10.03.2016

Sie nannten ihn Carlos Vanzetti

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Sie nannten ihn Carlos Vanzetti

Erinnerungen eines deutschen Guerillakämpfers und Arztes an die Revolution in Nicaragua

von Toni Keppeler

In den Straßen von Managua, November 1988 CHRISTA REINHARD-JUCH
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Die Gattin des Präsidenten hat einen Spleen. Sie lässt Bäume aufstellen, aus Stahlblech, sechs, sieben, acht Meter hoch. Nachts werden sie von Tausenden kleinen Reflektoren erleuchtet. Die ersten waren alle gelb, inzwischen strahlt es nach Einbruch der Dunkelheit in allen erdenklichen Bonbonfarben. Sie sind nach einer Vorlage des österreichischen Jugendstilmalers Gustav Klimt angefertigt; über 300 gibt es davon in Nicaragua. Ein Baum soll mehr als 50 000 US-Dollar kosten: ein Wahnsinn im ärmsten Land Lateinamerikas. Doch Rosario Murillo, Sprecherin und Ehefrau von Daniel Ortega, hat eine ausgeprägte esoterische Ader und glaubt, die von ihr „Lebensbäume“ genannten Skulpturen trügen zur Harmonie unter den Nicaraguanern bei. „Ich fürchte, dieser Kitsch gefällt den meisten“, sagt Carmen Vanzetti. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit fährt sie an ein paar Dutzend dieser Dinger vorbei.

Vanzetti, 34, ist Ärztin. Sie hat mit einem Stipendium der kubanischen Regierung in Havanna Medizin studiert und in Nicaragua den Facharzt für Orthopädie gemacht. Zwei Jahre hat sie freiwillig in einem Gesundheitsposten in Yalagüina gearbeitet, einem staubigen Dorf in der Hungerzone des Nordens. Sie ist im Geländewagen von einem Weiler zum anderen geholpert, hat Hunde gegen Tollwut geimpft und chronisch unterernährte Kinder aufgepäppelt. Heute wohnt sie in einem Vorort von Managua und arbeitet als Orthopädin in einem Krankenhaus in Granada, einem hübschen Kolonialstädtchen 45 Kilometer weiter im Süden.

Carmen Vanzetti ist Sandinistin. Keine hundertprozentige, sondern eine, die Witze macht über den kaum mehr öffentlich in Erscheinung tretenden Daniel Ortega und seine etwas schräge Frau. Vanzetti weiß: Jede andere vorstellbare Regierung wäre viel schlimmer als Ortega und Murillo. Schulen und Gesundheitsversorgung für die Armen wären dann nicht mehr gratis, es gäbe keine ordentlich ausgestatteten Gesundheitsposten im Hinterland, keine Hilfen für Kleinbauern, keine präsidiale Unterstützung beim Bau einfacher Häuschen. Das alles gab es nicht unter den neoliberalen Präsidenten Violeta Barrios de Chamorro, Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños, die zwischen 1990 und 2006 regiert haben.

Heute gibt es das alles, und dafür nimmt Vanzetti in Kauf, dass das, was Ortega und Murillo Demokratie oder die „Herrschaft des Volks“ nennen, schon etwas eigenartig ist. Der Präsident hat eine komfortable Mehrheit im Parlament sowie die Wahlkommission und das oberste Gericht unter seiner Kontrolle. Laut Verfassung müsste er längst abgetreten sein, denn die lässt höchstens zwei Amtszeiten und keine direkte Wiederwahl zu. Ortega aber wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im November 2016 zum vierten Mal ins höchste Staatsamt gewählt. Er hat das Wahlrecht so geändert, dass ihm 35 Prozent der Stimmen für einen Sieg reichen und die zerstrittene Opposition kaum den Hauch einer Chance hat. Und er hat das Verfassungsgericht urteilen lassen, dass die in der Verfassung verankerte befristete Amtszeit gegen seine Bürgerrechte verstößt. So tritt er wieder und wieder an.

