07.01.2016

Der Narco von Rivas

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Der Narco von Rivas

Ein freischaffender Drogenhändler in Nicaragua erzählt aus seinem Arbeitsleben

von Óscar Martínez

Managua: kein Mangel an Kundschaft OSWALDO RIVAS/reuters
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Heute wird es kein Treffen mit dem Narco geben. Wir hatten uns für fünf Uhr nachmittags in San Jorge, Provinz Rivas, Nicaragua, verabredet. Dort, in unmittelbarer Nähe an der Grenze zu Costa Rica, wollten wir uns treffen. Jetzt ist es fünf Uhr, und es gibt kein Treffen. Nicht, weil ich mich im Tag oder in der Uhrzeit geirrt oder die kryptischen Nachrichten falsch verstanden hätte. Auch hat der Narco keine frischen Informationen über einen Kokaintransport erhalten, den er sich gern unter den Nagel reißen möchte. Nein, der Grund ist viel banaler: Der Drogenhändler hat eine Flasche Whisky intus und ist nicht in der Verfassung, auch nur ein vernünftiges Wort hervorzubringen.

Zur vereinbarten Uhrzeit bekomme ich am Telefon nur ein unverständliches Lallen  zu hören. Zehn Minuten später ruft die Frau des Narcos von Rivas an. Sie sagt, Entschuldigung, der Señor kann heute nicht, und er ruft später an, wenn er kann.

Solche Verabredungen hängen immer am seidenen Faden. Warum soll ein Drogenhändler mit einem Journalisten sprechen wollen? Die Antwort ist immer dieselbe: aus eigenem Interesse. Er hat ein Interesse daran, irgendetwas zu verraten. Ja, Verbrecher haben viel zu verraten. Sie haben immer ein Interesse daran, jemanden zu beschuldigen.

Um 11 Uhr abends ruft mich der Narco auf dem Handy an. Ich sitze in einem Restaurant am Landungssteg, am Ufer des Nicaraguasees.

Der Narco von Rivas entschuldigt sich, sagt, so ist das eben, die Hitze an der Pazifikküste von Nicaragua verlangt nach einem ordentlich Schluck. Er sagt, er sei schon wieder ganz erholt aufgestanden, aber ein paar gute Freunde seien jetzt zu Besuch und haben ein paar Flaschen Whisky dabei. Heute gehe es also nicht, aber ich solle morgen früh Punkt sieben anrufen, dann können wir um halb acht frühstücken.

Ich beschließe, es um neun zu versuchen.

San Jorge ist eine Gemeinde in der Provinz Rivas, ein Dorf mit 8000 Einwohnern. Die einzige Straße endet am Landungssteg für die Fähren hinüber zur Insel Ometepe, einem Touristenziel mitten im Nicaraguasee. Der See ist riesig, fast ein Meer, und San Jorge atmet den maritimen Flair der gesamten Provinz: Es gibt ein Restaurant El Navegante (Der Seefahrer), eine Pension El Pelícano (Der Pelikan), ein Hotel Las Hamacas (Die Hängematten), ein Restaurant El Timón (Das Steuerruder) ... Es ist ein träges, heißes Dorf, nur Staub und Holz, Sandalen und kurze Hosen.

Rivas ist die einzige Provinz Nicaraguas mit einem offiziellen Grenzübergang nach Costa Rica, in Peñas Blancas. Daneben gibt es 80 Wege über die grüne Grenze. Über Rivas kommen die kolumbianischen Drogen nach Nicaragua. Laut Policía Nacional ist Rivas die Route, über die die mexikanischen Kartelle aus Sinaloa, Juárez und der Golfregion oder die Familie Michoacán ihr Kokain in die Vereinigten Staaten schleusen. An der Atlantikküste dagegen sind es immer noch die Kolumbianer, die den Transport nach Norden kontrollieren – nach Honduras oder Guatemala –, und die Ware dort gegen einen Anteil für den Transport an die Mexikaner liefern.

Im Unterschied zum Pazifik ist der Atlantik eine maritime Autobahn, über die Boote mit 800 PS rasen und nur zum Auftanken anhalten. Dagegen wird in Rivas ein Gutteil der Drogen auf dem Landweg transportiert und gelangt im lebhaften Verkehr um den Nicaraguasee problemlos nach Granada oder in die Hauptstadt Managua.

