Reden in Zeiten der Verrohung
von Kathrin Röggla
Österreich hat gewählt, und Europa reibt sich erneut die Augen: Mit einem derartigen Missverhältnis zwischen den beiden Hauptkandidaten sei nicht zu rechnen gewesen. Sicher, alle Welt sprach noch eine Woche vor der Wahl in Wien von der zu erwartenden Stichwahl der beiden Kandidaten Hofer und Van der Bellen, das war praktisch ausgemacht, und jetzt haben wir 35 Prozent für jemanden, der Österreich mehr negieren als repräsentieren kann. Ein Rechtspopulist, der gern mal schießen geht und dessen Hauptversprechen wohl darin liegt, als ersten Akt das Parlament aufzulösen? Das muss man mir Exilösterreicherin erst einmal erklären. Wie gut, dass ich mich just auf einer Konferenz der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung in einer Stadt befinde, die es allen leicht macht, zu glauben, man wäre im eigenen Bundesland.
Kassel ist das geografische Zentrum Deutschlands, beinahe – wie man immer in Deutschland hinzufügen muss –, mit jener bestechenden Form von freundlicher Nachkriegsnichtidentität, die sogar die Bahnbaustellen der Anreise vergessen lässt. Wie gut, dass wir uns da in einem Kreuzschifffahrtsambiente eines der großen Konferenzhotels dort wiederfinden, gefühlte 400 Teilnehmer und Referentinnen, denen die irrwitzige Innenausstattung erstaunlicherweise das Gefühl zu geben scheint, so meint zumindest mein Tischnachbar, endlich mal einen Raum zu haben, um gemeinsam in Ruhe nachzudenken.
Fern von den Behinderungen des Alltags geht es um die Strategien und Rhetoriken des Rechtspopulismus, das Phänomen des Wutbürgertums und der Islamophobie. Kein Surenpingpong hier und kein Patentrezept dort ist immer wieder zu hören, keine Pauschalantwort den Pauschalisierern! Hier sind alle schon etwas weiter mit ihrer Basisarbeit der politischen Bildung in den zahlreichen Vereinen und Gruppierungen, die Deutschland zu bieten hat, in den Halb- und Vollinstitutionen, den Sport- und Schulverbänden, in Bundeswehrnähe oder auf Sozialarbeitsschulung, deren Zusammenspiel einen durchaus optimistisch stimmen kann.
Tätowierte und Seitengescheitelte, 68er und junge Studenten, Anzugträger, Professorinnen und Journalisten, eine bunte Mischung, sodass es vielleicht am Ende nur mein künstlerisches Milieu ist, das hier fehlen könnte. In zwei Tagen wird ein Bild vom Rechtspopulismus gezeichnet, um ihm zu begegnen, seine Muster und Rhetoriken schneller zu identifizieren, die Ambivalenzen einzuordnen.
Es ist das Pendant zur schriftstellerischen Arbeit, die eher eine Einbindung dieser Muster in eine erzählerische Struktur unternimmt oder erst einmal Verwandtschaften und Linien zu eigenen Positionen konstruiert, um auf empfindliche Weise aufmerksam zu machen, was das mit einem selbst zu tun haben könnte. Zwischen diesen beiden Positionen bin ich zunehmend hin- und hergerissen. Es gelte Farbe zu bekennen, sich zu positionieren, abzugrenzen, wurde nicht nur von dem Regisseur Alvis Hermanis verlangt. Seit dieser im vergangenen Winter den größten Wirbel erzeugt hat durch seine Aufkündigung der Zusammenarbeit mit dem Thalia Theater – nicht alle Flüchtlinge seien Terroristen, aber jeder Terrorist sei ein Flüchtling, und deswegen missfalle ihm das Flüchtlingsprojekt des Theaters –, werden zunehmend Töne laut, man müsse jetzt schneller sich klar abgrenzen von rechtspopulistischen Rhetoriken.
Politisch absolut richtig, als Schriftstellerin interessiert mich allerdings, wo diese Form der aggressiven Reaktion beziehungsweise diese demokratische Funktionsstörung in meine Nähe kommt. Meine Irritation setzte im letzten Jahr auch oft genug beim bürgerlichen Kulturpublikum an. Was ist mit dem Publikum los?, fragte ich mich da. Denn plötzlich pöbeln sie, und auch wenn man mir zum Beispiel in der Akademie der Künste sagte, sie haben da immer schon etwas gepöbelt, pöbeln sie jetzt anders, irgendwie lauter.
