07.04.2016

Dieser Kapitalismus funktioniert nicht

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Dieser Kapitalismus funktioniert nicht

Über den Unterschied zwischen Zigaretten und Musikdateien

von Paul Mason

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Das Düsentriebwerk war eine der grundlegenden Technologien des langen Zyklus, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Das während des Kriegs entwickelte Mantelstromtriebwerk – so die präzise Bezeichnung – ist eine ausgereifte Technologie, die keine großen Überraschungen mehr in sich bergen sollte. Aber das tut es.

Das Triebwerk funktioniert, indem es an seiner Vorderseite Luft einsaugt, sie verdichtet und durch Erhitzung ausdehnt. Die sich ausdehnende Luft treibt eine Turbine an, die die Hitze in Antriebsenergie umwandelt. Das Mantelstromtriebwerk ist allerdings ausgesprochen ineffizient. Die ersten Düsentriebwerke wandelten lediglich 20 Prozent der Hitze in Vortrieb um. Bis 2001 hatten sie eine Effizienz von 35 Prozent erreicht; ein Industrieveteran kündigte für das zweite Viertel des 21. Jahrhunderts vorsichtig 55 Prozent an.

Warum sollte uns das interessieren? Weil die Hersteller erwarten, dass sich die Anzahl der Passagierflugzeuge bis 2030 verdoppeln wird. Das bedeutet 60 000 neue Triebwerke. All diese Triebwerke werden den Beitrag der Luftfahrt zur Erderwärmung von 3,5 Prozent im Jahr 2005 bis Mitte des Jahrhunderts auf etwa 5 Prozent erhöhen. Die Energieeffizienz von Düsentriebwerken ist also nicht nur ein Thema für Technikfreaks, sondern eine Überlebensfrage für unseren Planeten.

In den ersten fünfzig Jahren nach seiner Erfindung haben Ingenieure die Effizienz von Strahltriebwerken um jährlich 0,5 Prozent gesteigert. Mittlerweile kommt die Entwicklung jedoch sprunghaft voran: Eine Effizienz von 65 Prozent ist in Reichweite, und bald dürften vollkommen neue Triebwerkstypen eingeführt werden. Angetrieben wird der Wandel durch höhere CO2-Grenzwerte und steigende Treibstoffkosten. Ermöglicht wird er durch die Informationstechnologie.

Die Menschen, die Düsentriebwerke bauen, können sich daran erinnern, dass Turbinenschaufeln ursprünglich aus Metall gehämmert und seit den 1960er Jahren aus flüssigem Metall gegossen wurden. Aber gegossenes Metall weist Mängel auf, was die Schaufeln für Beschädigungen anfällig macht. Womit wir bei einer der spektakulärsten technischen Neuerungen angelangt sind.

1980 produzierten Ingenieure des US-Triebwerkbauers Pratt & Whitney eine Turbinenschaufel aus einer einkristallinen Metalllegierung mit einer vollkommen neuartigen Atomstruktur. Eine einkristalline Schaufel hält höheren Geschwindigkeiten stand. Schaufeln aus solchen Superlegierungen können Luft widerstehen, die heißer ist als der Schmelzpunkt des Metalls. Wenn die Entwicklung wie geplant weitergeht, wird es 2035 selbstkühlende Triebwerke geben, deren thermische Effizienz sich auf fast 100 Prozent erhöhen soll.

Die technische Entwicklung hängt ganz und gar von der Informationstechnologie ab. Moderne Flugzeugtriebwerke werden von einem Computer gesteuert, der ihre Leistung analysieren, Defekte voraussagen und die Wartung planen kann. Die fortschrittlichsten Triebwerke schicken während des Flugs Leistungsdaten direkt an den Hersteller.