Ortega lässt die großen Unternehmer schalten und walten, wie sie wollen, und wird deshalb von ihnen geschätzt. Er speist gern mit seinem einstigen Feind, dem reaktionären Erzbischof Miguel Obando y Bravo. Zur Versöhnung hat er ihm ein Gesetz geschenkt, das Abtreibung unter allen denkbaren Umständen verbietet. Die handzahme katholische Kirche ist vielleicht die einzige Institution, die neben dem Präsidenten und seiner Frau noch nennenswerten Einfluss auf das Denken der Nicaraguaner hat. Ansonsten hat Ortega zusammen mit seiner Familie ein Imperium aus Radiosendern, Fernsehstationen und Werbeagenturen geschaffen, über das die omnipräsente Rosario Murillo gebietet.

In seiner Partei, der Sandinistischen Befreiungsfront (FLSN), kann Ortega schon lange nicht mehr infrage gestellt werden. Seit Jahren fand kein Parteitag mehr statt, die Gremien tagen nicht. Die Parteilinie wird vom Präsidentenpaar entschieden und Rosario Murillo hat längst die alten Kader kaltgestellt. Sie setzt auf die Jugend, die sich mit der Hoffnung auf einen Job im Apparat ködern lässt. Auf Leute wie Carmen Vanzetti, die durchaus Chancen hätte, im Gesundheitswesen von Nicaragua etwas zu werden. Sie kennt Daniel Ortega persönlich. Der Präsident schätzte ihren Vater und kam ganz selbstverständlich zu dessen Beerdigung. Carlos Vanzetti starb am 30. Mai 2003. Auch er war Arzt; außerdem FSLN-Kämpfer an der Südfront im Befreiungskrieg gegen das Somoza-Regime; und dann so etwas wie der Vater der Neurochirurgie in Nicaragua. Doch Carmen Vanzetti sagt: „Ich will nicht die Tochter von Doktor Vanzetti sein, ich bin die Doktorin Vanzetti.“ Deshalb macht sie keine Karriere im Gesundheitsministerium, sondern operiert Knochen in einem ganz normalen Krankenhaus. Da ist sie wie ihr Vater.

Carlos Vanzetti war eine bekannte Figur, in Nicaragua wie in der deutschen Solidaritätsszene. Sein Geburtsname war Ernst Fuchs. Ende 1978 hatte er seinen gut bezahlten Job in Berlin gekündigt und sich im Frühjahr 1979 der sandinistischen Guerilla FSLN angeschlossen. Weil sein militärischer Vorgesetzter dort den Kampfnamen Sacco angenommen hatte, nannte man ihn eben Vanzetti. Der Carlos kam von Karl, der natürlich an Marx erinnerte und gleichzeitig einer seiner zahlreichen Vornamen war. Geboren war er im schwäbischen Winzerhausen am 17. Mai 1935 als Sohn eines Theologen. Nach dem Medizinstudium machte er zunächst Karriere in Berlin. Er war einer der ersten Neurochirurgen, die unterm Mikroskop operierten. Er hielt Vorlesungen. Er heiratete und zeugte drei Söhne. Er hatte eine Neunzimmerwohnung, ein Ferienhaus in Schweden und verdiente 100 000 D-Mark im Jahr, was damals sehr viel Geld war. Er war ein gemachter Mann. Und doch war er immer ein Außenseiter.

„Neurochirurgen“, sagte er oft, „sind ein reaktionäres Pack.“ Er war in der Gewerkschaft und setzte sich öffentlich für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung der RAF-Häftlinge ein. Damit machte er sich in der Terroristenhatz der 1970er Jahre zum „Sympathisanten“. Dann kam im Oktober 1977 der sogenannte Deutsche Herbst: Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde entführt, ebenso ein deutsches Passagierflugzeug, um inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen. Unmittelbar nachdem das Flugzeug von einer deutschen Spezialtruppe auf dem Flughafen von Mogadischu gestürmt worden war, begingen die RAF-Gründer Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Am nächsten Tag wurde Schleyer getötet. Eine Welle der Repression gegen alle „Sympathisanten” und Terrorverdächtigen, was so ziemlich alle Linken einschloss, ging durch die Bundesrepublik. Fuchs fühlte sich nun einsam in Berlin, als „heimatloser Linker“.

Im Jahr darauf erhielt eine Freundin einen Brief von dem Maler Dieter Masuhr, der im nicaraguanischen Estelí die Einnahme der Stadt durch die Sandinistische Befreiungsfront und danach die Bombardierung durch die Nationalgarde des Diktators Anastasio Somoza miterlebt hatte. „Was macht ihr da eigentlich in Deutschland? Ihr seid doch völlig überflüssig in Berlin“, schrieb Masuhr. „In Estelí sterben die Leute wegen einer banalen Knochenverletzung. Hier braucht man euch.“ Ein Satz fuhr Fuchs besonders ins Mark: „Ihr seid doch alle ersetzbar.“

Ortega war der Held der heimatlosen deutschen Linken

Als dann am 22. August 1978 Edén Pastora als „Comandante Cero“ zusammen mit zwei Dutzend Guerilleros den Nationalpalast in Managua besetzte, tausend Menschen als Geiseln nahm und damit die Freilassung des inhaftierten Sandinistenführers Daniel Ortega und weiterer 58 politischer Gefangener erpresste, da hatte der heimatlose Linke in Berlin einen neuen Helden gefunden. So erging es nicht nur Ernst Fuchs. In weiten Teilen der westdeutschen Linken, bis hinein in kritische Kirchenkreise, scheinen die Sandinisten und ihre schnellen Erfolge im Befreiungskrieg gegen das Somoza-Regime der revolutionäre Funke gewesen zu sein, auf den man gewartet hatte, um die nach dem „Deutschen Herbst“ eingetretene Lähmung überwinden zu können.

Anfang 1979 reiste Fuchs zunächst nach Costa Rica und verbrachte dort ein paar Wochen im Haus von Sergio Ramírez. Der Schriftsteller, der unter Daniel Ortega später Vizepräsident werden sollte, war damals der Initiator der „Gruppe der Zwölf“, die so etwas wie das diplomatische Gesicht der FSLN war. Ramírez pflegte die Kontakte zur Sozialistischen Internationalen und zur SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Von seinem Haus aus ging es am 21. März weiter ins Ausbildungslager der Guerilla hinter der Südfront.

„Abends mit einem der Chefs einer Guerillabasis im Restaurant Steak gegessen“, notierte Fuchs, der jetzt schon Carlos Vanzetti hieß, zwei Tage später in seinem Tagebuch. Es war der erste Eintrag. Gegen 21 Uhr ging es weiter im Geländewagen in Richtung nicaraguanische Grenze. „Dreißig Kilometer durch Wasserläufe, mit und ohne Wasser, durch zahllose Gatter, vorbei an Pferden und Kühen, durch den Urwald, vorbei an einem einsamen Gehöft und durch Schlamm. Bis dann bei einem Gatter Schluss war.“ Zu Fuß mit der Taschenlampe ging es weiter zum Lager. „Am Boden, in eine Decke gehüllt, zwischen Stiefeln mehr recht als schlecht geschlafen. Hätte, glaube ich, stehend schlafen können. Fünf Uhr Wecken!“

Siebzig Männer und Frauen waren im Ausbildungslager, darunter auch eine Deutsche, Ulla aus Stuttgart. „Zäh, idealistisch, eine Frau, die was tun will. Ist toll.“ Vanzetti bewunderte sie. Er fühlte sich nicht so fit, hatte Schmerzen im rechten Bein, vor allem bei seinen ersten Schießübungen auf den Knien. Auf 250 Meter galt es, mit dem schweren belgischen Sturmgewehr FAL eine menschliche Silhouette zu treffen, „mit einer Zielscheibe da, wo das Herz ist“. Vanzettis Bilanz von je acht Schuss: „Im Stehen: negativo. Im Liegen dann dreimal die Silhouette, einmal die Scheibe.“

Natürlich fiel er auf: ein Typ wie ein Schrank zwischen schmalen und knochigen Bauernsöhnen und -töchtern, die alle mindestens einen Kopf kleiner waren als er. Privilegien aber hatte er keine. Er wurde genauso wie alle anderen wegen kleiner Disziplinlosigkeiten zu Liegestützen und Kniebeugen mit dem Sturmgewehr verdonnert. Er beschwerte sich nicht. Er ärgerte sich nur darüber, dass selbst die Kleinsten fitter waren als er und lange vor ihm an die Front beordert wurden: „Der Knabe zwölf, das Mädchen – sie schrieb seitenweise Liebesgedichte – dreizehn. Kinder.“ Die Verpflegung fand er bisweilen zum Kotzen: „Heute essen wir Affen. Mir ist schon jetzt ganz schlecht.“ Die abgezogenen Tiere erinnerten ihn an Kinderleichen in der Pathologie.