Es ist 9 Uhr morgens, und der Narco von Rivas hat sich, wie mir seine Frau am Telefon sagt, in seinem Zimmer eingeschlossen, um in Ruhe seinen Rausch auszuschlafen. Doch sie verspricht mir, ihn so bald wie möglich zu wecken.

Um 10 ruft mich der Narco von Rivas an.

„Du kannst jetzt kommen, wir trinken einen Kaffee, den kann ich wirklich gebrauchen. Wo bist du? Ich schick dir jemanden vorbei, der holt dich ab.“

Er scheint aus demselben Holz geschnitzt wie die anderen Narcos, mit denen ich gesprochen habe. Dicklich, dunkelhäutig, schwitzend, mit riesigen Händen, auf den ersten Blick liebenswürdig, jovial, wortreich und ungezwungen, dabei mit vertraulichen Anreden um sich werfend: Bruder, mein Freund, Chef, Alter.

In Rivas gibt es mindestens vier Drogenbosse. Er ist einer von ihnen. Die zentralamerikanischen Bosse sind nicht so geheimnistuerisch wie die mexikanischen, nicht so protzig, nicht so reich und leichter zu kontaktieren. Sie beginnen ihre Karriere gewöhnlich mit einem Netz von Kontakten, das sie aus irgendeinem Grund geknüpft haben – weil sie illegale Geldwechsler an irgendeiner Grenze waren, weil sie zu einer Jugendbande gehörten, die Käse schmuggelte oder Lieferwagen klaute, weil sie ein öffentliches Amt in der Gemeinde innehatten –, um sich einem internationalen Boss anzudienen, der seine Drogen nach Norden bringen will; oder sie nutzen ihre Kontakte, um das Rauschgift, das durch ihre Region transportiert wird, für sich abzuzweigen. So war das bei dem Narco von Rivas: Er handelte mit Rauschgift, das er anderen Händlern stahl.

Als wir uns schließlich begrüßen, scheint er in guter Verfassung: keine roten Augen, keine langsamen Bewegungen, keine schlechte Laune. Er schwitzt, das ja, aber er ist fröhlich. Und laut. Er empfängt mich zu Hause in seinem kleinen Wohnzimmer. Vor der Tür stehen zwei junge Männer Wache. Fröhlich und laut fordert er mich auf, mich auszuweisen. Er sieht sich meinen Ausweis an, dreht und wendet ihn, liest. Er gibt ihn zurück. Schreibt meinen Namen in ein Notizbuch.

Nicaragua ist das ideale Land für Drogenklau

Zentralamerikanische Drogenhändler, mit ein paar Ausnahmen wie ehemalige Abgeordnete oder berühmte alte Bosse in Guatemala und Honduras, arbeiten als freie Unternehmer. Sie gehören weder zum mexikanischen Sinaloa-Kartell, noch haben sie einen Exklusivvertrag mit dem kolumbianischen Kartell Norte del Valle. Sie arbeiten für den, der sie bezahlt, für den, der sie anruft. Der Narco von Rivas ist freier Unternehmer. Und wenn wir „Narco“ sagen, meinen wir nicht den kleinen Dealer an der Ecke, sondern jemanden, der Hunderte von Kilos bewegt.

Der Narco von Rivas spricht über dieselben Dinge wie die drei anderen Narcos, die ich interviewt habe. Sie hätten das Geschäft aufgegeben. Diese Behauptung ist wie ein Rubbellos. Man rubbelt, und die Wahrheit kommt zum Vorschein. Und die Wahrheit ist immer die, dass sie weiterhin das sind, was sie angeblich nicht mehr sind. Der Narco von Rivas sagt, er stiehlt keine Drogen mehr.

„Angeblich bin ich einer, der anderen die Ware klaut. Eine Lieferung kommt, man macht seinen Job. Wer im Krieg war, der kennt sich aus …“

Wenn ein Bürgerkrieg eine gute Schule ist, dann ist Zentralamerika voll von Leuten, die sich auskennen. In den letzten 40 Jahren hat es hier drei Bürgerkriege gegeben.

