10.12.2015

Dumm gespart

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Dumm gespart

von Heiner Ganßmann

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Mit unverhohlenem Stolz lässt Deutschlands Finanzminister Schäuble wissen, dass der Bund auch 2016 keine neuen Schulden machen wird. Die „schwarze Null“ soll ein dicker Pluspunkt für die Regierung sein: „Der deutsche Staat ist solide finanziert und handlungsfähig. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist das von entscheidender Bedeutung“, heißt es in einer Verlautbarung des Bundesfinanzministeriums.

Die schwarze Null ist populär. Aber steht sie tatsächlich für „solide“ Finanzpolitik? Die Schleifspuren dieser Politik lassen sich am klarsten an der Entwicklung der staatlichen Investitionen ablesen. Nach den Daten des Statistischen Bundesamts wird seit Jahren immer weniger investiert, vor allem von Bund und Kommunen. Schlimmer noch: Die Nettoinvestitionen bewegen sich immer weiter im negativen Bereich. Was heißt das? Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist als Bruttoinvestitionen die Ausgaben für dauerhafte Güter wie Bauten, Produktionsmittel und -anlagen aus. Davon werden die Abschreibungen abgezogen, also der geschätzte Anteil, der verbrauchte, verschlissene oder anderweitig zu erneuernde Investitionsgüter finanzieren muss. Übrig bleiben die Nettoinvestitionen: die für zusätzliche Investitionsgüter ausgegebene Summe.

Die Nettoinvestitionen sind dann negativ, wenn die Abschreibungen die Bruttoinvestitionen übersteigen, wenn also mehr Investitionsgüter verbraucht als ersetzt werden. In dem Fall schrumpfen die Produktionskapazitäten, die Infrastruktur wird vernutzt, die Produktivität stagniert. Das kann in bestimmten Bereichen erwünscht sein, wenn etwa aus ökologischen Gründen die Produktion von Braunkohle zurückgefahren wird. Auch im öffentlichen Sektor braucht man bei sinkender Geburtenrate womöglich weniger Schulen. Und noch hypothetischer: Wenn die Bevölkerung gesünder wird, sind nicht so viele Krankenhäuser nötig.

In Deutschland sinken jedoch die Nettoinvestitionen, weil wichtige staatliche Leistungen heruntergefahren werden. Als Schäuble 2009 Finanzminister wurde, lagen die staatlichen Nettoinvestitionen bei 3 Milliarden Euro. Seitdem sind sie Jahr um Jahr zurückgegangen, so dass sie 2013 fast bei null und 2014 mit 2,1 Milliarden Euro im Minus lagen. Dabei hätte man angesichts der internationalen Finanzmarktkrise eher erwarten sollen, dass der deutsche Staat seine Investitionen erhöht – und zwar spätestens 2011, als die Europäische Zentralbank den Leitzins anhob und die schwache Erholung vorzeitig abwürgte. Doch von einer solchen antizyklischen Politik wollte Schäuble nichts wissen.

Tatsächlich praktiziert die deutsche Finanzpolitik mit der Verweigerung von Investitionen eine verkappte Variante des neoliberalen Antietatismus, wie sie in den USA während der Reagan-Ära unter dem Motto „starving the beast” – die Bestie Staat aushungern – betrieben wurde. Hier rutschte der Staatshaushalt nach Steuerminderungen für die Reichen so tief ins Defizit, dass Ausgabenkürzungen unvermeidlich schienen. Die Berliner Variante begründet sich anders. Sie nutzt die semantische Verwandtschaft von „Schuld“ und „Schulden“, um eine moralische Verwandtschaft beider Begriffe zu behaupten. Obwohl Kapitalismus ohne Kredite, mithin ohne Schulden gar nicht geht, soll für den Staat gelten: Wer Schulden macht, lädt eine Schuld auf sich. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, verbietet sich die öffentliche Hand damit eine aktive Konjunkturpolitik – wenn sie nicht sogar bremsend wirkt.