Sie, die kulturinteressierten Bürger, unterbrechen die Leute, die zu hören sie ja gekommen waren. Sie sagen nicht immer zu einem iranischen Pianisten: „Reden Sie gefälligst Deutsch, wenn Sie in Deutschland spielen!“ wie im März in der Kölner Philharmonie, als dieser sich in englischen Worten ans Publikum wandte, aber oft muss man sie daran erinnern, dass eine Podiumsdiskussion erst mal etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden.
Der Gipfel der Salonfähigkeit
Ich weiß, in den Zeitungsredaktionen ist man längst anderes gewöhnt. Man ist die Hassbriefe und Hate Speech gewöhnt, insofern man sich daran gewöhnen kann, doch für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf? Geht es ihnen um verstärkte Sichtbarkeit, wollen sie mehr gesehen und nicht übersehen werden?
Das wäre ein Argument, das Slavoj Žižek äußern würde. Diese Form von Repräsentationsschaden, den wir erleben, die inhaltsleeren Proteste der „Nuit debout“-Bewegung, die der slowenische Intellektuelle in seinem „neuen Klassenkampf“ anführt, die gleich den Protesten der Banlieues eigentlich keine politischen Forderungen hervorbringe, seien ein Phänomen einer Generation oder eines breiten generationsübergreifenden Milieus, das sich von der Politik verlassen fühle, nicht mehr wahrgenommen.
Dann könnte man die These von der narzisstischen Verletzung anbringen, die die Leute, die vor zwanzig Jahren noch in der politischen Kultur das Sagen hatten und jetzt altersbedingt raus sind, ereilt. Oder ist es vielleicht doch das Bedürfnis nach mehr Direktdemokratie, das so sehr überhandnimmt, dass es vor Theatersälen nicht haltmacht? Ich glaube, das Phänomen hat auch mit einem Versagen der öffentlichen Rhetoriken zu tun beziehungsweise mit dem Überhandnehmen von symbolischer Politik, die in keinem Verhältnis mehr zur Realpolitik steht.
Esra Küçük, Gründerin der Islamkonferenz und Direktoriumsmitglied des Maxim Gorki Theaters, beschreibt die Situation in Deutschland in drei Stichworten: die Wählerschaften seien volatil, der Umgang polarisierend, die Haltungen ambivalent. Und das gibt mir mit meinen Beschreibungsversuchen Anknüpfungspunkte. Selten habe ich eine Situation erlebt, die so viele Gegenläufigkeiten, paradoxe Antworten, moralische Dilemmata hervorgebracht hat. Wie damit umgehen?
Mir fällt der Auftritt des Intendanten des Thalia Theaters Joachim Lux anlässlich einer Preisverleihung ein, bei der er plötzlich eine Sorte Text von sich gab, den ich als die „richtigen Schlagworte“ für eine humane Politik in Zeiten der Flüchtlingskrise und der „Herausforderungen unserer Zeit“ bezeichnen würde. Er klang wie ein Politiker, der moralische Appelle startet. Ja, schlagartig wirkte Joachim Lux wie einer, der eigentlich Dinge machen könnte und sie stattdessen an ein Publikum adressierte, sie sozusagen sofort abgab, wie einen Koffer auf die Bühne stellte und verschwand.
Das Unwahre steckt weniger im Inhaltlichen als in der Kommunikationsrichtung. Der Appell geht heute von der Politik aus in Richtung Zivilgesellschaft, die alles zu schultern hätte, wie eben im Fall der sogenannten Flüchtlingskrise zu sehen war. Wenn man im letzten Herbst und Winter bemerkte, dass von staatlicher oder kommunaler Seite nichts oder nur wenig funktionierte, hieß es vage: „Es fehlt eben der politische Wille“, als wäre der etwas unendlich Kompliziertes. Der Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann bezeichnete deswegen in der Zeit die sogenannte Flüchtlingskrise als drittes Projekt der Alternativlosigkeit von Angela Merkel, ein gigantisches Umverteilungsprojekt, gegen das etwas einzuwenden aus moralischen Gründen perfiderweise schwer ist. Dies arbeite natürlich der AfD immens zu.
