Viele Kompromisse und nichts erreicht
Die vier Irrtümer des Mahmud Abbas
von Nathan Thrall
Die Messerattacken, Schießereien, Proteste und gewaltsamen Zusammenstöße in Jerusalem, im Westjordanland, in Gaza und in Israel während der letzten Wochen stellen für den palästinensischen Präsidenten Abbas und seine Strategie der bilateralen Verhandlungen, der Diplomatie und der Sicherheitszusammenarbeit mit Israel eine der bislang größten Herausforderungen dar. Der Aufruhr, deren unmittelbarer Auslöser die stärkere Begrenzung des Zugangs zur Al-Aksa-Moschee für Palästinenser war, spiegelt das auf palästinensischer Seite vorherrschende Gefühl wider, dass ihre politische Führung gescheitert ist, dass sie ihre nationalen Rechte, wenn nötig, auch unabhängig von der politischen Führung verteidigen muss und dass die Ära von Mahmud Abbas zu Ende geht.
Als Abbas 2005 an die Macht kam, war klar, dass der Zeitrahmen, in dem er politische Resultate liefern musste, sehr begrenzt war. Er war eher ein Funktionär denn ein charismatischer Revolutionsführer wie Jassir Arafat und galt als geeignete Übergangslösung, um die verheerenden Jahre der zweiten Intifada hinter sich zu lassen. Als er im Januar 2005 zum Präsidenten gewählt wurde, waren die Palästinenser geschlagen und erschöpft. Sie brauchten eine Führungsfigur, die Gewalt ablehnte, international anerkannt war und die für die politische und finanzielle Unterstützung sorgen konnte, die nötig war, um eine Gesellschaft am Ende ihrer Kräfte wiederaufzubauen.
Zu diesem Zeitpunkt war die Fatah zersplittert und hatte ihre Glaubwürdigkeit verloren: Der Oslo-Friedensprozess war gescheitert, Korruptionsskandale waren an der Tagesordnung, und die Bewegung hatte ihre Strategie der nationalen Befreiung aufgegeben, bevor die Unabhängigkeit erreicht war. Abbas, der schon seit den 1970er Jahren den Kontakt zu Israel gesucht hatte, schien eine ausreichend harmlose Figur für den Übergang zu sein. Zudem hatte er keine wirklichen Konkurrenten: Hamas nahm nicht an der Präsidentschaftswahl teil; die Fatah-Führer aus der Gründungsphase waren Jahre zuvor ermordet worden, und Marwan Barghuthi, ein in Palästina beliebter Politiker, der seit 2002 in einem israelischen Gefängnis saß, zog seine Kandidatur zurück. Zudem wurde Abbas von der gerade wiedergewählten Bush-Administration unterstützt.
Niemand ging zu dieser Zeit davon aus, dass diese Situation anhalten würde. Die Müdigkeit der Palästinenser würde schwinden, sie würden wieder gegen Israel kämpfen, Gaza und das Westjordanland würden wiederaufgebaut werden, und die Hamas würde sich nicht für immer aus der Politik heraushalten. Die anhaltende Besatzung würde den Widerstand erneut anheizen, und eine politische Führung, die diesen Widerstand unterdrückte, würde ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
Kein Entgegenkommen der Israelis
Zudem würde eine neue Generation von Palästinensern heranwachsen, ohne Erinnerung an die Kosten der Intifada und ohne Verständnis dafür, dass ihre Eltern den Kampf gegen die israelische Armee eingestellt hatten und sogar mit ihr kooperierten; und zwar im Rahmen von Abkommen, die Abbas ausgehandelt hatte.
Abbas’ politisches Überleben hing davon ab, ob er es schaffte, maßgebliche Erfolge zu erzielen, bevor diese absehbaren Entwicklungen eintraten. Dabei beruhte seine Politik auf vier Annahmen, die jede für sich ein gewisses Risiko bargen: Erstens rechnete Abbas damit, dass die israelische Regierung den Palästinensern in Bezug auf die Unabhängigkeit vertrauen würde, wenn man ihr Sicherheitsgarantien gäbe, die palästinensische Bevölkerung streng überwachte und den Widerstand gegen die Besatzung unterdrückte. Zweitens ging Abbas davon aus, dass die USA Druck auf Israel ausüben würden, um es zu den für die Errichtung eines palästinensischen Staats notwendigen Zugeständnissen zu bewegen. Immerhin war die palästinensische Seite den Forderungen Washingtons nach einem Verzicht auf Gewalt, dem Aufbau von Institutionen und der Abhaltung demokratischer Wahlen nachgekommen.
Abbas glaubte auch, drittens, dass die Hamas nach einer Einladung, an den Parlamentswahlen teilzunehmen, zwar genug Sitze erringen würde, um in den politischen Prozess eingebunden zu werden, aber zu wenige, um selbst die Macht zu übernehmen. Und viertens war er überzeugt, dass ihm ein Wirtschaftsaufschwung im Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und ein Wiederaufbau der Institutionen genug Zeit geben würden, um die Staatlichkeit Palästinas zu erreichen.
Alle vier Annahmen erwiesen sich als falsch. Israel betrachtete die Sicherheitszusammenarbeit als selbstverständlich, und die israelische Öffentlichkeit forderte ihre Regierung nicht dazu auf, Abbas für seine friedliche Strategie zu belohnen. Die USA übten nicht den notwendigen Druck aus, um Israel maßgebliche Zugeständnisse abzuringen. Hamas gewann 2006 die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat, übernahm die Kontrolle in Gaza und weigerte sich, Abbas’ politisches Programm zu übernehmen. (Indes trug der Sieg der Hamas Abbas auch mehr internationale Unterstützung ein, weil die internationale Gemeinschaft nun nicht mehr die Demokratie fördern, sondern sie lieber verhindern wollte.)
