General, Kriegsverbrecher, Märtyrer
Kroatien feiert den Freispruch von Ante Gotovina und sieht sich von jeglicher Schuld befreit von Ivica Djikic
Als Ante Gotovina am 7. Dezember 2005 auf Teneriffa verhaftet wurde, zählte er zu den meistgesuchten Verbrechern dieser Welt. Der pensionierte kroatische General nahm die Verhaftung in einem Hotelrestaurant gelassen hin: Vier Jahre lang hatte er sich verstecken müssen, um sich dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ITCY) zu entziehen, der 2001 eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen ihn erhoben hatte.
Am 16. November 2012, nach fast siebenjährigen Verhandlungen, wurde Ante Gotovina vom ITCY freigesprochen und mit einem kroatischen Regierungsflugzeug nach Zagreb geflogen. Dort hat man ihn, versehen mit der Aureole eines Kriegshelden und Märtyrers, wie einen Nationalheiligen empfangen, um den sich das ganze Land begeistert scharte – vorweg die gesamte politische Führung und fast alle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Seitdem erlebt Kroatien, nicht zum ersten Mal, eine erstaunliche Verwandlung des Ante Gotovina. Er ist nicht mehr ein kampfwütiger und zorniger Krieger, sondern ein Mann nahezu sanfter Worte, der ohne die kleinste Spur von Verbitterung die Aussöhnung zwischen Menschen und Nationen verkündet und zur Achtung aller demokratischen Institutionen aufruft. Nur ein Schriftsteller wie Mario Vargas Llosa könnte die heillose Verwirrung beschreiben, die der General nach seiner Freilassung bei seinen größten Anhängern ausgelöst hat.
Ante Gotovina wurde 1955 auf der Insel Pasman vor Zadar geboren. In den 1970er Jahren hatte er sich bei der französischen Fremdenlegion verdingt und war als Fallschirmjäger und Kampftaucher ausgebildet worden. In den 1980er Jahren trat er in die Dienste prominenter Mitglieder der teils legalen, teils illegalen französischen Rechten, deren Bekanntschaft er in der Fremdenlegion gemacht hatte – aber auch in Pariser Gefängnissen, in denen er 1986 eine Strafe für Beteiligung an einem bewaffneten Raubüberfall verbüßte.
In den späten 1980er Jahren verlegte Gotovina seine Tätigkeit nach Südamerika, wo er in Söldnerkreisen verkehrte und einigen Militärdiktaturen als Ausbilder und Sicherheitsberater zu Diensten war. In Südamerika erreichte ihn auch der Ruf von Ante Rosa, einem alten Kameraden aus der Fremdenlegion, der ihn aufforderte, nach Kroatien zurückzukehren, wo sich inzwischen ein Krieg zwischen Serbien und Kroatien anbahnte. Das war im Sommer 1991.
Gotovina wurde zunächst in Slawonien eingesetzt, wo er auch verwundet wurde. Im Januar 1992 unterzeichnete er für Kroatien den Waffenstillstand zwischen der legalen und legitimen Regierung in Zagreb und den aufständischen Serben der Krajina, die von Serbien und der Jugoslawischen Volksarmee unterstützt wurden. Im Frühjahr 1992 wurde Gotovina als Oberst der kroatischen Armee zum Oberbefehlshaber der Verteidigung von Livno berufen. Diese bosnische Grenzstadt, damals vorwiegend von Kroaten bewohnt, war vor allem für die strategische Sicherheit der zweitgrößten kroatischen Stadt Split wichtig. Mit seiner Einheit stoppte Gotovina damals den Vorstoß der serbischen Panzer auf der Livnoer Ebene. Im Juli 1995 spielte er in derselben Gegend eine führende Rolle bei der Operation, die zum Ende der winzigen serbische Aufständischenrepublik Srpska Krajina beitrug.
Bei dieser Operation, „Oluja“ („Sturm“) genannt, fungierte Gotovina im Rang eines Generals als Oberbefehlshaber der Kampfzone Split, die praktisch den gesamten Süden Kroatiens umfasste und zu der auch die Krajina-Hauptstadt Knin gehörte. Die Operation dauerte drei Tage: Die Streitkräfte der Republik Serbische Krajina kamen nicht einmal dazu, ernsthaften Widerstand zu leisten, der im Übrigen gegen die gut ausgerüsteten und ausgebildeten und dazu extrem motivierten kroatischen Streitkräfte völlig vergeblich gewesen wäre.
Schon damals erwarb sich Ante Gotovina den Status eines Nationalhelden. Seine Popularität erreichte ihren eigentlichen Gipfel aber erst im Sommer 2001, als ihn das Haager Jugoslawien-Tribunal für Kriegsverbrechen während der Operation „Oluja“ verantwortlich machte und Anklage erhob. Gotovina beschloss, sich dem Haftbefehl durch Flucht zu entziehen.
