12.11.2015

Parlamentarismus auf brasilianisch

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Parlamentarismus auf brasilianisch

Gekaufte Mehrheiten, lokale Loyalitäten und Parteien ohne Programm

von Lamia Oualalou

Im Regierungspalast Planalto UESLEI MARCELINO/reuters
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Brasilien steckt in einer dreifachen Krise: ökonomisch, politisch und institutionell. Nach zwölf Jahren Wachstum rutscht der lateinamerikanische Riese tief in die Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in diesem Jahr um 3 Prozent sinken. Bei rasant steigender Arbeitslosigkeit (fast 8 Prozent gegenüber 4 Prozent 2014) und einer hohen Inflationsrate (2015 voraussichtlich 9,5 Prozent) ist auch für 2006 ein Minuswachstum zu erwarten.

Mittlerweile wird Präsidentin Dilma Rousseff nicht einmal mehr von 10 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Seit dem Sommer musste sie eine ganze Reihe von Niederlagen einstecken. Im September trieb das oberste Wahlgericht (Tribunal Superior Eleitoral) die Ermittlungen zur Finanzierung ihres Wahlkampfs von 2014 voran. Am 7. Oktober erklärte der Nationale Rechnungshof den Staatshaushalt von 2014 für ungültig und empfahl dem Parlament die Ablehnung des Budgets. Eine solche Entscheidung hat es seit 1937 nicht mehr gegeben.

Nach Ansicht der Richter hat die Regierung vorsätzlich die Zahlen manipuliert, um vor den Wahlen das Ausmaß des öffentlichen Defizits zu verschleiern. Die rechte Opposition hält den Tatbestand des „verantwortungslosen Regierens“ für erfüllt. Das ist nach der brasilianischen Verfassung von 1988 ein hinreichender Grund für die Amtsenthebung des Staatschefs. Dieses Verfahren muss das Parlament in Gang bringen – und das stellt sich heute mehr denn je gegen die präsidentielle Autorität.

Der brasilianische Nationalkongress besteht seit der Unabhängigkeit, die Brasilien im Jahr 1824 ohne Gewalt und ohne Krieg mit der portugiesischen Krone erlangte, was für eine weitgehende Kontinuität in den alten Machtstrukturen sorgte. Der Kongress besteht aus dem Bundessenat (81 Senatoren) und der Abgeordnetenkammer (513 Abgeordnete).

Beide Häuser haben noch niemals wirklich sämtliche Bevölkerungsschichten repräsentiert. Darauf spielte 1993 der Präsidentschaftskandidat der Partei der Arbeiter (PT), Luiz Inácio „Lula“ da Silva an, als er bissig kommentierte: Das Parlament stehe unter Kontrolle einer Mehrheit von „dreihundert Picaretas“, was Gauner, Betrüger oder Opportunisten beuten kann.

Lulas Spruch machte Furore. Die Band Os Paralamas do Sucesso rappte: „Luiz Inácio hat gesagt, Luiz Inácio hat gewarnt / Es sind dreihundert Picaretas mit Doktorhut.“ Als Luiz Inácio dann 2002 zum Präsidenten gewählt wurde, entschied er sich für Pragmatismus und lernte, den Geschmähten Honig ums Maul zu schmieren.

Seit 1993 hat sich nichts geändert: Der typische Parlamentarier ist auch 2014 „ein weißer Mann um die fünfzig an der Spitze eines Unternehmens, mit Universitätsabschluss und einem Vermögen von mehr als einer Million Reais“.1 So formuliert es Edson Sardinha auf der Website Congresso em Foco, die täglich die Arbeit des Parlaments beobachtet. Und die Studie „Donos da Mídia“ befand 2008, dass 271 Parlamentarier direkt oder indirekt mit einem Presseunternehmen verbunden sind, obwohl die Verfassung dies untersagt.2

Dreihundert Gauner mit Doktorhut

Das politische System Brasiliens sorgt dafür, dass der Graben zwischen Bevölkerung und Parlament erhalten bleibt. Laut Verfassung erfolgt die Aufteilung der 513 Sitze unter die 26 Staaten plus den Bundesdistrikt Brasília im Prinzip proportional zur Bevölkerungszahl, aber es gibt Einschränkungen: Ein Bundesstaat darf nicht weniger als 8 und nicht mehr als 70 Abgeordnete entsenden. Damit ist Roraima mit weniger als 500 000 Einwohnern weit über- und São Paulo mit 44 Millionen weit unterrepräsentiert. Noch stärker ist die Asymmetrie im Senat, wo jeder Bundesstaat drei Senatoren stellt. Das System begünstigt also die bevölkerungsarmen Staaten und die lokalen Kaziken, die in den Parteien vor Ort das Sagen haben. Sie werden von Interessengruppen angeheuert, verkaufen sich teuer und wechseln bei Bedarf die Partei, was allerdings seit einer Reform von 2007 weniger verbreitet ist.