Nicaragua ist das ideale Land für Drogenklau. Die Schnellboote der lokalen Narcos starten von gottverlassenen Gemeinden an der Atlantikküste vor der honduranischen Grenze, um ganze Ladungen abzufangen und sie weiterzuverkaufen. An der Pazifikküste klauen bewaffnete Banden ganze Lastwagenladungen, oder Polizisten zweigen etwas von der beschlagnahmten Ware ab. Für Sozialforscher ist das alles kein Geheimnis.

Hier geht das Kokain aus Kolumbien nach Norden

Roberto Orozco vom Institut für strategische Studien und Gesellschaftspolitik (IEEPP) versichert, dass Rivas zu den vier Provinzen Nicaraguas gehört, in denen die Korruption innerhalb der Polizei alarmierende Ausmaße angenommen hat. Zudem entwickeln sich laut Orozco die Banden in Rivas zu regelrechten Kartellen, die sehr viel mehr Korruption zur Folge haben als einzelne Verbrecher.

Auch für die Polizei ist das kein Geheimnis. Die leitende Beamtin Aminta Granera räumt ein, dass Rivas eine große Herausforderung darstellt: „In Rivas brauchen wir mehr logistische Zusammenarbeit auf nationaler Ebene als an der Atlantikküste, weil dort nichts über den Landweg geht. Aber wir sind dran. Im Moment laufen interne Ermittlungen gegen fünf Polizisten. An der gesamten Pazifikküste haben wir große Probleme innerhalb der Polizei, die besonders anfällig ist für Korruption durch das organisierte Verbrechen.“

Vielleicht stimmt es ja, dass man von Whisky keinen Kater bekommt, denn mein Gespräch mit dem Narco geht weiter, ohne einen einzigen Schluck Wasser. Ich frage ihn, über welche Kontakte ein Drogendieb verfügen muss.

„Wenn man ein alter Hase im Geschäft ist, dann kennen einen die Leute. Sogar die, die für die Kartelle arbeiten. Ich hab fünf Jahre in Mexiko gelebt. Die rufen dich an! Der Kolumbianer ist für seine miserable Zahlungsmoral bekannt. Deswegen setzen sie dich auf den Kolumbianer an. Oder dich rufen Kontakte von hier an, die für ihre letzte Arbeit nicht bezahlt worden sind. Aus Rache! Die Kolumbianer sind mies, deswegen sind sie in allen Ländern bloß noch die Verlierer. Und auch, weil das nationale Netz immer funktioniert. Sie [die Polizisten] machen ihren Schnitt. Der Kolumbianer liefert dir nicht 472 Kilo. Der schickt dir 500, runde Zahl. Man weiß das. Die Polizisten hier beschlagnahmen aber immer nur krumme Summen.“

Der Drogendieb profitiert vom Verrat innerhalb einer ehrenwerten Gesellschaft von Verrätern.

Als ich im April 2011 in Bilwi war, der Hauptstadt der Autonomen Region Nordatlantik, fragte ich mehrere Quellen, von Polizisten bis zu Mitgliedern der Drogennetze, warum die Drogendiebe am Leben bleiben, wenn der Betroffene doch am Ende immer herausfindet, wer ihn bestohlen hat. Schließlich kann kaum einer ein Schnellboot oder einen Lieferwagen samt Kokainladung wie durch Zauberhand vom Markt verschwinden lassen. Auf der Karibikseite, antwortete man mir, gebe es keine ausländischen Operationsbasen, nur die lokalen, und mit denen lege man sich besser nicht an. Das Beste sei es, Drogen von den Dieben zu kaufen. Obwohl man in Regionen, wo der Transport über Land gehe wie in Rivas, besonders vorsichtig sein müsse.

„Das ist komisch, weißt du. Hier sind schon Leute umgebracht worden, weil sie 10 oder 20 Kilo geklaut haben. In so einem kleinen Dorf kennt jeder jeden. Wenn du einen verdächtigen Typen siehst ... Einer von hier weiß ganz genau, dass die ihn am Arsch kriegen können, also ruft er dich an: Hör mal, Alter, da laufen so Typen rum, die suchen den und den.“

Sogar hier, auf sicherem Boden, versucht man, Spuren zu verwischen.