Mit dem Töten von Feinden hatte er keine Probleme. Die erste Exekution eines gefangenen Nationalgardisten erlebte er noch aus der Ferne. „Morgens hörte ich eine Salve und dann einen einzelnen Schuss. Ich hasse den Krieg! Aber hätte ich auch geschossen? Bin ich schon so weit militant geworden? Gern hätte ich’s nicht getan.“ Aber schon drei Tage später, als der Lagerkommandant nach Freiwilligen für die Erschießung eines Verräters fragte, „habe ich mich zu meiner Überraschung mit hoch gehobenem Arm gesehen“. Aber es war nur eine Scheinfrage, um die Rekruten zu prüfen.

Am übernächsten Tag wurde es ernst. Ein Verräter war gefasst worden. „Dort unter den Bäumen lag er. Auf dem Bauch. Die Hände auf den Rücken gefesselt. An den Beinen auch. [. . .] Alejandro sagte: Ein Deserteur, der den Sohn eines unserer Helfer mit dem Messer erstochen hat. Handgranaten in der Tasche! Er stand auf, wir traten an. Er ging mit dem Hut auf dem Kopf. Breitrandig. Sein Gesicht braun und ausdruckslos. Die Augen waren schon tot. Er wurde vor einen Baum gestellt. Der Wind wischte ihm den Hut, den dreckigen weißen breitrandigen mexikanischen Hut vom Kopf. Eine Salve! Er sank zur Seite. Tot! Federico gab ihm noch einen Schuss in den Kopf. Mein Gewehr hatte acht Kugeln weniger. Der Typ, der vorher damit geschossen hatte, hatte auf Dauerfeuer gestellt. [. . .] Sie haben seine Schuhe ausgezogen, das wenige Geld an sich genommen. Den Hut. Die Schuhe haben nicht viel getaugt. Die Uhr ist eine solide Marke. Ob mir mal jemand den Gürtel auszieht?“

Je näher sein erster Fronteinsatz rückte, desto mehr dachte er nach über das Sterben und rechtfertigte im Vorhinein das Opfer, das er möglicherweise bringen würde. „Wie ist Sterben? Wenigstens inmitten dieser Jugend. Jugend, die sterben wird. Ich hasse die Bourgeoisie! Ich hasse die Bourgeoisie der BRD, wie ich noch niemals etwas gehasst habe!“ Und an die bundesdeutsche Linke gerichtet: „Ihr redet und redet, um nichts tun zu müssen. Ihr redet, um nichts riskieren zu müssen! Ihr lest, ihr wisst, ihr wisst auch um euch, aber ihr kämpft an eurer eigenen Front, der Front eurer Ausreden.“ Er aber, er tat etwas, er riskierte sein Leben. Auch wenn sein Einsatz wieder und wieder verschoben wurde.

Am 1. April 1979 erwähnte er zum ersten Mal, dass es in den nächsten Tagen einen Großangriff geben solle. Es dauerte noch eine Woche. Dann wurde er nachts um elf geweckt. „Alejandro: Doktor, sie brauchen dich an der Grenze.“ Er sollte möglichst nah an den Kämpfen die Notfallversorgung der Verletzten gewährleisten. Aber es dauerte noch einmal vier Tage, bis in der Nacht ein Posten der Nationalgarde (Guardia Nacional) überfallen wurde. Vanzetti schrieb fast enttäuscht darüber: „Aus dreißig Metern Entfernung Überfall mit Schnellfeuergewehren, nur: Die G. N. trauten sich nicht raus in die Nacht.“ Erst am Tag darauf kam so etwas wie Euphorie auf. „Es soll zwölf Tote gegeben haben. Mit Hubschraubern haben sie zwölf zugedeckte Tragen abgeholt. Hat man durchs Fernrohr ausmachen können. Jetzt sind wir Sieger!!“

