11.02.2016

Vor der Wahl

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Vor der Wahl

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Derzeit liegt die Arbeitslosenquote im Iran offiziell bei 19 Prozent, tatsächlich dürften es mehr als 30 Prozent sein. 2012 und 2013 schrumpfte die Wirtschaft um 7 beziehungsweise 2 Prozent, auf die Wahl Präsident Rohanis 2013 folgte ein kurzer Aufschwung (3 Prozent Wachstum), doch 2015 schrumpfte die Wirtschaft wieder. Mit der Aufhebung der Sank­tio­nen wird für 2016 ein Plus von 3 Prozent erwartet. Dafür müssen allerdings Geschäftsbe­ziehungen neu geknüpft, Fonds freigegeben und das Bankensystem wieder in Gang gebracht werden. Und die Ökonomie muss ­diversifizieren: 50 Prozent des Haushalts und 80 Prozent der Exporte beruhen auf Erdöl.

Viele Angehörige des Establishments haben sich durch Netzwerke illegaler Im­porte, den Schwarzmarkt und Immobilienspekulation bereichert. 10 Prozent der Iraner zählen zu den sehr Reichen, die Mittelschicht aber ist verarmt.

70 Prozent der Bevölkerung mussten einen dramatischen Rückgang ihrer Einnahmen in den letzten zehn Jahren verkraften. Der Lebensmittelverbrauch sank um 26 Prozent, der Milchverbrauch hat sich halbiert. Nach einem dramatischen Höhepunkt ist die Inflation leicht zurückgegangen, aber zum Einkaufen braucht man immer noch Säcke voller Geldscheine.

Der Optimismus nach dem Atomabkommen vom 14. Juli 2015 hat sich etwas abgeschwächt. Die ausländischen Delegationen geben sich die Klinke in die Hand, aber vorläufig sind es alles nur Absichtserklärungen, heißt es in der Handelskammer von Teheran. Auf der Straße werden die Ausländer mit einem Lächeln empfangen. „Welcome!“, flüstert man überall.

An der Spitze der Macht herrscht Spannung. Der oberste Religionsführer, Ajatollah Chamenei, mahnt, die Aufhebung der Sanktionen dürfe nicht mit einer po­li­tischen Öffnung gleichgesetzt werden. Hinter ihm stehen die ultrakonservativen Delvapassan, „die Besorgten“.

Am 26. Februar wird zweifach gewählt: das Parlament und der Expertenrat. Dieses für acht Jahre gewählte Gremium berät den obersten Religionsführer und bestimmt nach dessen Tod den Nachfolger. Der Gesundheitszustand von Ajatollah Chamenei, 76 Jahre, ist instabil.

Sämtliche Kandidaten werden vom Wäch­ter­rat überprüft, der dem obersten Religionsführer untersteht. Bei den letzten Parlamentswahlen wurden 60 Prozent abgelehnt, bei der Wahl zum Expertenrat sogar 70 Prozent. In einigen Provinzen stimmte die Zahl der zugelassenen Kandidaten genau mit der Anzahl der zu besetzenden Sitze überein.

Mit einer grundlegenden Veränderung in der Zusammensetzung des Parlaments ist nicht zu rechnen: gemäßigte Konservative in der Mehrheit, eine relativ breite Mitte, eine ultrakonservative Minderheit und eine kleine Gruppe Reformer. Ähnliches gilt für den Expertenrat. Der Wächterrat wird dafür sorgen, dass der Einfluss der Reformer nicht spürbar stärker wird.

Die aktuelle Krise mit Saudi-Arabien wird das Wahlergebnis nicht wesentlich beeinflussen. Wegen der Plünderung der saudischen Botschaft in Teheran befürchten allerdings viele Iraner, wieder von der „internationalen Gemeinschaft“ geächtet zu werden. Sie sind stolz auf ihre Zivilisation und Kultur und überzeugt von ihrer Überlegenheit gegenüber den Golfländern (Araber und Sunniten). Für den IS haben sie nur Abscheu übrig, dennoch verfolgen viele das iranische Engagement in Syrien mit Misstrauen. Wenn sie dem Regime überhaupt eine Tugend zutrauen, sagen sie, dann die, dass es den Iran als „kleine Insel der Stabilität“ erhalten wird. ⇥F. B.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2016