Und die Bevölkerung des Westjordanlands, die auf die Jobs der PA und deren wirtschaftliche Infrastruktur angewiesen ist, hegte gleichzeitig einen gewissen Groll gegen die Behörde. Heute haben die Palästinenser jeden Glauben verloren, dass Abbas’ Strategie noch Erfolg haben könnte. Laut einer Umfrage vom September wollen zwei Drittel der Bevölkerung im Westjordanland und Gaza, dass er zurücktritt.
Als das politische Scheitern von Abbas offenkundig wurde, nahmen die Palästinenser die Angelegenheiten selbst in die Hand. Zunächst geschah dies in Gebieten außerhalb der Kontrolle durch die PA: In Jerusalem, in Gaza, in israelischen Gefängnissen sowie in den Dörfern und Flüchtlingslagern außerhalb des Kompetenzbereichs der PA. Seit Anfang Oktober ist die Lage eskaliert, mit Gewalt und Protesten im israelischen Kernland, in Gaza, Jerusalem und sogar Teilen der PA-kontrollierten Gebiete im Westjordanland.
Für Abbas ist diese Entwicklung bedrohlich. Ein echter Aufstand (eine dritte Intifada) könnte die Sicherheitskooperation mit der Besatzungsmacht unhaltbar machen. In diesem Fall hätte Abbas nur noch wenige Mittel zur Verfügung, um seine einzigen politischen Rivalen – die Hamas – zu unterdrücken und ihre Mitglieder zu inhaftieren. Gleichzeitig würde eine solche Entwicklung neuen politischen Rivalen Tür und Tor öffnen. Gewalt bedeutet automatisch eine Schwächung von Abbas’ Position, denn sein größter Trumpf war stets sein internationales Ansehen. Wenn die Gewalt zunimmt, könnte das Ausland ihn dafür verurteilen, dass er nicht genug tut, um die Situation zu beruhigen. Zu Hause hingegen würde man ihm vorwerfen, zu viel zu tun. Wenn sich die Sicherheitssituation weiter verschlechtert, wird Israel ihn zunehmend überflüssig finden und andere Kräfte stärken, von denen es annimmt, sie seien eher in der Lage, den Aufstand zu unterdrücken.
Keine Mehrheit für eine dritte Intifada
Für den Moment stehen die Wetten noch gegen diejenigen, die versuchen, die Zusammenstöße und Gewaltausbrüche in einen anhaltenden Aufstand zu verwandeln. Bis jetzt waren die Angriffe und Proteste zerstreut, unorganisiert und unkoordiniert, ohne eine Strategie oder klare Ziele.
Viele Palästinenser glauben, dass erst große Opfer zu Resultaten führen: Die israelische Bereitschaft zu territorialen Zugeständnissen gegenüber den Palästinensern war auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada im März 2002 am größten. Allerdings sind nur wenige auf palästinensischer Seite bereit, diesen Preis erneut zu bezahlen. Bis jetzt erreicht die Zahl der Protestierenden nirgendwo auch nur annähernd das Ausmaß der ersten und zweiten Intifada. Und sie haben sich auch nicht gegen die PA gewandt – obwohl diese, zusammen mit Israel, das größte Hindernis für eine Veränderung des Status quo darstellt. Die Palästinenser haben keinen Zweifel daran, dass Abbas’ kooperative Strategie gescheitert ist. Aber sie haben auch wenig Hoffnung, dass die Alternativen erfolgreicher wären.
Bis jetzt haben es die Sicherheitskräfte der PA weitgehend vermieden, gewaltsam gegen die antiisraelischen Proteste vorzugehen. Ihre Zusammenarbeit mit Israel haben sie vor den Augen der Öffentlichkeit nach Möglichkeit versteckt. Die israelische Armee scheint indes aus zwei Intifadas ihre Lehren gezogen zu haben: Sie gibt sich Mühe, die Spannungen nicht weiter zu verschärfen, etwa durch die Verhängung von Ausgangssperren oder den Entzug von Papieren, die das Verlassen der palästinensischen Gebiete und das Arbeiten in Israel erlauben. Und bei den Palästinensern hängen viele Existenzen weiterhin von der PA ab, deren Überleben durch einen neuen Aufstand gefährdet wäre.
Nach fast 49 Jahren israelischer Besatzung im Westjordanland und Ostjerusalem fällt es schwer, weiterhin die Ansicht zu vertreten, diese sei auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Aber auch wenn sie haltbar ist, hat sie ihren Preis.
Die Gewalt der letzten Wochen bedeutet, dass die Kosten der Okkupation wieder steigen. Für Israel ist das zwar unangenehm, aber bis jetzt ist der Preis für das Festhalten an Ostjerusalem und dem Westjordanland noch tragbar. Für die Palästinenser zeigen Gewalt und Proteste noch etwas anderes: Ihre gespaltene nationale Bewegung mag nicht stark genug sein, um ihre Ziele zu erreichen, aber deren einzelne Teile sind noch nicht zu schwach, als dass sie aufgeben würden.
Aus dem Englischen von Jakob Farah
Nathan Thrall ist Analyst der International Crisis Group in Jerusalem.
© London Review of Books, www.lrb.co.uk; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin