11.02.2016

Brief aus Paris

zurück

Brief aus Paris

von Marmar Kabir

Rue d’Arcole akg
Audio: Artikel vorlesen lassen

Das Leben geht weiter, mit mehr Angst im Bauch, mehr Distanz zwischen den Menschen, mehr Durcheinander und mehr Misstrauen. Für Pariser Verhältnisse ist es ein milder Winter, und die Stimmung unter dem gerade verlängerten Ausnahmezustand ist nicht mehr ganz so bedrückend wie in den ersten Tagen nach den Anschlägen vom 13. November. Gestern haben sich alle politischen Kräfte meiner Zweitheimat versammelt, um mit dem Präsidenten über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu diskutieren. Hat die Staatsbürgerschaft ein Verfallsdatum?

Samstagvormittag bin ich wieder einmal von der Metrostation Maubert – Mutualité, in der Nähe der Schule, auf der ich 1980 war, zur Bibliothek des Centre Pompidou gelaufen. Fast fünfunddreißig Jahre und viele Wunden und Enttäuschungen später bin ich heute Franko-Iranerin und arbeite in einem internationalen Konzern, der seinen x-ten Sozialplan vorbereitet. Nach der Kulturrevolution im Iran und der Schließung der Teheraner Universitäten war es eine Form von Freiheit, Mathematik zu studieren und mit 18 Jahren allein und ohne Kopftuch in Paris zu leben. Aber es blieb ein bitterer Beigeschmack, weil ich nicht bei meinem Vater war, der seine Gedichte auf Zettel schrieb, und bei meinen Leuten, die nach dem Sturz des Diktators so sehr gehofft hatten, dass sich ihr Leben ändern würde.

Nicaragua und Iran hatten sich befreit; die Menschen erkämpften sich soziale Gerechtigkeit, Frieden und Unabhängigkeit – all das war plötzlich möglich – jedenfalls glaubte ich das. In Frankreich hatten gerade die Sozialisten gesiegt, Hoffnung lag in der Luft, in meinen Augen war Paris sauber, prächtig, verklärt, ein soziales Frankreich, in dem ich den Dichtern Aragon und Rolland begegnen oder die Chansonsängerin Barbara sehen würde.

Vor Notre-Dame beäugen bewaffnete junge Männer in Uniform die Passanten. Wenn meine Mutter früher zu Besuch kam, hatte sie in der Kathedrale immer eine Kerze angezündet und für die Heirat meiner Schwester, die Heilung ihrer Arthritis und schließlich für das Seelenheil meines Vaters gebetet.

Gegenüber liegt das Krankenhaus Hôtel Dieu. Im Schmerzzentrum und auf mehreren anderen Stationen wird noch gearbeitet. Ganz oben, in der sechsten Etage, treffen all die angeblichen Illegalen, Drogenhändler oder Terroristen auf White-Collar-Kriminelle, sie alle brauchen medizinische Behandlung. Das Gebäude ist baufällig, es handelt sich jedoch um einen erwarteten, ja sogar ersehnten Verfall, verheißt er doch die baldige Schließung und den Verkauf zugunsten einer strahlenden Zukunft als Fünfsternehotel samt Restaurant und Hochzeitssaal. So wie es da mitten in Paris steht, wirkt es allerdings wie ein Mahnmal für den Verfall des ganzen Gesundheitssystems.

Ich gehe durch die Rue d’Arcole. Hier habe ich vor mehr als fünfundzwanzig Jahren in einem Café neben dem Wohnhaus eines jungen Mannes, den ich in einem Konzert kennengelernt hatte, einen Kaffee getrunken, um ihn wie zufällig zu treffen, weil ich mich nicht traute, ihn anzurufen. Mein Herz schlägt etwas schneller, ich blicke zum Fenster hinauf, als würde ich ihn immer noch suchen. Beim Überqueren des Pont d’Arcole schickt mir eine Nachrichten-App das neue Plakat von Marine Le Pen aufs Handy: „Das versöhnte Frankreich“.

1984, mitten im Iran-Irak-Krieg, nach den erzwungenen Fernsehgeständnissen der linken Aktivisten im Iran, war es für mich ausgeschlossen, nach Hause zu fahren und meinen Vater zu besuchen. Die 11 Prozent für den Front National (FN) bei der Europawahl im Juni haben mich damals geschockt, aber ich hielt das für eine vorübergehende Erscheinung in der Geschichte dieses großartigen Landes der Französischen Revolution. Bei den Regionalwahlen des Jahres 2015 bekam der FN fast 30 Prozent, knapp 10 Prozent in ­Paris. Am Wahlabend erklärte die frühere sozialistische Bürgermeisterin auf Twitter, sie sei „stolz auf das Volk von Paris, das der Angst getrotzt hat“. Was ist bloß mit meinem Frankreich passiert?