„Wenn du was klaust, rufst du die Leute in Guatemala oder Honduras an. Du sagst: Stell dir vor, hier ist so und so viel von dem und dem geklaut worden ... Mach ihnen was vor! Frechheit siegt. Als Drogendieb weißt du, du packst den Stier an den Eiern. Du klaust also, sagen wir, 500 Kilo. Der Besitzer hat Konkurrenz. Die Konkurrenz kauft die geklaute Ware und verkauft sie weiter. Du weißt, dass du irgendwann auch mal verlierst.“

Im Gegensatz zu Mexiko, wo ein Narco zeigen muss, dass er mehr hat als der andere, gelten in Zentralamerika noch die Regeln der Diskretion, wie im Mexiko der achtziger und neunziger Jahre. Man verhandelt lieber, als Aufmerksamkeit zu erregen, außer, die Situation verlangt es. Mit den Worten des Narcos von Rivas: „Wer hier Scheiße baut, wandert in den Knast oder wird abgemurkst. Die Gefängnisse sind voll von Leuten, die Scheiße gebaut haben.“

Aber die erste Sicherheitsregel für einen lokalen Drogenhändler liegt in dem Adjektiv lokal: „Um einen aus Rivas zu töten, braucht es einen aus Rivas.“

Der Boss von Rivas lacht voller Stolz. Er fühlt sich wohl in seiner Festung, wo er jedes Zeichen zu deuten weiß. Wenn ein Pick-up länger als eine Stunde an der Ecke seiner Straße steht, ist es die Polizei. Wenn ihm bestimmte Autos folgen, ist es die Polizei. Wenn irgendwelche Männer in Zivil sich in einem Restaurant in seine Nähe setzen, weiß er, dass es Polizisten sind. Er kennt ihre Namen und Decknamen, er weiß, wie sie leben. Er kennt auch die Namen des Taxifahrers, des Frisörs, des Bürgermeisters und des Bootsbesitzers. Viele von denen sind ebenfalls Narcos, davon gibt es jede Menge in Zentralamerika. Sie haben die Kontrolle über ihr Stück Land, wo sie jede Pflanze und jedes Geräusch kennen. Eine Parzelle, einen Hügel, einen Strand, eine Gemeinde, eine Straße, einen Bezirk, ein Dorf. Und aus dieser kommoden Position heraus helfen sie jedem, der sich helfen lässt.

In ihrem Büro in einem der oberen Stockwerke des Polizeipräsidiums versichert mir Aminta Granera, dass die mexikanischen Drogenkartelle über keine eigene feste Basis in Nicaragua verfügen. Vordringlichste Aufgabe der Polizei sei es, gegen die „Kooperationsnetzwerke“ der Kartelle hierzulande vorzugehen. Tatsächlich hat sich in den letzten vier Jahren die Strategie der Polizei verändert. Laut Juan Ramón Gradiz, der rechten Hand von Aminta Granera, wurden früher die, „die das Rauschgift transportiert haben, festgenommen und eingeknastet, aber das Netz bestand weiter“. Jetzt verfolgen die Operationen zwei mögliche Ziele: Entweder die Drogentransporteure werden verhaftet, wenn man sie auf frischer Tat ertappt, oder man nimmt ihnen alles weg, was nur geht: Häuser, Geschäfte, Waffen, Fahrzeuge. „Wir ziehen sie aus bis aufs Hemd“, sagt Gradiz.

Eine solche Operation hieß Dominó I, sie erfolgte hier in Rivas. Danach wurden 20 Fischer, scheinbar ganz normale Leute, wegen Rauschgifthandels angeklagt; 19 weitere wegen Geldwäsche.

Die Polizei belegt den Erfolg ihrer neuen Strategie mit einer Grafik: „Beschlagnahmtes Kokain vs. Neutralisierte Zellen 2000–2011“. Darauf sind zwei Linien zu sehen, eine blaue und eine rote, sie nähern sich einander an, kreuzen sich, trennen sich, nähern sich wieder an. Die blaue Linie steht für die beschlagnahmte Menge Kokain, die im Jahr 2008 auf 15,1 Tonnen anstieg und sich dann bis 2011 auf 4,05 Tonnen verringerte. Die rote Linie zeigt die „Neutralisierung von Zellen“, die früher bei null lag und von 2005 an in die Höhe schnellte, bis sie 2010 auf 16 anstieg, genau in dem Jahr, in dem die blaue Linie ihren tiefsten Punkt erreicht. Für die Polizei liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Es wird weniger Rauschgift beschlagnahmt, weil aufgrund der Zerschlagung von Strukturen weniger Rauschgift das Land durchquert.

