07.01.2016

Iwan Maiski (1884–1975)

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Iwan Maiski (1884–1975)

von Dorothee d'Aprile

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Iwan Maiski stammte aus einer polnisch-jüdischen Familie in Russland – eine Herkunft, die er zeitlebens ignorierte. Der berühmte Londoner Verleger Victor Gollancz berichtete, dass Maiski „wunderbare jüdische Geschichten erzählen konnte, die er armenisch nannte, und er liebte meine Geschichten, die er ebenfalls als armenisch bezeichnete“     .

Nach dem Abitur studierte Jan Lachowiecki, wie Maiskis Geburtsname lautete, Literatur und Geschichte in Sankt Petersburg. Kurz darauf wurde er wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet. Nach seiner Freilassung schloss er sich den Menschewiki („Minderheitler“) an. So bezeichnete sich der gemäßigte Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands seit dem II. Parteitag von 1903, auf dem sich die Leninisten durchsetzten, fortan  Bolschewiki („Mehrheitler“) genannt. Wegen seiner Teilnahme an der Revolution von 1905 wurde er erneut verhaftet. Inspiriert von Sidney und Beatrice Webbs „Geschichte der Gewerkschaftsbewegung“ (1894), begann er in der Verbannung zu schreiben. Als ihm erlaubt wurde, Russland zu verlassen, zog Lachowiecki nach München, studierte Wirtschaftswissenschaften und nahm seinen neuen Namen an: Maiski (Mann des Mai).

Nach Ausbruch des ersten Balkankriegs im Herbst 1912 flüchtete er nach London, wo er sich zunächst ausgesprochen unwohl fühlte: „Nein, ich mag London nicht. Es ist groß, hässlich und dunkel“, schrieb er an seine Mutter. Doch dann lernte er Georgi Tschitscherin und Maxim Litwinow kennen, die nach der Russischen Revolution fast zwei Jahrzehnte lang die sowjetische Außenpolitik bestimmen sollten. Litwinows zukünftige Frau Ivy führte die drei in das Haus von Edith und David Eder ein, wo Maiski unter anderem Bernard Shaw und H. G. Wells kennenlernte, mit denen ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

Kurz nach der Februarrevolution 1917 kehrte Maiski nach Russland zurück und geriet als Anhänger der Menschewiki zwischen die revolutionären Fronten. Anatoli Lunatscharski, der neue Volkskommissar für Bildung und Erziehung, setzte sich bei Lenin für ihn ein. Maiski empfahl sich Lenin mit einem Drama in vier Akten („Die Gipfel“), dem er ein Zitat seines Lieblingsautors Heine voranstellte: „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten!“ Er wurde in die Partei aufgenommen und nach Omsk geschickt, wo er das erste sibirische Planwirtschaftsprogramm aufstellte.

Nach verschiedenen Posten, unter anderem als Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel), konnte er durch Litwinows Vermittlung 1925 in sein geliebtes London zurückkehren. Maiski war einer der wenigen russischen Revolutionäre, die fließend Englisch sprachen. 1927 wurden die Spannungen zwischen den beiden Ländern so groß, dass Maiski wieder abberufen wurde. Der Botschafterposten blieb zwei Jahre unbesetzt. 

Maiskis nächste Station war Tokio, wo er sich um den Kulturaustausch mit diesem „ungewöhnlichen Land“ bemühte, wie er H. G. Wells schrieb. So organisierte er ein mehrwöchiges Gastspiel des Kabuki-Theaters in Russland. Danach war er drei Jahre lang Generalbevollmächtigter in Helsinki und bereitete unter anderem den russisch-finnischen Nichtangriffspakt vor.

Im Juli 1930 löste Litwinow den kränkelnden Tschitscherin als Volkskommissar im Narkomindel ab. Maiski hoffte auf einen neuen Posten und schlug seinem alten Mentor Wien vor. Umso überraschter war er dann, als er die Botschaft in London übernehmen sollte. Tatsächlich betrachtete Stalin die Berufung Maiskis, dem wegen seiner Menschewiki-Vergangenheit stets der Ruf eines unsicheren Kantonisten anhing, als „eine Art Experiment“.

Der umtriebige Diplomat prägte einen vollkommen neuen Botschafterstil. Er bewegte sich nicht nur in der politischen Highsociety, er traf sich auch mit Hinterbänklern, Gewerkschaftsvertretern, einflussreichen Journalisten, Schriftstellern und vor allem Bankern, weil er davon ausging, dass die City maßgeblichen Einfluss auf die britische Politik ausübte. In seinen elf Londoner Jahren begegnete Maiski fünf Premierministern, zwei Königen und zahlreichen Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, von Winston Churchill über John Maynard Keynes bis Beatrice Webb. Die Enttäuschung war auf beiden Seiten groß, als Maiski 1943 abberufen wurde.

Im Februar 1945 spielte er letztmals eine offizielle Rolle, als er auf der Konferenz von Jalta als Stalins Übersetzer mit am Verhandlungstisch saß. Im Zuge der „Ärzteaffäre“, einer antisemitischen Hetzjagd auf vermeintliche innere Gegner, wurde Maiski im Februar 1953 verhaftet. 1955 kam er wieder frei. Doch seine Londoner Tagebücher, die bei seiner Verhaftung beschlagnahmt worden waren, blieben in den Archiven, bis Gabriel Gorodetsky 1993 auf sie aufmerksam wurde.Dorothee d'Aprile

Le Monde diplomatique vom 07.01.2016, von Dorothee d'Aprile