Auf der Place de Grève, unter Napoleon in Place de l’Hôtel-de-Ville umgetauft, singe ich Ferrat. In der Rue de Rivoli steuern Touristen und Schnäppchenjäger die Läden von H & M, Zara, Sephora und Co an. All diese langweiligen globalen Ketten werden demnächst, wenn das Embargo aufgehoben ist, auch in den angesagten Vierteln von Teheran viel Umsatz machen. Rund um die Canopée, die über dem Knotenpunkt Les Halles gebaut wurde, kontrollieren Polizisten ab und zu einen jungen „Araber“, der ihnen verdächtig vorkommt und nach Haschisch riecht. Am Eingang zur Hema-Filiale, unweit vom RER-Bahnhof, kontrolliert ein Wachmann die Taschen. Man sieht dem Geschäft nicht an, ob es in Paris, Amsterdam, London oder, das kommt bald, in der Ave Zafar in Teheran liegt, überall die gleichen aufgereihten Kekse, Bonbons, Lippenstifte und bunten Servietten. Die Körbe füllen sich mit Billigwaren. Die Kassiererinnen sind überfordert. Draußen bahnen sich verschleierte Mädchen, diskret geschminkt, das Haar sorgsam unter dem Kopftuch versteckt, entschlossen ihren Weg durch die Menge. Ihnen folgen hass­er­füll­te, manchmal auch ängstliche Blicke, manchmal eine Beschimpfung. Verfall einer für Paris typischen Kultur, Verfall der Zivilgesellschaft?

Mein Vater kaufte oft Wildschweinschinken bei Arezouman, einem Armenier im Zentrum von Teheran. Wir aßen den Schinken vor dem Fernseher mit warmem Sangakbrot und Tomaten. Da es in meiner Pariser Schule keine Kantine gab, holten wir uns mittags manchmal eine Schinkentasche oder ein Königinpastetchen im Feinkostgeschäft vor Maubert – Mutualité. Ich mochte die unbekannten Leckereien, die ich durch meine neuen Freunde entdeckte. Heute bestelle ich an der Theke eines Cafés eine Quiche Lor­raine. Der Kellner schaut in mein „typisches“ Gesicht und stellt die übliche Frage: „Essen Sie Schweinefleisch?“

Vor einem Zeitungskiosk an der Metrostation Rambuteau fällt mein Blick auf Illustrierte mit hübschen, halbnackten Frauen: Jalouse, Marie-Claire, Glamour, daneben Gesundheit, Psychologie und schließlich eine fettgedruckte Schlagzeile, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: „Acht Gewerkschafter von Goodyear wie Kriminelle verurteilt“. Ein paar Wochen vor der Verkündung des Ausnahmezustands waren sechs Air-France-Mitarbeiter verhaftet worden, weil sie aus Wut über das Sparprogramm einen Manager attackiert hatten. Müssen Gewerkschafter neuerdings wieder ins Gefängnis, weil sie mit den Arbeitern gegen die Schließung ihrer Fabrik protestieren? Kann man von sozialem Verfall sprechen?

In der Nähe des Jardin Anne Frank, einem „Biogarten“, sitzen ein paar junge Männer und kiffen. Sie sind „Weiße“, die Polizisten entfernen sich, die Jungs lachen. Beim Centre Pompidou setze ich mich zu einer Gruppe auf den Rasen. Wir schauen drei jungen Leuten zu, die zu ihrer mitgebrachten Musik tanzen. Die alte Dame neben mir, allein und stark geschminkt, wippt dazu im Takt, wie die beiden Persisch sprechenden jungen Migranten, die ihr gegenüber sitzen. Sie sind Afghanen. Sie erzählen mir, dass sie vor dem Krieg aus ihrem Dorf geflohen sind. Sie haben ihre Eltern und ihren Bauernhof verloren, sind mit der letzten Welle von Migranten gekommen und leben jetzt in einer Unterkunft zusammen mit Syrern; eine Hilfsorganisation gibt ihnen Französischunterricht.

Eigentlich haben sich diese Straßen in den letzten fünfunddreißig Jahren kaum verändert. Hier bin ich erwachsen geworden, habe mich verliebt, habe meine im Iran hingerichteten Freunde beweint, bin zu Bewerbungsgesprächen und auf Demos gegangen ... Wie oft habe ich diese Straßen überquert, um zur Arbeit zu kommen, meine Tochter zum Kinderarzt zu bringen, Einkäufe zu machen, ins Kino zu gehen oder auf ein Glas ins Bistro. Ich habe dieselbe Staatsangehörigkeit wie die Menschen hier, ihre Geschichte ist auch meine, ich kämpfe an ihrer Seite gegen den Verfall unseres Landes, ich teile ihre Ängste. Aber bin ich wirklich eine von ihnen, nicht als „Muslimin in Frankreich“, auch nicht als „gut integrierte Migrantin“, sondern als nichts Besonderes, eine Frau wie viele andere? Die vielen Polizisten und die Taschen­kon­trol­len vor jedem Geschäft erinnern uns alle daran, dass in diesem Land immer noch der Ausnahmezustand herrscht.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Marmar Kabir ist Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique auf Farsi.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.02.2016, von Marmar Kabir