Eine weitere Besonderheit ist das System der Verhältniswahl mit offener Liste, bei dem der Wähler entweder für einen Kandidaten oder für eine Liste (Einzelpartei oder Koalition) stimmen kann. Die Zahl der Sitze für jede Liste ergibt sich aus einer komplexen Berechnung des sogenannten Wahlquotienten: Die Summe der Stimmen für die Einzelkandidaten und für die Parteien oder Koalitionen wird durch die Anzahl der Sitze geteilt, die dem Wahlbezirk zustehen. Auf diese Weise verschafft ein Kandidat, der eine große Anzahl von Stimmen erzielt, anderen Listenkandidaten mit nur wenigen Stimmen einen Sitz im Parlament.

Da die Wahlkoalitionen oft rechte und linke Gruppierungen umfassen, kann es passieren, dass man eine Menschenrechtsaktivistin wählt, aber einen Homophoben, der die landlosen Bauern vertreiben will, mit in den Kongress befördert.

Dieses System zwingt die Parteien, bekannte und öffentlichkeitswirksame Persönlichkeiten als puxadores de voto („Stimmensauger“) zu hofieren. Da in Brasilien Wahlpflicht besteht und mehr als die Hälfte der Wähler nicht einmal die mittlere Reife hat, kann ein bekannter Name viel erreichen. Und zwar umso mehr, als auch über den Präsidenten, den Gouverneur, den Senator, den Abgeordneten für das Nationalparlament und den Abgeordneten für das Parlament des Bundesstaats abgestimmt wird. 2010 war der Kandidat, der mit 1,3 Millionen Stimmen das beste Ergebnis erzielte, der Clown Francisco Everardo Oliveira da Silva alias „Tiririca“, der ohne jegliche politische Erfahrung, aber äußerst populär war. Dank ihm kamen 24 Kandidaten seiner Koalition ins Parlament, die es allein niemals geschafft hätten.

So funktioniert das auch mit ehemaligen Sportstars, wie dem Fußballer Romário de Souza Faria, mit Polizisten, evangelikalen Fernsehpredigern3 oder den Kindern bekannter Politikerdynastien. Der Jurastudent Uldurico Júnior wurde 2014 mit 22 Jahren im Bundesstaat Bahia als Nachfolger seines Vaters, des Abgeordneten Uldurico Pinto, gewählt. Wie der gewerkschaftliche Beirat im Parlament, Diap, ermittelt hat, verdanken 211 Abgeordnete ihre Wahl vor allem familiären Beziehungen.

Rousseffs Kontrollverlust

Da es keine staatliche Finanzierung von Wahlkampfkosten gibt, kann man ohne eigenes Vermögen oder üppige Spenden praktisch nicht kandidieren. Das Wahlgericht schätzt die Wahlkampfkosten einer Partei im Jahr 2014 pro Abgeordneten auf 6,4 Millionen Reais (circa 1,5 Millionen Euro), fast dreimal so viel wie zwölf Jahre zuvor. Bezahlt werden damit Werbespots, die Honorare von Spindoktoren und logistische Kosten, die in dem Riesenland enorm sind. Alle großen Parteien unterhalten eine caixa 2 („Kasse 2“) für illegale Wahlkampffinanzierung.

Nach einem lange umkämpften Gesetz und einer Entscheidung des obersten Gerichtshofs ist die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmen seit Oktober 2015 offiziell untersagt. Aber dass die Korruption deshalb tatsächlich abnimmt, ist keineswegs garantiert.