Frau Petrys vielsagendes Grinsen
Mehr und mehr scheint mir, dass diese Situation auch Ausdruck einer gewaltigen öffentliche Kommunikationsstörung ist. Man muss sich nur Talkshows mit Rechtspopulisten ansehen, und man wird die Aufkündigung des Gesprächs miterleben. Denn was geschieht da eigentlich auf so einem Podium? Es wird nicht reagiert. Der Vorwurf des Rassismus zum Beispiel in einer Maischberger-Sendung perlte an Frauke Petry ab, als hätte sie es gar nicht gehört. Nur ein vielsagendes Grinsen sagte den Zuschauern, dass sie alle für Idioten hält, die ihr das entgegenhalten, aber im Grunde negierte sie den Vorwurf nicht einmal. Auch Jörg Haider hat immer wieder nicht reagiert. Einfach eigene Thesen setzen, sprunghaft zu etwas anderem übergehen oder Rechtssophisterei betreiben, ist das Mittel der Wahl. „Wir nehmen nicht mehr teil an euren festgefahrenen Rhetoriken.“ Aber als Expertin für rechtspopulistische Talkshowauftritte kann ich mich nicht ausgeben, weil ich es schlicht und einfach nicht aushalte. Warum? Weil ich weiß, dass sie auf einer Ebene immer gewinnen werden.
Vielleicht ist das theoretisch falsch, erlebt habe ich es zu oft. Es bleibt immer etwas hängen, diese Strategie scheint komischerweise von ihnen auszugehen, die Wahrheit scheint heute immer ausschließlich von rechtspopulistischer Seite zu kommen, zumindest anzukommen. Wieso? Der Politologe Jan-Werner Müller hat uns mit seinem eben erschienenen Buch über den Populismus ein wenig Klarheit darüber verschafft, dass die rechtspopulistische Grundkonstruktion lautet: Die anderen sprechen für ihre Klientel, wir sprechen fürs Volk. Wir repräsentieren nicht, wir sind das direkte Sprachrohr, „wir sind 100 Prozent Wien“, die wirklichen 100 Prozent, und nicht etwa die unwirklichen 35. Deswegen sind wir auch im Besitz der Wahrheit, die einzig legitimen Vertreter. Deswegen dürfen wir auch selber Klientelwirtschaft betreiben, sagt der Rechtspopulist, weil unser Klientel ja das ganze Volk ist. Nicht dazu gehören die falschen Eliten, das Lumpenproletariat, die Ausländer. Ziemlich viele, wenn man sich dann Länder wie Italien oder Polen ansieht, die von Rechtspopulisten regiert wurden oder werden.
Für dieses Konstrukt notwendig sind die Verrohungskampagnen, die wir derzeit schon erleben: Man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen und müsse diese Bilder eben aushalten, Mitleid und Empathie seien unvernünftig – Sätze vom deutschen Innenminister de Maizière und Herrn Gauland von der AfD.
Aber ich bin ja Gott sei Dank in Kassel, und da höre ich andere Dinge: „Es gibt nicht das eine muslimische Milieu“, sagt man da im Workshop zum Feindbild Islam, das sei Rassismus. Und man solle nicht das kulturalistische Trittbrett benutzen, das Rechtspopulisten entwickelt haben, um salonfähiger zu wirken. In Österreich wurde der Gipfel dieser Salonfähigkeit nun erst einmal erreicht, jetzt fragt sich nur, wie es weitergeht. Vielleicht müssen wir in Österreich auch ein Kassel einrichten mit einem Kreuzschifffahrtshotel und einer politischen Workshop-Ebene? Vielleicht. Aber ist nicht der Rechtspopulismus in Europa derart auf dem Vormarsch, dass ich in naher Zukunft, wie die Kulturprogrammatik der AfD in Sachsen es bereits vorsieht, in meinen Stücken und Büchern ein positives Gefühl gegenüber Heimat werde vermitteln müssen? Nur wird die dann verschwunden sein, zumindest eine Heimat, wie ich sie verstehe.
Kathrin Röggla ist Schriftstellerin. Zuletzt erschienen: „Die falsche Frage“, Berlin (Theater der Zeit) 2015.
© Le Monde diplomatique, Berlin