Bei der „Befreiung der Krajina“ kamen mehrere hundert Zivilisten ums Leben. Über 15 000 Häuser wurden verbrannt oder vermint. Das befreite Gebiet wurde zum Schauplatz von Plünderungen und Racheakten. In ganz Kroation war damals bekannt, was geschah, und erst recht im Zentrum der Macht. Und doch rührte sich kein Protest gegen den Terror, nichts wurde unternommen, denn die Aktionen in der ehemaligen Krajina waren von den höchsten kroatischen Stellen abgesegnet.
Nach seiner Hochzeit zog er in den Krieg nach Bosnien
Aus heutiger Sicht besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Staatsführung um Präsident Franjo Tudjman den Exodus von mindestens 200 000 Serben aus Kroatien als Schritt zur Verwirklichung ihrer Träume von der Errichtung eines ethnisch homogeneren Staats gesehen hat. In den Wochen und Monaten nach der Operation „Oluja“ taten die kroatischen Behörden alles, um eine künftige Rückkehr der Serben durch administrative Maßnahmen zu verhindern. So wurden in die Häuser, die den Krieg ohne größere Schäden überstanden hatten, alsbald Kroaten aus Bosnien und Herzegowina eingewiesen.
General Ante Gotovina schaute diesem Treiben tatenlos zu. Nach seiner Hochzeit samt Flitterwochen auf See zog er weiter in den Krieg nach Bosnien. Zurück blieb sein alter Kommandobereich, in dem Raub und Mord an der Tagesordnung waren. Dabei hätte Gotovina, der bei seinen militärischen Untergebenen uneingeschränkte Autorität genoss, mit einem entschlossenen Vorgehen gegen die Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen viel bewirken können. Doch dazu wurde er von keinem seiner Vorgesetzten aufgefordert, und er selbst schien nicht auf eigene Faust handeln zu wollen.
Ante Gotovina war innerhalb der Kommandostruktur auf der mittleren Ebene angesiedelt. Über ihm standen der Verteidigungsminister als militärischer Oberbefehlshaber, die gesamte Regierung, der Generalstab und andere hohe Offiziere im Verteidigungsministerium. Sollte Gotovina bewusst gewesen sein, dass die militärische Operation „Oluja“ auch dazu diente, die serbische Bevölkerung in Kroatien auf ein „annehmbares Maß“ zu reduzieren, wird er dies keinesfalls als problematisch empfunden haben. Auf keinen Fall hätte er sich träumen lassen, dass man gerade ihn deswegen vor Gericht stellen würde. Doch weil die damalige Regierungsspitze nicht mehr belangt werden konnte – Präsident Tudjman starb 1999 –, begnügten sich die Haager Ankläger mit den Generälen, die bei der Operation „Oluja“ eine mehr oder weniger bedeutende Rolle gespielt hatten.
Gotovina war seit seiner Rückkehr nach Kroatien innerhalb von fünf Jahren zu einem in der Armee und der politischen Führung gleichermaßen angesehenen Offizier aufgestiegen, was er nicht nur seinen militärischen Talenten, sondern auch der Gunst des kroatischen Verteidigungsministers Gojko Susak und des Präsidenten Tudjman verdankte. Neben seiner militärischen Karriere stieg der General in dieser Zeit unter Mithilfe seines alten Freundes Ante Rosa auch ins Baugewerbe ein.
Die Gunst des Schicksals wendete sich, als die Kroatische Demokratische Union (HDZ) nach dem Tod Tudjmans durch die Wahlen im Januar 2000 auch noch die Macht verlor. Im darauffolgenden September veröffentlichte Gotovina an der Spitze einer Gruppe von elf noch aktiven Generälen und Admiralen einen Aufruf an die Öffentlichkeit. Darin wurde von der neuen sozialdemokratisch-liberalen Regierung unter Präsident Stjepan Mesic gefordert, ab sofort jegliche „Kriminalisierung des Heimatkriegs“ einzustellen. Kurz zuvor hatte die Regierung in Zagreb begonnen, die von Kroaten begangenen Kriegsverbrechen zu untersuchen, und ihre Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal entsprechend intensiviert.
Nur wenige Stunden nach Veröffentlichung des Aufrufs ließ Präsident Mesic alle beteiligten Generäle in den Ruhestand versetzen. Die wurden damit automatisch zu Heroen der Rechten unter Führung der HDZ, an deren Spitze seit 2000 Ivo Sanader stand. Bei den lautstarken Demonstrationen auf den Straßen wurde die Regierung beschuldigt, sie sei vor allem mit dem „Verrat nationaler Interessen“ beschäftigt.