Da es im brasilianischen Wahlrecht keine Prozenthürden gibt, sind im Parlament derzeit 28 Parteien und Gruppierungen vertreten – sechs mehr als in der vorigen Legislaturperiode. Keine Fraktion verfügt über eine signifikante relative Mehrheit. Die führende PT von Dilma Rousseff hat nur 69 Sitze. Auch ein Präsident, der mit breiter Mehrheit gewählt wurde, muss wegen der Fragmentierung des Parlament ständig verhandeln, um sich eine parlamentarische Basis zu besorgen. Während der Präsidentschaft Lulas wurde die PT 2008 beschuldigt, Abgeordneten anderer Parteien regelmäßig Bestechungsgelder zu zahlen, um sich deren Stimmen zu sichern. Diese als mensalāo („Monatszahlung“) bezeichnete Praxis wurde nie offiziell bewiesen, aber der Skandal illustriert, wie schwer es ist, stabile Mehrheiten zu bilden.

Laut Verfassung kann die Regierung nicht nur Minister berufen und andere Posten verteilen, sie entscheidet letztlich auch über die Finanzierung von öffentlichen Projekten, also den Bau einer Brücke, einer Straße oder eines medizinischen Zentrums. Wenn sie ein solches Projekt in einem bestimmten Wahlbezirk genehmigt, kann der lokale Abgeordnete bei seinen Wählern punkten. Und wird dafür die Regierung unterstützen.

Aber es kann auch anders laufen, erklärt Paulo Peres, Politologe an der Universität Rio Grande do Sul: „Für die Parteien ist es verlockend, eine Allianz mit der Regierung zu schließen. Aber wenn diese schwach ist und kein Talent oder keine Bereitschaft für solche Verhandlungen hat, kann der Mechanismus zur Falle werden.“ Die „Alliierten“ der Regierung können sie leicht erpressen und sich damit Geld und Posten auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen verschaffen. In genau dieser Situation befindet sich die Regierung Rousseff.

Die brasilianischen Parteien haben ein unklares ideologisches Profil. Die Positionen der einzelnen Repräsentanten können ganz verschieden sein und hängen häufig von der lokalen Basis ab. Anfang Oktober bot die Präsidentin ihrem Koalitionspartner, der politisch diffusen Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB), zusätzliche Ministerposten an, weil sie hoffte, die PMDB-Abgeordneten würden dann das gegen sie eingeleitete Amtsenthebungsverfahren blockieren. Aber dann konnte sie nur die Vertreter des Bundesstaats Rio de Janeiro auf ihre Seite ziehen. Deren PMDB-Kollegen aus dem Staat Santa Catarina sind dagegen für den Austritt aus der Regierung, da sie befürchten, dass Rousseffs Unbeliebtheit ihnen bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr schadet. Die Loyalität der Abgeordneten gilt oft nicht ihrer Fraktion, sondern einem Politiker, der nicht unbedingt dem Parlament angehört, etwa einem Gouverneur oder Bürgermeister.

Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit hatte Rousseff die Funktionsweise dieses Systems ignoriert und Eduardo Cunha, den Chef der PMDB-Fraktion, gründlich düpiert. Im Februar 2015 versuchte sie, dessen Wahl zum Parlamentspräsident zu verhindern –und schuf sich damit einen mächtigen Feind. Zahlreiche Abgeordnete, auch außerhalb der PMBD-Hochburg Rio de Janeiro, stehen zu Cunha, der ihnen Wahlkampfzuschüsse befreundeter Unternehmen verschafft hatte.

Als Herr über die Tagesordnung im Parlament hat Cunha zahlreiche konservative Gesetzentwürfe begünstigt, die zum Beispiel Arbeitnehmerrechte beschränken und die Strafmündigkeit auf 16 Jahre herabsetzen. Zudem torpediert er die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses über einen großen Skandal, der Betrügereien und Unterschlagungen im System der Krankenversicherungen betrifft.

Cunha setzt sich nicht immer durch, aber er lässt auch nie locker. Und stets erinnert er „seine“ Abgeordneten daran, dass sie ihm verpflichtet sind. Eine Untersuchung der Universität von Campina Grande hat vor Kurzem herausgefunden, dass 140 Parlamentarier, ein Viertel der Abgeordneten, Cunhas Empfehlungen folgen, obwohl seine Partei nur 65 Sitze innehat. Diese Abgeordneten nennt man im Parlamentsjargon die bancada Cunha, („Cunhas Bankreihe“).