Für den Wissenschaftler Roberto Orozco ist diese Sicht zu einfach und außerdem falsch. Erstens, weil die Grenze weiterhin ein „offener Korridor“ ist, mit – wie er persönlich festgestellt hat – 82 unkontrollierten Übergängen. Zweitens, weil internationale Organisationen für die Andenstaaten noch immer von 850 Tonnen einer Kokainproduktion jährlich ausgehen. 90 Prozent davon werden durch Zentralamerika nach Norden transportiert. Auf Grund dieser Fakten kommt Orozco zu dem Schluss, dass, wenn der Drogenkonsum in den Vereinigten Staaten seit Jahren stabil bleibt, wenn die Produktion in den Andenländern seit Jahren stabil bleibt und wenn der Drogenkonsum in Zentralamerika und Mexiko von Jahr zu Jahr steigt, die Polizei sich irren muss, wenn sie davon ausgeht, dass immer weniger Rauschgift ihr Land durchquert.

Der Narco von Rivas versucht alle freien Unternehmer in der Region aufzuzählen. Er kommt auf rund 15 Personen und ruft noch schnell einen Freund in einem nicaraguanischen Gefängnis an, weil ihm ein Name entfallen ist.

Für den Narco von Rivas geht die Logik der Polizei nicht auf, auch wenn er einräumt, dass bei der Operation Dominó I „ein paar wirkliche Narcos“ geschnappt wurden. Beim Reden fallen ihm immer mehr Argumente ein. „Hier sind alle zugange, die Familie Michoacán, das Sinaloa-Kartell, das Kartell von Zacapa, Guatemala ... Deine Landsleute kommen her, und welche aus Costa Rica. Es sind nicht nur die Hiesigen. Aber klar, die Ausländer halten sich immer an einen von hier.“

Anscheinend herrscht kein Mangel an Kunden, und die brauchen ihren Narco vor Ort. Deswegen gibt es hier immer Narcos. Und es wird immer welche geben, glaubt der Narco von Rivas, weil das Angebot verlockender ist als andere Möglichkeiten. „Daran kann man sich halten, um zu überleben. Hier gibt es doch nur diese Sonderwirtschaftszone und das Meer und die Fische“, sagt er und breitet die Arme aus, die Handflächen nach oben, wie jemand der das Offensichtliche ausgesprochen hat. Das ist vielleicht auch typisch für den zentralamerikanischen Narco: Der freie Unternehmer, der heute große Mengen Drogen für den Meistbietenden bewegt, führte zuvor ein Leben, demgegenüber jedes andere Angebot vielversprechender schien, ein besseres Blatt auf der Hand bedeutete.

Die beiden salvadorianischen Narcos, mit denen ich gesprochen habe, haben zum Beispiel von Kindesbeinen an auf Märkten geschuftet, Lasten getragen, Unmengen von Gemüse gestapelt, Lastwagen entladen. José Adán Salazar, besser bekannt als „Chepe Diablo“, gilt bei der salvadorianischen Polizei als einer der Bosse des Texis-Kartells und wurde sogar von US-Präsident Obama auf die Liste der internationalen Drogenbosse gesetzt. Er hatte jahrelang an der Grenze zwischen El Salvador und Guatemala in brütender Hitze versucht, Quetzales gegen Colones einzutauschen (als El Salvador noch eine eigene Währung hatte), und an jedem getauschten Schein ein paar Centavos verdient. Heute ist „Chepe Diablo“ ein millionenschwerer Unternehmer.

Und in der nicaraguanischen Karibik waren viele Anführer der Zellen, die mit den kolumbianischen Narcos zusammenarbeiten, zuvor einfache Langustenfischer – ebenso wie viele Drogenpiraten vor der Atlantikküste. Sie tauchten über drei Minuten ohne Sauerstoffgerät nach den Langusten, für die sie höchstens 3 Dollar das Stück bekamen. Weiterverkauft wurden sie an Restaurants – für 10 Dollar. Viele Fischer haben wegen des Sauerstoffmangels Hirnschädigungen erlitten und liegen in ihren Hütten, können Arme und Beine nicht mehr bewegen.