Auch die Produktion von Triebwerken hat sich dank der Computer revolutioniert. Ingenieure bauen mittlerweile jedes Flugzeugteil „virtuell“ anhand digitaler 3-D-Modelle, die in Superrechnern erzeugt wurden. In diesen Modellen besitzt jede Messingschraube die physikalischen Eigenschaften einer realen Messingschraube, und jede Kohlefaserplatte verbiegt sich wie eine wirkliche Platte. Jedes Stadium des Fertigungsprozesses wird in Modellen durchgespielt, bevor ein einziges physisches Objekt hergestellt wird.

Diese Verschmelzung von virtueller und realer Welt sehen wir in vielen Bereichen: Siliziumchips steuern die Leistung von Automotoren, digitale Pianos haben den Klang Tausender echter Klaviere gespeichert, und man kann per Tastendruck steuern, welchen sie wiedergeben. Heute sehen wir Filme, die nicht mehr aus Zelluloidpartikeln, sondern aus Pixeln bestehen und ganze Szenen enthalten, in denen kein einziges vor der Kamera aufgezeichnetes Bild vorkommt. In den Fertigungsstraßen der Autobauer ist jedes Bauteil mit einem Strichcode versehen: Was die Menschen dort Seite an Seite mit surrenden Robotern tun, wird von einem Algorithmus festgelegt und kon­trol­liert. Dadurch hat sich auch das Verhältnis von körperlicher Arbeit und Information verändert.

Den bedeutendsten technologischen Fortschritt des frühen 21. Jahrhunderts stellen nicht neue Objekte dar, sondern alte Objekte, die intelligent gemacht werden. Der Wissensgehalt von Produkten hat mittlerweile einen höheren Wert als ihre materiellen Bestandteile.

In den 1990er Jahren, als langsam klar wurde, wie die Informationstechnologie die Welt veränderte, kamen Menschen unterschiedlicher Disziplinen auf denselben Gedanken: Der Charakter des Kapitalismus wandelt sich von Grund auf. Es tauchten neue Modeworte auf: Wissensökonomie, Informationsgesellschaft, kognitiver Kapitalismus. Die Annahme lautete, dass der freie Markt und der Informationskapitalismus Hand in Hand arbeiteten: Der eine bringe den anderen hervor und stärke ihn. Einige Leute hielten die Veränderung für ebenso bedeutsam wie den Übergang vom Merkantilismus zum Industriekapitalismus im 18. Jahrhundert. Doch als sich die Ökonomen daranmachten, die Funktionsweise dieser „dritten Erscheinungsform des Kapitalismus“ zu erklären, stießen sie auf ein Problem: Dieser Kapitalismus funk­tio­niert nicht.

Es tauchen immer mehr Belege dafür auf, dass sich die Informationstechnologie keineswegs als Grundlage für einen neuartigen, stabilen Kapitalismus eignet. Ganz im Gegenteil: Sie löst ihn auf. Sie zersetzt die Marktmechanismen, höhlt die Eigentumsrechte aus und zerstört die Beziehung zwischen Einkommen, Arbeit und Profit. Die Ersten, die das begriffen, waren ein paar Philosophen, Managementgurus und Rechtsanwälte.

Digitale Informationsprodukte – Produkte, die vollständig aus Informationen bestehen und als binäre Signale erfasst sind – unterscheiden sich grundsätzlich von allen physischen Gütern, die je produziert wurden. Und eine Volkswirtschaft, die vor allem auf Informationsprodukten beruht, wird sich anders verhalten als Volkswirtschaften, die auf der Erzeugung von Dingen und der Bereitstellung von Dienstleistungen beruhen.

Bei dinglichen Gütern und vielen Dienstleistungen verhindert die Nutzung durch eine Person normalerweise die Nutzung durch eine zweite: Die Zigarette, die ich rauche, können Sie nicht rauchen, und es ist mein Miet­auto, mein Cappuccino und meine Psychotherapiesitzung. Nicht Ihre. Aber bei einer MP3-Datei liegen die Dinge anders: Die Information ist das Wirtschaftsgut. Es kann technisch in einer Vielzahl physischer Formen ­existieren, und zwar in einem derart kleinen Maßstab, dass ich die gesamte Musik, die ich in meinem Leben gekauft habe, auf einem fünf Zentimeter großen USB-Stick oder einem iPod mit mir herumtragen kann.