Immer weniger Geld für Bildung

Nun könnte man argumentieren: Macht nichts, wir brauchen kein Wachstum auf Teufel komm raus. Damit übersieht man aber die politischen Langzeitwirkungen. Denn der deutsche Staat erfüllt heute nicht einmal mehr seine zentralen Aufgaben, etwa im Hinblick auf die Infrastrukturen, die Forschungsförderung, das Bildungs- und das Gesundheitswesen. Das hat fatale politische und ökonomische Folgen: Unzureichende staatliche Investitionen fördern zum einen die Staats- und Politikverdrossenheit, da die Bürger dem Staat nicht mehr zutrauen, das Gemeinwohl zu sichern, und sie beeinträchtigen zum anderen die volkswirtschaftlichen Zukunftschancen und Entwicklungsperspektiven. Dem hat die herrschende Meinung in Politik und Medien nur ein einziges Argument entgegenzusetzen: Die „schwarze Null“ steht doch für die Generationengerechtigkeit: Wir dürfen unsere Kinder und Enkel nicht mit Schulden belasten, nur weil „wir“ uns jetzt ein schönes Leben machen wollen.

Diese Behauptung ist dummdreist. Es stimmt zwar, dass die heutige Generation die Lebenschancen künftiger Generationen positiv oder negativ beeinflussen kann. Aber die Behauptung ist dumm, weil erstens eine jede Generation nur vom jeweils aktuellen Sozialprodukt leben kann, ob mit Schulden oder ohne. Und weil zweitens im Hinblick auf die Staatsschulden gilt, dass nicht nur die Schuldner-, sondern auch die Gläubigerrolle weitergereicht wird. Viele Kinder und Enkel werden also der Lasten der Staatsverschuldung dadurch enthoben, dass sie die Bundesschatzbriefe ihrer Eltern erben.

Dreist ist die Behauptung, wenn man sich den Zustand des deutschen Bildungswesens vor Augen führt, das für die Zukunftschancen der heranwachsenden Generation entscheidend ist. Hier ist die Bilanz der öffentlichen Hand höchst negativ. Vor allem auf Ebene der Kommunen, wo die Bruttoinvestitionen im Bildungsbereich von 2010 bis 2014 von 6,7 auf 5,6 Milliarden Euro gefallen sind.

Das klingt nach keinem großen Rückgang, aber zugleich weisen die Nettoinvestitionen auf kommunaler Ebene insgesamt seit 2008 ständig ein Minus aus, und zwar jährlich zwischen 3 und 7 Milliarden Euro. Dieser erhebliche Investitionsrückstand hat Folgen auch für die Bildungseinrichtungen und Ausbildungskapazitäten. Zwar braucht man keine Investitionen, um eine Lehrerin einzustellen, aber ihr Arbeitsplatz erfordert Investitionen, genauso wie die Instandhaltung der Schultoiletten. Der naheliegende Einwand, dass bei rückläufigen Schülerzahlen weniger Investitionen erforderlich sind, wird irrelevant, wenn jahrelang gar keine Gelder mehr geflossen sind. Schäubles Staat kann sich als „solide finanziert und handlungsfähig“ behaupten, weil er gar nicht erst handelt. So viel zu den Zukunftschancen der nachwachsenden Generationen.

Ist deshalb die schwarze Null, die dem Wahlvolk als weise Selbstbeschränkung der Politik angepriesen wird, nur die Ausgeburt eines fiskalischen Sadismus? Die Politik der schwarzen Null mag einer fragwürdigen psychischen Disposition entspringen, aber ein Blick auf das neoliberale Denken macht uns klar, dass sie auf einer ganz bestimmten Theorie, dem Monetarismus, beruht.

Einstein soll gesagt haben: Wer immer wieder das Gleiche tut, aber ein unterschiedliches Ergebnis erwartet, ist unzurechnungsfähig. Nach diesem Diktum wären die Anhänger des Monetarismus nicht ganz bei Trost: Seit der Abschaffung des Goldstandards haben monetaristische Ökonomen und Politiker versucht, dessen Wirkungsweise zu simulieren. Bis dahin sollte die Geldmenge an die Goldmenge gebunden sein, aber da die Geldmenge in einer Krise nicht ausreichte, um ein kreditgestütztes System aufrechtzuerhalten, musste man es „gesundschrumpfen“.