Nachdem der Narco von Rivas erwähnt hat, dass es heutzutage jede Menge Kundschaft gibt, die die Dienste der freien Unternehmer von Rivas in Anspruch nimmt, denkt er laut darüber nach, was für Leute da zu ihnen kommen. Viele seien Guatemalteken und Honduraner, „nervige Leute“, aber die Salvadorianer seien ohne Zweifel die tollkühnsten, meistens Bandenmitglieder der Mara Salvatrucha (MS-13). Sie verpflichten irgendeinen einheimischen Narco, um Autos mit mehreren Kilo Kokain durchzuschleusen.

In Rivas, könnte man sagen, gibt es zwei Arten von Besuchern: Die Rucksacktouristen, die zu den Stränden von San Juan del Sur wollen, und die Narcos, die kommen, um sich einzudecken. Die Polizei hat schon Honduraner und Mexikaner mit Drogen- und Waffenladungen festgenommen. Drei der 2007 festgenommenen Mexikaner zum Beispiel stammten aus dem berüchtigten Sinaloa im Norden Mexikos, Heimatstaat der bekanntesten Drogenbosse des Landes.

Dem Narco von Rivas leuchtet ganz und gar nicht ein, was die Polizei aus dem Tanz der roten und der blauen Linien auf ihrer Grafik der Beschlagnahmungen und der neutralisierten Zellen herausliest. Um zu belegen, wie wenig einleuchtend das ist, denkt er eine Weile nach, womit er die Lage an der Grenze vergleichen könnte. „Ich glaube, jetzt gibt es hier viel mehr Drogen als in Pereira in Kolumbien.“

Um meine Fragen zu beantworten, beschließt der Narco von Rivas, jemanden anzurufen. „Sag mal, wie hieß der Kommissar, mit dem dein Freund Marcial befreundet war?“, fragt er einen seiner Kollegen.

„...“

„Und ist er noch im Dienst?“

„...“

„Hör mal, ich sitze hier mit einem Freund zusammen, und der fragt mich gerade, ob wir der Polizei irgendwann mal Geld gegeben haben.“

Der Narco von Rivas drückt auf die Lautsprechertaste, damit ich die Antwort seines Freundes hören kann, der offenbar gerade auf einer Party ist.

„Ja, klar. Sollen wir ihm einen Kontakt vermitteln?“

„Hast du mal einem Geld gegeben?“

„Hahaha!“

Leute aus Sinaloa, Bandenmitglieder, Zentralamerikaner – alle können hierher kommen. Selbst wenn sie diese Provinz wie ihre Westentasche kennen, ist das Wichtigste immer noch, von hier zu sein. Nicht, sich hier auszukennen. Von hier zu sein. Danach bemisst sich der Marktwert eines freien Unternehmers.

Hier ist ein Dorf. Das Innere der zentralamerikanischen Länder ist ein Dorf. Die zentralamerikanischen Länder sind Hauptstädte, die von Dörfern umgeben sind, die Stadt genannt werden. Und in den Dörfern kennt jeder jeden. Wenn ich zum Beispiel einem Taxifahrer den Namen des Narcos von Rivas nenne, weiß er sofort, wo er mich abholen muss.

Wer in der Drogenbranche arbeitet, muss ein Hiesiger sein

Der Narco von Rivas kommt wieder auf einen Punkt zurück, den er schon mehrmals erwähnt hat: „Wenn du niemanden bei der Polizei hast, bist du als freier Unternehmer aufgeschmissen.“ Seltsamerweise stimmen die Polizeibeamtin Aminta Granera, der Wissenschaftler vom IEEP und der Narco von Rivas in diesem Punkt völlig überein. Letzterer fasst zusammen: „Ich rede nicht von der leitenden Beamtin, ich rede nicht von den Direktoren. Ich rede von den Polizeichefs, den stellvertretenden Chefs, den Abteilungsleitern.“

Orozco glaubt immer noch, dass die Polizei seines Landes zu der besten in ganz Zentralamerika gehört, besser als die von Honduras zum Beispiel, wo „ganze Abteilungen mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten“. Er glaubt, dass die Polizei in Nicaragua vor allem „da unten“ ein Problem mit der Korruption hat, in den einzelnen Abteilungen, aber er glaubt auch, dass es entweder ausgerottet oder sich ausbreiten wird.

