edito
Die neuen Räuberbarone
Die Schwellenländer von heute sind wahrlich keine würdigen Erben der Antikolonialisten und Antiimperialisten von gestern. Die Länder des Südens kontrollieren einen wachsenden Anteil der Weltwirtschaft. Das ist nur gerecht. Der Reichtum ist jedoch schlecht verteilt. Die Ungleichheit der Einkommen ist in Südafrika oder China noch größer als in den USA. Und die angehäuften Vermögen dienen eher dazu, Unternehmen oder westliche Luxusgüter zu kaufen, als die Lebensbedingungen und das Gesundheitswesen für die Bevölkerung in Indien, China, Afrika oder in den arabischen Ländern zu verbessern.
Dort beginnt nun wieder eine Zeit der Räuberbarone. Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich in den Vereinigten Staaten Industriemagnaten wie John D. Rockefeller, J. P. Morgan oder Cornelius Vanderbilt durch, deren Geldgier legendär war. Sie verdrängten die großen europäischen Familien aus dem Erdöl-, Transport- und Bankengeschäft. Die anfänglichen Rivalen verständigten sich bald, um die Arbeiter auszubeuten, die Dividenden ihrer Aktionäre ins Unermessliche wachsen zu lassen und die Rohstoffe der Welt auszubeuten.
Die Monarchen am Golf und die chinesischen, indischen oder russischen Oligarchen träumen von einem ähnlichen Aufstieg und einem vergleichbaren Bündnis. Wie damals die amerikanischen Bosse führen sie sich gern als Lehrmeister auf. Auf die Frage, warum der Plan, einen lothringischen Standort seines ArcelorMittal-Konzerns zu verstaatlichen, so schnell fallen gelassen wurde, bezeichnete der indische Milliardär Lakshmi Mittal diese Idee „als Sprung zurück“. Und er warnte: „Dann wird es sich ein Investor zweimal überlegen, ehe er in Frankreich investiert.“
Der russische Ministerpräsident bediente sich eines ebenso untauglichen Arguments, um eine Steuererhöhung in Paris zu kommentieren: „In Russland bezahlt man 13 Prozent Steuern, egal ob man arm oder reich ist. Man erklärt uns, die Oligarchen müssten mehr bezahlen, aber wir wollen nicht, dass das Kapital über dunkle Kanäle ins Ausland fließt.“
Auch Peking verteidigt leidenschaftlich die neoliberalen Rezepte. Im Juni hatte der chinesische Staatschef nach dem Wahlsieg der Rechten in Griechenland seine Erleichterung kundgetan. Der Direktor des größten chinesischen Staatsfonds und Aktionär von GDF-Suez hat die „überholten Sozialgesetze“ in Europa angeprangert, die „zu Faulheit und Nichtstun führen statt zu harter Arbeit“.
Der britische Historiker Perry Anderson erinnert daran, dass sich 1815 beim Wiener Kongress fünf Großmächte – Frankreich, Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen – abgesprochen hatten, um einen Krieg zu verhindern und die Revolutionen zu unterdrücken. Seiner Meinung nach wird die Welt heute erneut von einer informellen „Pentarchie“ regiert, die aus den USA, der Europäischen Union, Russland, China und Indien bestehe. Diese konservative Heilige Allianz aus rivalisierenden und doch verbündeten Mächten träumt von Stabilität. Aber in der Welt, die sie errichtet, sind neue ökonomische Verwerfungen vorprogrammiert. Und diese werden gewiss die nächsten sozialen Aufstände auslösen.
Serge Halimi