Fluchtweg Ägäis
von Niels Kadritzke
Viele der Probleme, die sich zur griechischen Krise summieren, haben ihren Ursprung in politischen Versäumnissen und Strukturdefekten der Gesellschaft. Es gibt jedoch ein Problem, für das die Griechen keinerlei Mitverantwortung tragen. Der Strom von Flüchtlingen, der Staat und Gesellschaft heillos überfordert, hat seine Ursachen in der geografischen Lage Griechenlands und in blutigen Konflikten und Kriegen anderer Regionen.
Ende 2015 werden mehr als 600 000 Flüchtlinge in Griechenland angekommen sein, die allermeisten auf den Inseln Mytelene (Lesbos), Chios, Samos, Leros und Kos. Allein in Mytelene setzten seit August mehr als 200 000 Menschen, meist auf Schlauchbooten, von der türkischen Küste über. In der Ostägäis sind dieses Jahr schon 435 Menschen ertrunken.
Dass sich die Flüchtlinge, die zu 60 Prozent aus Syrien kommen, auf diesen gefährlichen Weg machen, liegt an der strengen Überwachung der türkisch-griechischen Landgrenze in Thrakien. Seit dort Ende 2012 ein Grenzzaun errichtet wurde, hat sich das Geschäft der Schlepper und Schleuser verlagert, die jetzt an der türkischen Westküste große Kasse machen.
Diese Entwicklung ist für eine Insel wie Lesbos eine riesige Herausforderung. Zwar werden die Ankömmlinge seit September mit Fährschiffen nach Piräus und ins nordgriechische Kavala gebracht. Dennoch halten sich ständig mindestens 10 000 Flüchtlinge auf Lesbos auf, das 80 000 Einwohner hat. Das zentrale „Identifikationslager“ in dem Dorf Moria wird gerade zu einem der fünf „Hotspots“ ausgebaut, in denen die Flüchtlinge registriert werden sollen, bevor sie aufs griechische Festland transportiert und anschließend auf die EU-Länder verteilt werden. Bis Ende November sollen weitere Hotspots auf Chios, Samos, Leros und Kos entstehen.
Die EU hat Athen zusätzlich verpflichtet, eine Aufnahmekapazität für 30 000 Flüchtlinge zu schaffen, weitere 20 000 sollen auf Rechnung der UNHCR in Wohnungen untergebracht werden. Bislang sind die griechischen Behörden mit der Welle der Flüchtlinge völlig überfordert. Ohne die aufopferungsvolle Betreuung durch viele ausländische Freiwillige und die lokale Zivilgesellschaft wäre die humanitäre Lage noch viel katastrophaler.
Die kommunalen Verwaltungen tun ihr Bestes (mit Ausnahme von Kos, wo ein xenophober Bürgermeister den Flüchtlingen das Leben schwermacht), obwohl ihre finanziellen und personellen Mittel angesichts der Krise extrem beschränkt sind. Deshalb wollen andere EU-Länder geschultes Personal für die Bearbeitung der Asylanträge abstellen. Nur so kann man die Flüchtlinge schneller in Richtung Mitteleuropa weiterleiten – falls sich die EU-Staaten endlich auf einen Verteilerschlüssel einigen.
Am 4. November wurden die ersten 30 syrischen Flüchtlinge von Athen nach Luxemburg geflogen. Aber das war nur „ein Tropfen in den Ozean“, wie Tsipras erklärte. Die griechische Regierung plädiert ohnehin – wie die UNHCR – für eine radikalere Lösung: Wenn Registrierungszentren schon in der Türkei etabliert würden, könnten syrische Asylanwärter direkt in EU-Aufnahmeländer fliegen, ohne ihr Leben in den Winterstürmen der Ägäis zu riskieren. Das setzt allerdings eine Form europäischer Solidarität voraus, die noch nicht einmal im Ansatz zu sehen ist.
Über dieses Konzept will Tsipras mit der türkischen Regierung verhandeln, wenn er am 17. November nach Ankara reist. Dort will er auch eine Vereinbarung über die gemeinsame Bekämpfung der Schlepper und Schleuser erzielen. Wie Migrationsminister Ioannis Mouzalas erklärte, will man ist allerdings keinesfalls Flüchtlingsboote auf See abfangen. Die einzige Methode, die Schleuserbanden zu bekämpfen, sei die Schaffung legaler Fluchtwege.⇥N. K.