Zwischen dem Juli 2001 und dem Dezember 2005 blieb Gotovina untergetaucht. In dieser Zeit wurde sein Schicksal zum Spielball der politischen, geheimdienstlichen und kriminellen Organisationen in Kroatien. Auch noch heute sind die Umstände und die Finanzierung seiner Flucht ebenso vom Schleier des Geheimnisses umgeben wie seine verschiedenen Aufenthaltsorte. Was inzwischen bekannt wurde, mutet allerdings eher wie ein schlechtes Drehbuch an.
Dazu gehört auch die Rolle derjenigen, die Gotovina 2005 nach Den Haag ausgeliefert haben. Einer davon war der damalige Regierungschef Ivo Sanader, der inzwischen selbst wegen Korruption zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde (ironischerweise am 20. November 2012, also nur vier Tage nach der Rückkehr Gotovinas aus Den Haag). Wobei Sanader noch andere Anklagen erwarten, weil der ehemalige kroatische Ministerpräsident gleich in mehrere Korruptionsaffären verstrickt ist.
Die zweite und wichtigere Figur bei der Verhaftung Gotovinas war Tomislav Karamarko, damals Chef des kroatischen Geheimdienstes SOA, der die entscheidende Rolle beim Aufspüren Gotovinas auf Teneriffa gespielt hatte. Karamarko ist heute der Vorsitzende der HDZ. Sanader wie Karamarko haben mittlerweile erklärt, sie schämten sich für ihre Rolle bei der Auslieferung Gotovinas. Ohne die hätte die EU allerdings keine Beitrittsverhandlungen mit Kroatien begonnen. Welche Ironie, dass heute ausgerechnet die Politiker Scham empfinden, die das Gesetz durchgesetzt und damit die Annäherung Kroatiens an die EU ermöglich haben. Welche Gründe sie dafür haben, werden sie selbst am besten wissen.
Die Rückkehr Gotovinas versetzte ganz Kroatien in Euphorie. Die gesamte Regierungsspitze, die Gesamtheit der Medien und hunderttausende Bürger bereiteten dem General einen triumphalen Empfang. Und natürlich verbreitete sich sofort die Theorie, mit dem Freispruch Gotovinas sei die Operation „Oluja“ und der ganze „Heimatkrieg“, wie man in Kroatien das Kriegsgeschehen zwischen 1992 und 1995 nennt, als völkerrechtlich zulässig und rechtmäßig anerkannt worden. Die an der serbischen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen finden nur noch beiläufig und mit höflicher Zurückhaltung Erwähnung, um meist als unbeherrschte Einzelaktionen dargestellt zu werden.
Die politische und militärische Führung versuchen also, sich von jeder Verantwortung für den Terror in der Krajina reinzuwaschen. Aber das ist ein Selbstbetrug. Denn trotz des Freispruchs aus Den Haag, den man in der Tat kontrovers beurteilen mag – wie man auch die Anklageschrift Carla del Pontes mit guten Gründen rechtlich anzweifeln kann –, sind die Fakten unbestreitbar: die vielen hundert Leichen, das systematische Abbrennen und Plündern von Häusern, die ungesühnten Verbrechen, die verfassungswidrigen Gesetze und die antiserbische Demagogie höchster Regierungsvertreter. All das ist so wahr wie die antiserbischen Hasskampagnen, die gesetzliche und ungesetzliche Verhinderung der Rückkehr geflohener – oder vertriebener – Serben. Für all das wurde bisher niemand zur Rechenschaft gezogen. Und man hat immer mehr den Eindruck, dass die Verantwortlichen an höchster Stelle auch künftig nicht belangt werden sollen.
Die Republik Kroatien, die am 1. Juli dieses Jahres der EU beitreten wird, weigert sich offensichtlich nach wie vor, die historische Wahrheit über ihre militärischen Erfolge zu ermitteln und anzunehmen. Bis vor Kurzem hatte es den Anschein, als würde dieser Selbstbetrug zunehmend infrage gestellt. Doch durch das Haager Urteil hat er neuen Auftrieb bekommen. Wenn die Kroaten in dieser Verblendung verharren, schreibt der Kommentator Marinko Culic, droht ihnen ein ähnlich „gründliches Verdammungsurteil“, wie es heute die Türkei trifft, „obwohl die Vertreibung der Armenier schon mehr als hundert Jahre her ist“.
Aus dem Kroatischen von Patrik Alac Ivica Djikic ist Schriftsteller und Journalist in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. „Cirkus Columbia“, sein erster Roman, wurde 2010 von Danis Tanovic verfilmt. „Ich habe von Elefanten geträumt“ erscheint im Juli 2013 im Verlag Antje Kunstmann. © Le Monde diplomatique, Berlin