Virtuelle Angebote sind niemals knapp

Wenn ein Wirtschaftsgut ein nicht­rivalisierendes Gut ist, kann man sein Eigentumsrecht daran nur durch Ausschluss weiterer Nutzer verteidigen: Man kann die Software mit einem Kopierschutz versehen, wie bei DVDs, oder das Kopieren unter Strafe stellen. Doch was auch immer man tut, um die Information zu schützen – Kopierschutz einbauen, Daten verschlüsseln, Verkäufer von Raubkopien in der Fußgängerzone verhaften –, die Information selbst bleibt kopierbar und kann mit anderen geteilt werden, und das zu verschwindend geringen Kosten.

Der Gleichgewichtszustand einer Informationstechnologieökonomie ist ein Zustand, bei dem – anders als im markttheoretischen Ideal vorgesehen – Monopole dominieren und die Marktteilnehmer ungleichen Zugang zu Informationen haben, die sie brauchen, um rationale Kaufentscheidungen fällen zu können.

Es kostet fast nichts, einen iTunes-Song auf dem Server von Apple zu speichern, und es kostet fast nichts, ihn auf meinen Computer herunterzuladen. Was immer die Produktion des Songs die Plattenfirma an Künstlerhonoraren und Marketingausgaben gekostet hat, mich kostet er 99 Cent, und das auch nur, weil es nicht erlaubt ist, ihn kostenlos zu kopieren.

Das Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage hat hier keinerlei Einfluss mehr auf den Preis: Das Angebot des Beatles-Songs „Love me do“ auf iTunes ist unbegrenzt. Und anders als bei tatsächlichen CDs schwankt der Preis auch dann nicht, wenn die Nachfrage sinkt oder steigt. Den Preis bestimmt der Rechtsanspruch von Ap­ple, 99 Cent für dieses Wirtschaftsgut zu berechnen.

Um sein auf Information beruhendes milliardenschweres Unternehmen zu betreiben, stützt sich Apple nicht nur auf das Urheberrecht, sondern hat einen umzäunten Garten angelegt, in dem sich ergänzende Technologien blühen – das MacBook, iTunes, der iPod, die iCloud, das iPhone und das iPad. So sorgt der Konzern dafür, dass uns die Gesetzestreue leichter fällt als der Gesetzesbruch. Und das Ergebnis ist, dass iTunes einen Anteil von rund 75 Prozent am Weltmarkt für digitale Musik hält.

Im Informationskapitalismus ist das Monopol nicht einfach eine schlaue Methode der Profitmaximierung. Es ist die einzige Überlebenschance einer ganzen Industrie. Es ist verblüffend, wie wenige Unternehmen die verschiedenen Sektoren beherrschen. In den traditionellen Branchen gibt es normalerweise auf jedem Markt vier bis sechs dominierende Unternehmen: die vier großen Wirtschaftsprüfungsfirmen, die vier oder fünf großen Einzelhandelsgruppen, die vier großen Triebwerkshersteller.

Die führenden Marken der Informationstechnologie sind hingegen auf totale Marktbeherrschung angewiesen: Google muss die einzige Suchmaschine sein, Facebook der einzige Ort, der einem eine Online-Identität ermöglicht und iTunes der beherrschende Online-Musikanbieter. Auf zwei Schlüsselmärkten – Internetsuche und mobile Betriebssysteme – bekämpfen sich derzeit zwei Unternehmen auf Leben und Tod, wobei es so aussieht, als würde Google beide Kriege für sich entscheiden.

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Paul Mason leitet die Wirtschaftsredaktion von Channel 4 News. Sein Buch „Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie“ erscheint am 9. April bei Suhrkamp. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

© Suhrkamp Verlag, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.04.2016, von Paul Mason