien und Musikinstrumenten für den Nachtgottesdienst beladen ist, ins Kitur-Viertel, im Herzen des 18er-Territoriums. El Malvado, der örtliche Anführer des Barrio-18-Heers, gibt Pacheco via Handy die Anweisung, die Schweinwerfer auszuschalten und langsam mit Warnblinklicht zu fahren.

Anhaltender Nieselregen hat den Weg aufgeweicht. Der Pastor sagt uns jedes Mal, wann wir wieder eine der imaginären Grenzen überqueren, die die Gang mit Blut und Kugeln markiert hat. Der Regen wird immer stärker, die lehmigen Wege sind zu kleinen Bächen geworden. Niemand ist auf der Straße, in kaum einem Haus ist Licht, ein ausgemergeltes Pferd trottet vor uns her, die Hufe tief im Wasser.

Dann weist uns ein fernes Licht auf einem Hang die Richtung. Das ist das Zeichen der 18er. Das Licht wechselt seinen Standort und am Ende eines Gässchens erwartet uns endlich eine Gruppe dunkler Schatten. Einer von ihnen ist El Malvado. Er trägt ein durchgeknöpftes Hemd, weite Hosen und Nike-Cortez-Schuhe, das typische Outfit der hiesigen Gangster. Sein Schädel ist rasiert, und er hat, obwohl es stockfinstere Nacht ist, eine Sonnenbrille über der Glatze. Am Gürtel hat er eine Pistole und in der Hand, wie eine Verlängerung seines Körpers, das Handy.

El Malvado herrscht über mehrere Viertel in Rivera Hernández, von Ciudad Planeta bis zu einem Stück Asentamientos Humanos. Er ist von mindestens acht Jungs umringt, die schnell das Interesse an uns verlieren und sich damit beschäftigen, andere Bandenmitglieder anzurufen und ihren „Vorposten“ und „Spähern“ Anweisungen zu geben. Keiner von ihnen ist älter als zwanzig.

El Malvado spricht wenig, er sondert Phrasen ab wie: „Wir 18er sind anständig, ehrlich, respektvoll“, und erklärt dann, dass er alles achte, was von Gott kommt. Nach kurzer Unterhaltung verlangt er, dass wir mit ihm woandershin fahren, und ohne eine Antwort abzuwarten, setzt er sich auf den Beifahrersitz unseres Pick-ups.

„Sagt unten Bescheid, dass ich vorbeikomme“, weist er jemanden per Handy an, während wir wieder durch diese Teichlandschaft schlingern. Er spricht über die stressige Verantwortung für so viele Leute. „Das ist wie bei einem Flugzeug . . . wenn der Pilot einschläft, stürzt es ab.“ Keine fünf Minuten vergehen, ohne dass El Malvado angerufen wird oder wen anruft. „Hmm . . ., haltet die weiße Karre an, die rüber in den Roten fährt. Die gehört nicht hierher“, sagt er, nachdem er kurz am Handy gelauscht hat.

Wir setzen ihn an derselben Stelle ab, wo wir ihn aufgegabelt haben. Wir können unbesorgt durch ihr Gebiet fahren, erklärt er noch, alle 18er in Rivera Hernández wissen, dass wir hier sind.

Im Morgengrauen gibt es dann schlechte Nachrichten für El Malvado. Die Polizei hat vier Bandenmitglieder geschnappt und hält sie auf der Wache fest. Davor wartet eine Gruppe Menschen, zumeist jammernde Frauen. Eine klagt unausgesetzt: „Ich habe ihn nur losgeschickt, den Teig holen, er war doch schon zu Hause.“

Die Verhafteten kommen aus der Wache. Vier Jungs, noch keine 17 Jahre alt. Alle senken den Blick, als sie ihre Mütter sehen. Einer ist 14, wirkt aber noch jünger, er hat große, seltsam blasse Augen. In seinem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab, er scheint die Aufmerksamkeit zu genießen. Der Polizeitransporter fährt vor, um die Ladung Gangster zum Untersuchungsgericht von San Pedro Sula zu bringen. Kurz vor dem Abschied verliert der Älteste der Jungs seine Coolness, ruft nach seiner Mutter, umarmt sie, und beide weinen bitterlich.

Den Verhafteten werden illegaler Waffenbesitz, Drogenhandel und Mitführung unrechtmäßig erworbenen Geldes vorgeworfen. El Malvado erklärt, die Festnahmen seien nicht schlimm, die Jungs seien bloß Vorposten, der niedrigste Rang in der Ganghierarchie.