Beim Rückzug durch den Regenwald stürzte Vanzetti auf dem glitschigen Boden. Sein rechter Meniskus riss. Er konnte nicht mehr allein gehen, musste gestützt werden. Man brachte ihn nach Costa Rica, von dort flog er am 15. April nach Mexiko, wo er sich operieren lassen sollte. Die Sandinisten hatten dort Kontakte zu solidarischen Ärzten. Doch Vanzetti flog weiter nach Berlin. Er glaubte, dass ihn deutsche Ärzte schneller fit machen könnten. Sein Kriegstagebuch bricht an dieser Stelle ab. Was danach kam, fasste er in Erzählungen immer nur summarisch zusammen. „Nach vierzehn Tagen war ich zurück an der Südfront. Noch drei, vier Angriffe, dann waren wir in Managua.“

Tatsächlich ging es ziemlich schnell. Kein Befreiungskrieg in Mittelamerika war so kurz wie der in Nicaragua. In El Salvador dauerte der Schlagabtausch zwischen der Armee und der Guerilla 12, in Guatemala sogar 36 Jahre. Die FSLN war zwar schon 1961 gegründet worden, lange geschah aber nicht viel mehr als hin und wieder ein Überfall auf eine Militärpatrouille irgendwo im dünn besiedelten Hinterland. Entscheidend für den Rückhalt der Guerilla in der Bevölkerung war das schwere Erdbeben, das am 24. Dezember 1972 Managua zerstört hat. Rund 10 000 Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende wurden obdachlos. Diktator Somoza und sein Clan nutzten die Katastrophe, um sich persönlich zu bereichern: Große Teile der internationalen Hilfsgelder wurden auf ihre Privatkonten umgeleitet, die als Spenden ins Land gebrachten Güter von ihren Firmen verkauft.

Danach hatte der Diktator jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verloren. Die Überfälle der FSLN nahmen zu und mit ihnen die Repression gegen die politische Opposition, gegen Gewerkschaften und Intellektuelle. Somoza galt als einer der perversesten Diktatoren seiner Zeit, der sich seine politischen Gefangenen gern in Käfigen vorführen ließ. 1977 kam es zu ersten größeren Kampfhandlungen in der dicht besiedelten pazifischen Seite des Landes, es folgten Volksaufstände in León, Matagalpa und Masaya. Als dann auch noch die US-Regierung unter dem Demokraten Jimmy Carter die Waffenhilfe für das Somoza-Regime kurzfristig einstellte, brach die Kampfkraft der Nationalgarde rasch zusammen. Am 17. Juli 1979 floh Somoza mit seiner Familie, seinen Mätressen, der Staatskasse und den Gebeinen seiner Vorfahren nach Miami. Der von ihm eingesetzte Statthalter Francisco Urcuyo konnte sich gerade einen Tag halten, dann zogen die Sandinisten am 19. Juli mit einem Volksfest in Managua ein. Mehr als 30 000 Menschen waren getötet worden.

Der Sandinisten haben eine Jahrhundertchance vertan

Die Monate danach hat Vanzetti oft „die glücklichste Zeit meines Lebens“ genannt. Es war die Zeit, in der junge Leute in abgelegene Dörfer zogen, um Kindern und Alten das Alphabet beizubringen; die Analphabetenquote sank von über 50 auf um die 10 Prozent. Schulen und Gesundheitsposten wurden gebaut, es gab eine Landreform, aus den riesigen Gütern Somozas wurden landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Frauen bekamen zum ersten Mal nennenswerte Rechte, im katholisch geprägten Nicaragua wurden Schwangerschaftsabbrüche legal. Tausende Brigadisten aus Europa und den USA strömten ins Land, um sich bei der Kaffeeernte oder auf dem Bau nützlich zu machen.