Machtinstrument der schwarzen Null

Auch heute behaupten die Monetaristen, dass man in einer Krise – wenn fast alle zahlen müssen, aber nur wenige zahlen können – nicht etwa mehr Geld in den Kreislauf einspeisen, sondern stattdessen sparen müsse. Das Resultat ist vorhersehbar. Wenn alle sparen wollen, um ihre Schulden zu bezahlen, kann kaum jemand tatsächlich sparen, weil insgesamt nicht genug Geld ausgegeben wird, um ein Schrumpfen der Wirtschaft zu verhindern. Und während Warenpreise und Vermögenswerte fallen, bleiben die Schulden ungeschmälert bestehen. Obwohl sich die Krise verschärft, predigt der Monetaristenchor das Gebot weiterer Entbehrungen – und das tröstende Versprechen, dass die Härten, die das staatlich verordnete Sparregime den Ärmeren zumutet, irgendwann später kompensiert werden.

Wie allerdings mittels Austerität die Rückkehr zu einem stabilen Wachstum ermöglicht werden soll, darüber schweigen sich die Monetaristen aus. Ihr Rezept enthält deshalb eine mystische Zutat. Sie heißt „Vertrauen“: Irgendwo im Nebel der Krisenlandschaft dösen „Investoren“, die irgendwann, vom Zauberstab einer Fee berührt, aus dem Schlaf erwachen und ihre Schatzkiste öffnen werden, um die lahmende Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Zu der Frage, wie weit es abwärtsgehen muss, bevor es wieder aufwärtsgeht, sang Peggy Lee einst: „Whenever you’re down and out, the only way is up.“ Langfristig kann das nicht ausbleiben, behaupten die Monetaristen. Langfristig, meinte dazu Keynes, als er noch lebte, langfristig sind wir alle tot.

Mit schwarzer Null und Schuldenbremse entmachtet sich die Politik selbst durch Regelbindung und überantwortet uns den Marktkräften. Angesichts der Ahnungslosigkeit in wirtschaftlichen Grundfragen, wie sie die heute dominierende Politikergeneration immer wieder demonstriert, ist man fast versucht, sich darüber zu freuen. Doch leider sind die Regeln nicht interessenneutral.

Die schwarze Null ist zugleich ein Machtinstrument, das es ermöglichen soll, ein Maximum des verteilbaren Volkseinkommens dem politischen Zugriff zu entziehen. Geschieht dies nicht, könnte es in einer Demokratie ja passieren, dass die Finanzpolitik dem Mehrheitswillen des Wahlvolks folgt. Diese Möglichkeit, die allerdings in Deutschland schon lange nicht mehr wahrgenommen wurde, muss der kluge Neoliberale vorsorglich blockieren. Das Expertenwissen soll uns sagen, dass es nicht darauf ankommt, was das Volk denkt oder will. Entscheidend ist vielmehr das „Vertrauen“ der „Investoren“. Das sind Leute, die erst dann Geld „anlegen”, wenn sie dem Schuldner glauben, dass es samt Zinsen pünktlich und ohne Verlust an sie zurückfließt.

Wir stehen also vor der absurden Konstellation, dass die staatlich-politischen Akteure ausgerechnet bei denen um Vertrauen buhlen, denen nach der Finanzkrise niemand mehr vertraut. Wenn Schäuble sagt: „Der deutsche Staat ist solide und handlungsfähig“, sagt er eigentlich: Der deutsche Staat wird seine Schulden jederzeit bedienen, auch wenn er normale Staatsaufgaben vernachlässigt, soweit sie Investitionen erfordern.

Das Frankfurter Zentralorgan der Exportüberschussnation hat es so ausgedrückt: „Die schwarze Null muss, solange es geht, stehen bleiben.“ Die Frage ist, wie lange es geht.

Heiner Ganßmann ist Soziologe und Autor u. a.von „Doing Money. Elementary Monetary Theory from a Sociological Standpoint“, New York (Routledge) 2011. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.12.2015, von Heiner Ganßmann