08.10.2015

Datenströme und Verkehrsnetze

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Datenströme und Verkehrsnetze

von Evgeny Morozov

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Seit das Silicon Valley die Welt verdrahtet hat, wird jede Kritik an technologischen Innovationen gleich zum Verrat an den Idealen der Aufklärung: Google-Gründer Larry Page und Facebook-Chef Mark Zuckerberg sind nämlich die Reinkarnationen von Voltaire und Diderot.

Etwas Seltsames ist geschehen: Irgendwie muss uns entgangen sein, dass zwischen dem Niedergang des öffentlichen Sektors und dem Aufstieg technologischer Start-ups ein direkter Zusammenhang besteht. Als beispielsweise über das ausufernde Angebot an kostenlosen Onlinekursen (Mas­sive Open Online Courses, MOOCs) berichtet wurde, fiel kein Wort über die gleichzeitig sinkenden Hochschulbudgets. Nein, die MOOC-Mania ist nur eine natürliche Folge der allgemeinen Silicon-Valley-Begeisterung. Zu Selfmade-Unternehmern gewandelte Hacker haben die Universitäten eben nur genauso aufgemischt wie zuvor die Musikwelt oder den Journalismus.

Auch als die sogenannten Fitness-Apps aufkamen, wurden keinerlei Verbindungen zur alternden Gesellschaft und deren Herausforderungen für das angeschlagene Gesundheitssystem gezogen. Letzteres durchlebe gerade seinen „Napster Moment“, lautete nur der zynische Kommentar in Anspielung auf die Musiktauschbörse. An weiteren Beispielen mangelt es nicht – vom notgedrungenen Crowdfunding öffentlicher Kultureinrichtungen bis zur Begeisterung für eine Software, die Polizisten helfen soll, Verbrechen zu antizipieren („Predictive Policing“).

Ein sprechendes Beispiel für die Wechselbeziehung zwischen finanzieller Not und technologischer Innovation ist die Geschichte des Comedy-Clubs Teatreneu in Barcelona. Wie zahlreiche spanische Kultureinrichtungen litt auch der Club unter rückläufigen Besucherzahlen. Der Hintergrund: Die Regierung hatte die Mehrwertsteuer auf Eintrittskarten von 8 auf 21 Prozent erhöht. Die Teatreneu-Chefs fanden eine geniale Lösung: In Zusammenarbeit mit der Werbeagentur Cyranos McCann wurden an der Rückseite der Stuhllehnen schicke Tablets angebracht, die die Mimik des Publikums analysieren. Seitdem ist der Eintritt frei, mit einem Haken: Der Zuschauer muss für jedes vom Tablet aufgezeichnete Lachen 30 Cent zahlen (allerdings werden nicht mehr als 24 Euro, sprich 80 Lacher, pro Show berechnet). Eine Smartphone-App erleichtert die Zahlung. Der durchschnittliche Ticketpreis soll seitdem um 6 Euro gestiegen sein.

Aus Silicon-Valley-Perspektive ein Paradebeispiel für eine gelungene technologische Umwälzung: Im Zusammenspiel von intelligenten Sensoren und dem Internet entstehen neue lohnende Geschäftsmodelle. Außerdem schafft es Arbeitsplätze für zahlreiche Lieferanten von Hard- und Software. Noch nie war es so simpel, Dienstleistungen oder Waren zu bezahlen. Unsere Smartphones – und mitunter unsere Pässe – erledigen die Arbeit für uns. So kooperiert beispielsweise Mastercard mit der nigerianischen Regierung, um einen auch als Kreditkarte nutzbaren Personalausweis einzuführen.

Es ist ja durchaus zu begrüßen, den Bezahlvorgang als solchen zu vereinfachen. Aber sollten wir uns nicht auch darüber Gedanken machen, wie leicht es dadurch geworden ist, uns für immer mehr Dinge mehr Geld abzuknöpfen? Die Abkehr vom Bargeld mag für viele ein gutes Geschäft sein. Aber wollen wir das wirklich? Bargeld hinterlässt keine Spuren. Bezahle ich hingegen mit dem Smartphone, hinterlasse ich sofort Spuren im Netz, die von Werbeagenturen und anderen Unternehmen ausgewertet werden können. Somit ist ein auf elektronischem Weg abgeschlossenes Geschäft im Gegensatz zum Bareinkauf niemals wirklich abgeschlossen.