Information ist Macht. Das wird an einem Ort wie Rivas ganz deutlich. Es gibt Familien wie die Ponces, sagt der Narco von Rivas, die früher Fischer waren und aus einem einzigen Grund eine wichtige Drogenfamilie wurden: Sie erfuhren Dinge und kannten Leute. Zuerst haben sie auf den Landsitzen der Reichen gearbeitet, haben zugehört und Fragen gestellt, und jetzt sind sie die Statthalter des Cali-Kartells.

Doch um an Informationen heranzukommen, braucht man viele Augen und Ohren. Ich frage den Narco von Rivas nach dem Erfolgsrezept, und er fängt an, die wichtigsten Punkte aufzuzählen:

„Die Polizei, die kann dir einen Beamten an die richtige Straße stellen, und dann hast du einen treuen Hund. Sie kann dich auch fertigmachen, so dass du die Provinz verlassen musst. Dann hast du Leute, die für dich arbeiten, die die Grenze wie ihre Westentasche kennen. Die fahren mit dem Auto oder dem Motorrad voraus, du hast Leute mit Handys in La Coyota, in La Virgen oder am Ortseingang von Cárdenas. Die Taxifahrer und die von der Tankstelle, die jeden sehen, der vorbeikommt. Wenn die Polizei eine Aktion startet, verteilt sie Dollars an den Tankstellen.“

Viel sehen, viel wissen, das hat seinen Preis.

„Das Netz ist gnadenlos. Ein voll beladener Lastwagen kommt für 10 000 Dollar über die Grenze. Kontrollieren tut die Polizei. Nur die Größten benutzen den offiziellen Übergang. Wenn du drei Lastwagen rüberbringen willst, sind das 30 000 Dollar. Das kann sich kein Hiesiger leisten, der seine Tütchen verkauft und sein Kilo aus Costa Rica kommen lässt, das ist am billigsten.“ Für die weniger Großen bleiben die 82 Wege über die grüne Grenze, von denen Orozco gesprochen hat, aber egal, dann muss man einen Kundschafter bezahlen, der vorausgeht. „Wenn man viel rüberbringen will, so 200, 300 Kilo, dann kriegt der Kundschafter um die 5000 Dollar. Davon kann er sich ordentlich besaufen!“

Für einen freien Narco in Zentralamerika besteht das Geschäft darin, das Rauschgift so weit wie möglich nach Norden zu transportieren, denn Kilometer sind Dollar. Der Narco von Rivas weiß, dass für ein Kilo Kokain, das in seiner Provinz 6000 Dollar kostet, in El Salvador 11 000 bezahlt wird, in Guatemala 12 000 und in Mexiko zwischen 15 000 und 20 000, je nachdem, ob man es in Chiapas oder in Matamoros verkauft.

Der Narco von Rivas sagt, er hat jetzt keine Zeit mehr, er hat in Managua etwas zu erledigen, aber er kann mich mitnehmen und an der Tankstelle absetzen. Unterwegs zeigt er auf ein Motel, einen Gemischtwarenladen, ein Restaurant. Dazu nennt er einen Namen, den des Drogenhändlers, der ihm zufolge in das jeweilige Geschäft investiert hat. Er unterbricht, weil er einen Anruf bekommt.

„Ja, was gibt’s? ... Ja ... Also Samstag? Vier? Aber ich muss wissen, ob das auch sicher ist, ich hatte vor wegzufahren.“

Das Gespräch ist beendet. Er sieht mich an und grinst, stolz wie jemand, der etwas beweisen wollte und es nun an einem konkreten Fall auch bewiesen hat. „Samstag kommt eine Lieferung. Das Rauschgift wird knapp? Es gibt keinen Nachschub? Ha!“

Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein

Oscar Martínez ist Journalist bei El Faro, El Salvador. Sein Buch „Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika“ erscheint im März 2016 bei Antje Kunstmann, München. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.

© Verlag Antje Kunstmann 2016

Le Monde diplomatique vom 07.01.2016, von Óscar Martínez