Vanzetti fuhr mit einem zur mobilen Praxis umfunktionierten Geländewagen in den Norden, die ärmste Gegend des Landes. Er behandelte Durchfälle und Atemwegserkrankungen, untersuchte Menschen, die nie zuvor bei einem Arzt gewesen waren. Er lernte Vilma Martínez kennen, eine junge, neugierige, impulsive Sandinistin. Er wollte, dass sie etwas lernt. Sie heirateten, bekamen eine Tochter und einen Sohn, sie holte ihr Abitur nach, studierte Geografie und arbeitete danach als Kartografin, bis ihre Stelle in den neoliberalen 1990er Jahren gestrichen wurde. Vanzetti wäre gern im Norden geblieben. Hier fühlte er sich tatsächlich so unersetzlich, wie es der Maler Dieter Masuhr damals aus dem umkämpften Estelí geschrieben hatte. „Aber dann fiel ich in die Hände der Comandantes“, sagte er im Rückblick mit einer Mischung aus Bedauern und Ironie.

Er wurde zurück nach Managua beordert, wo man händeringend nach Neurochirurgen suchte. „Die waren alle abgehauen und ließen ihre Patienten zurück. Das war denen völlig egal.“ Zu Vanzetti gesellten sich ein paar Neurochirurgen aus Kuba und zwei aus der Sowjetunion. „Zusammen mit denen haben wir die medizinische Versorgung in den achtziger Jahren mehr oder weniger über Wasser gehalten.“

Die neurochirurgische Abteilung wurde im Krankenhaus Lenin Fonseca im glühend heißen Kessel von Managua aufgebaut. Dagle Aviles, einer seiner ersten Schüler, erinnert sich: „Er schaffte Bilder, Vorhänge, Bettlaken, Klimaanlagen, Operationsinstrumente, Mikroskope und mikrochirurgische Instrumente an. Als er sah, dass die Ärzte zum Essen aus dem Krankenhausbereich hinaus auf die Straße gingen, ließ er einen Kiosk bauen.“ Unterstützt wurde er dabei von einem kleinen Hilfswerk in Berlin, der „Luftbrücke Nicaragua“.

Vielleicht hat Vanzetti seine Zeit im Norden romantisch verklärt. Tatsächlich brauchte man ihn in Managua, und er war dort in seinem Element. Zuvor hatten nicaraguanische Ärzte ins Ausland gehen müssen, um sich zu Neurochirurgen weiterbilden zu lassen. Vanzetti hat an der Nationaluniversität einen Facharztstudiengang aufgebaut und ein rundes Dutzend Ärzte selbst ausgebildet. Von den Sandinisten war er bald enttäuscht. Er redete sich selbst ein, dass er eigentlich gar nicht mehr erwartet habe. „Es kann nicht sein, dass ein Volk am 18. Juli 1979 korrupt ins Bett steigt und am Tag darauf als neue Menschen aufsteht“, sagte er zur Erklärung.

Die Wirtschaftsblockade der USA und der lange Zermürbungskrieg gegen die von Washington hochgerüsteten Contraverbände, der noch einmal rund 50 000 Tote forderte, taten das Übrige. Es entstand eben doch nicht der demokratische Sozialismus, von dem Vanzetti im Guerillalager geträumt und an dem er gleichzeitig gezweifelt hatte. „Sie verstehen langsam, wofür sie kämpfen. Früher nur gegen Somoza. Jetzt vielleicht für eine sozialistische Gesellschaft?“ Das hatte er damals bei einer Schulung im Ausbildungscamp notiert. Später erklärte er den Unterschied zwischen Somoza und den Sandinisten so: „Wenn unter Somoza 100 000 Dollar für ein Krankenhaus gespendet wurden, kam die Hälfte davon an; von der anderen Hälfte kaufte sich der Direktor ­einen Mercedes. Heute kommt immer noch die eine Hälfte an. Aber von der anderen bekommen zehn Chefärzte einen Lada. Das ist immerhin ein bisschen demokratischer.“ Es sei die pure Geldgier gewesen, mit der „die Sandinisten eine Jahrhundertchance unwiederbringlich verloren gegeben haben“.