Später besuchen wir El Malvados Feinde. Wir fahren zur Grenze des Sinaí-Viertels, wo uns Mitglieder der Mara Salvatrucha erwarten. Ihre Stimmung ist gut, weil gerade ein Junge aus dem Krankenhaus gekommen ist, den sie schon aufgegeben hatten. Sie nennen ihn „Bocha“, sein Name stand bereits – als Todesanzeige – auf einer der Mauern im Viertel. Auf Bochas Brust sieht man mehrere Pflaster und einen senkrechten Schnitt, den ihm die Ärzte im öffentlichen Krankenhaus verpasst haben, ohne jeden ästhetischen Anspruch. El Malvados Leute hatten auf ihn gefeuert, weil er in ihr Territorium vorgedrungen war. Bocha war unbewaffnet gewesen und hatte es noch bis zur Polizeiwache geschafft, wo die Polizisten ihn widerwillig auf die Bahre eines Streifenwagens legten und ins Krankenhaus fuhren. Der Tat nachzugehen, haben sie offenbar nie erwogen. „Aber ich hab die Schweine gesehen, bei der nächsten Schießerei werden die was erleben . . .“, sagt Bocha wutschnaubend.

El Calaca wurde ein paar Wochen später umgebracht. Auch Bocha bekam seine Rache nicht, er wurde ein paar Tage nach El Calaca von Jungs der Barrio 18 getötet.

***

Melvin Clavels Haus sieht im Jahr 2015 ganz anders aus. Zumindest von außen. Pastor Daniel Pacheco hat seinen spärlichen Lohn zusammengekratzt, um Farbe zu kaufen. Zusammen mit jungen Leuten seiner Kirche hat er es an einem Sonntagnachmittag neu angestrichen. Auf eine der Wände ist eine Gestalt gemalt: ein römischer Gladiator, der nur mit viel Fantasie zu erkennen ist. Gemalt hat ihn „der beste Maler von Rivera Hernández“, ein Säufer aus dem Viertel, der zu viele Lösungsmitteldämpfe eingeatmet hat. Er malte ein bisschen und schnüffelte noch mehr, deshalb dauerte es mehrere Tage, bis sein Gladia­tor fertig war.

Im Haus sind die Blutflecken beseitigt, die der sterbende Melvin hinterlassen hat. Der Pastor und seine Leute haben den Müll weggebracht, Blumen gepflanzt und leere Schnapsflaschen, Zigarettenkippen, zerrissene Frauenkleider, rostige Macheten weggeschafft. Der Pastor hat auch ein Planschbecken für die Kinder anlegen lassen. Abends trifft man sich zum Fußballspielen, und sonntags werden Piñatas aufgehängt und Spiele für die Kleinen veranstaltet.

An anderen Tagen füllt sich das Haus mit Gläubigen, die es mit ihren Gesängen und turbulenten Gottesdiensten beleben. Das Sinaí-Viertel hat noch nie etwas gehabt, was so sehr einem Gemeindezentrum gleicht. Eine Oase des Friedens in Rivera Hernández.

***

Die Leute hier sind freundlich. Sie bitten einen ins Haus, wenn man davorsteht. Eine einzige Frage genügt, und sie plaudern den ganzen Nachmittag mit einem Fremden und erzählen ihr Leben. Und das ihrer Geschwister und ihrer Vettern und Kusinen. Die Leute sprechen schnell und mit dem leichten karibischen Akzent der Küstenbewohner. Sie bieten dem Fremden ihr Essen und ihr Dach an – das Einzige, was sie haben.

Der Staat tritt im Sinaí-Viertel höchstens in Gestalt eines Trupps Polizisten oder Soldaten in Erscheinung – oder wenn die Mücken ausgeräuchert werden, die ansteckende Krankheiten verbreiten – und ganz gelegentlich auch in Schulen, die von den Gangs verseucht sind.

Aus dem Spanischen von Susanne Lange

Juan José Martínez d’Aubuisson ist Ethnologe und Autor in San Salvador. Diese Reportage entstand als Gemeinschaftsprojekt der Stiftung InSight Crime (Medellín, Kolumbien, und Washington, USA) und der Onlinezeitungen El Faro (Salvador) und Revistazo (Honduras), erschienen am 10. Dezember 2015 auf ElFaro.net

© Für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.05.2016, von Juan José Martínez d´Aubuisson