Ursprünglich bezeichnete Bancada die Zugehörigkeit zu einer Fraktion (etwa zur Bancada der PT oder der PMDB), aber der Begriff hat seine Bedeutung in dem Maß verloren, wie die Macht der Lobbygruppen zunahm. Im zersplitterten Parlament von heute vertreten die neu definierten Bancadas partikulare Interessen. Die können sich auf ganz unterschiedliche Themen beziehen, auch auf zivilgesellschaftliche, moralische, ökologische oder geschlechtsspezifische Forderungen, erläutert Antonio de Queiroz von der Diap.

Die beiden größten Gruppen sind jedoch die Repräsentanten des agroindustriellen Komplexes (153 Abgeordnete) und der Unternehmerschaft (217). Nach de Queiros gibt es „Bancadas der Evangelikalen, der Gewerkschafter, der Frauen und der Vorkämpfer für die Sicherheit; Vertreter von Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Verkehrsinfrastruktur sind da weniger engagiert“. Die evangelikalen Abgeordneten versammeln sich am Dienstagabend zu einer Arbeitssitzung und am Mittwoch früh zur Andacht; die Interessenvertreter der Krankenversicherungen koordinieren ihre Aktionen nur vor wichtigen Abstimmungen. Diese Zusammenschlüsse haben einen Teil ihrer Macht eingebüßt, seit der Bundesgerichtshof 2007 die „Anhängertreue“, eine Art milden Fraktionszwangs, festgeschrieben hat. Seitdem können die Parteien von ihren Abgeordneten geschlossenes Abstimmen verlangen, Abweichungen sind nur im Ausnahmefall erlaubt.

Eduardo Cunha hat überall die Hände im Spiel: Er organisiert die Aktivitäten der Evangelikalen, zu denen er zählt, aber auch die der Sicherheits-Bancada, die für repressive Maßnahmen kämpft, und natürlich die seiner eigenen Partei. Da er in den Korruptionsskandal um den Staatskonzern Petrobras verstrickt ist,4 wird er demnächst wahrscheinlich seinen Posten als Parlamentspräsident verlieren. Dennoch dürfte er seine Macht behalten und auch die Wahl seines Nachfolgers beeinflussen. Sein Ausscheiden aus der ersten Reihe wird der Präsidentin nicht unbedingt nützen. Sie hat den Fehler gemacht, die Streitereien innerhalb der PMDB zu schüren, und sich damit noch mehr Feinde gemacht

Rousseff kann wohl auch nicht mehr mit der Unterstützung der sozialen Bewegungen rechnen, die von ihrer Sparpolitik und der Annäherung an die konservativsten Kräfte des Landes irritiert sind.5 „Wenn die Regierung will, dass man sie auf der Straße verteidigt, soll sie uns dafür Gründe liefern“, erklärt Guilherme Boulos, Anführer der Bewegung der obdachlosen Arbeiter.

Boulos, ein Hoffnungsträger der Linken, fordert die Präsidentin auf, ihre Strategie fragwürdiger Absprachen mit den Abgeordneten aufzugeben: „Sie muss über das Parlament hinaus denken und auf die soziale Mobilisierung setzen. Sonst bekommen wir die reaktionärste Regierung der neueren Geschichte.“

Aber im linken Lager ist der Optimismus eher gedämpft. Man erinnert sich, dass auch Lula nicht einmal auf dem Höhepunkt seiner Popularität die Konfrontation mit dem Parlament gewagt hat, um eine echte politische Reform durchzudrücken.

1 Eine Million Reais entsprien knapp 250 000 Euro.

2 donosdamidia.com.br.

3 Vgl. Lamia Oualalou, „Brasilien liebt Jesus. Der Vormarsch der Evangelikalen in Politik, Gesellschaft und Medien“, Le Monde diplomatique, Oktober 2014.

4 Im Prozess um die Petrobras-Affäre beschuldigte der Angeklagte Júlio Camargo Eduardo Cunha, 5 Millionen US-Dollar Schmiergeld für einen Deal zwischen Petrobras und dem Schiffsbauunternehmen Toyo Setal gefordert zu haben.

5 Siehe Breno Altman, „Rousseffs Kehrtwende“, Le Monde diplomatique, April 2015.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Lamia Oualalou ist Journalistin in Rio de Janeiro.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2015, von Lamia Oualalou