Trotzdem hat ihn die Wahlniederlage der FSLN am 25. Februar 1990 hart getroffen. Denn danach kam auch das „reaktionäre Pack“ der Neurochirurgen zurück, das sich nach 1979 in die USA abgesetzt hatte. Die linke Konkurrenz war ihnen ein Dorn im Auge, und sie fanden schnell einen Weg, um Vanzetti kaltzustellen. Sie behaupteten einfach, er sei ein Scharlatan. Es gebe kein amtliches Dokument, das einen Carlos Vanzetti als Facharzt für Neurochirurgie ausweise. Damit hatten sie sogar recht. Vanzettis Approbation und Titel lauteten auf den Namen Ernst Fuchs. Er wurde entlassen und erst nach langen juristischen Querelen, in deren Verlauf er Privathonorare zurückbezahlen musste, wieder eingestellt.

Es begann die Epoche des Wirtschaftsliberalismus unter Präsidentin Violeta Chamorro. Im Bildungsbereich wurde gespart, die Analphabetenrate schoss wieder nach oben, und auch die öffentlichen Krankenhäuser bekamen kein Geld mehr, oft nicht einmal für Verbandsmaterial. Vanzetti griff für seine armen Patienten immer häufiger in die eigene Tasche und finanzierte sich über Privatoperationen von Reichen. Während der Regierungszeit des korrupten rechten Präsidenten Arnoldo Alemán (1997 bis 2002) wurde es besonders schlimm. 1998 streikten die Ärzte des staatlichen Gesundheitswesens für bessere Gehälter. Sie verdienten damals umgerechnet rund 100 Dollar im Monat. Vanzetti unterstützte die Kollegen, blockierte oft zusammen mit ihnen wichtige Straßenkreuzungen in Managua. „Ich habe ihnen mein Auto angeboten, damit sie es abfackeln“, erzählte er. „Ohne brennende Autos ist das doch keine richtige Blockade, und es wäre ein würdiges Ende für meinen 25 Jahre alten BMW gewesen.“ Die Streikenden aber lehnten ab. 2000 wurden entlassen, unter ihnen Vanzetti.

Während seiner letzten Jahre arbeitete er in einer privaten Klinik der Baptisten. Er war frustriert. Einmal überlegte er, sich auf eine Stelle in Deutschland zu bewerben, ließ es nach einem Besuch aber bleiben. „Ich fühle mich nicht mehr heimisch in Deutschland“, sagte er. „Und in Nicaragua fühle ich mich nach über zwanzig Jahren immer noch fremd.“ Er vergrub sich in seiner Wohnung und ging fast nur noch zum Arbeiten aus dem Haus.

Er hat wohl gewusst, dass er bald sterben würde, und er wollte sterben, bevor er nicht mehr operieren konnte. Wenige Monate vor seinem Tod hatte er eine Thrombose, ein deutliches Alarmsignal für einen Neurochirurgen. Er hat sie nie richtig auskuriert. Im Mai 2003 erlitt er eine Gehirnblutung. Er lag zwei Wochen im Koma. Die behandelnden Ärzte sagten, dass er, sollte er je wieder zu sich kommen, sich an nichts erinnern, sich kaum bewegen und nie wieder reden werde. Vilma Martínez hatte ihm schon lange vorher versprechen müssen, sie werde ihn, sollte er zum Pflegefall werden, erschießen. Sie hätte es für ihn getan. Doch Vanzetti starb mit gerade 68 Jahren eines natürlichen Todes. Fünf Jahre später sollte seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen.

Er hatte sich gewünscht, dass er eingeäschert würde. Seine Asche sollte in den Schlund des Masaya-Vulkans gestreut werden, so sei er nach dem nächsten Ausbruch überall im Land präsent. Daniel Ortega, damals noch Oppositionsführer, war der Erste, der bei der Beerdigung eine Hand voll Asche in den brodelnden Krater warf. Dreieinhalb Jahre später wurde er wieder zum Präsidenten gewählt und ist es seither geblieben.

Toni Keppeler ist Journalist mit Arbeitsschwerpunkt Mittelamerika (www.latinomedia.de).

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Toni Keppeler