Die technologische Umwälzung hat jedoch nichts mit der Technik als solcher zu tun. Sie wird vielmehr von den politischen und wirtschaftlichen Krisen angetrieben, während sie unser Leben und unsere Interaktionen grundlegend verändert. Werte wie Solidarität lassen sich in einem technologischen Umfeld, das seine großen Gewinne gerade aus der Personalisierung und einzigartigen, individuellen Erfahrung zieht, nur schwer aufrechterhalten. Verantwortlich dafür sind viel bedrohlichere Phänomene als die Digitalisierung und das Internet. Nicht dem Technikfetisch ist es zuzuschreiben, dass der Einzelne für die Kosten der wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen aufkommen muss.

Nehmen wir das Beispiel Uber: Nachdem sich von Indien bis Frankreich viele Gerichte auf die populäre Fahrdienst-App Uber eingeschossen haben, hat das Unternehmen eine Charmeoffensive gestartet. Plötzlich betont die sich bislang kompromisslos gebende Geschäftsführung, wie wichtig die Regulierung der Taxibranche sei. Offenbar hat sie verstanden, warum das Unternehmen zur Zielscheibe geworden ist: Es verhält sich einfach zu fies. Bei einem der letzten Winterstürme in den USA ist Uber deshalb auch von seinem viel kritisierten „Surge Pricing“ abgerückt, bei steigender Nachfrage die Fahrpreise zu erhöhen.

Das ist aber noch längst nicht alles. In einem genialen Schachzug hat Uber einem einst hartnäckigen Widersacher – der Stadt Boston – Zugang zu seinen anonymisierten Daten verschafft. Die Stadt erhofft sich dadurch weniger Verkehrsstaus und eine verbesserte Stadtplanung. Es ist natürlich purer Zufall, dass Bostons Bundesstaat Massachusetts vor Kurzem eines der größten Geschäftshemmnisse für Uber beseitigt hat, indem übers Internet vermittelte Fahrdienste legalisiert wurden.

Uber folgt damit dem Beispiel kleinerer Start-ups, die Stadtplanern und Behörden ihre Daten zur Verfügung stellen. Dem eigenen Bekunden nach verwenden Letztere diese Daten für mehr Bürgerbeteiligung, empirische Erkenntnisse und die Förderung von Innovationen. Im US-Staat Oregon schloss etwa Strava, Anbieter einer beliebten Smartphone-App für Radtouren, einen Vertrag mit dem Verkehrsamt ab, das dafür eine saftige Lizenz zahlt. Stravas Daten sollen dazu genutzt werden, Fahrradwege zu optimieren oder alternative Routen zu planen.

Ubers neue Rolle als nützliche, für jeden Stadtplaner unverzichtbare Datenquelle fügt sich in die vom Silicon Valley propagierten sogenannten Solutionismus ein. Demnach treffen wir nur dann falsche Entscheidungen, wenn nicht genügend Daten über unser Verhalten vorliegen. Technologieunternehmen, die sich einer der wichtigsten Ressourcen unserer Zeit – eben dieser Daten – bemächtigt haben, dringen nun auch in die chronisch klammen Kommunen ein und präsentieren sich als deren unverzichtbare, wohlmeinende Retter. Stadtverwaltungen, die sich mit Uber einlassen, riskieren jedoch eine erhebliche Abhängigkeit von den Datenströmen des Unternehmens. Die Städte sollten lieber selbst Mittel und Wege finden, um diese Daten zu erheben. Erst dann könnten Anbieter wie Uber zum Zuge kommen und auf Grundlage der städtisch gesammelten Daten eine Dienstleistung aufbauen.

Uber ist nur deshalb so effektiv, weil es alle Schlüsseldaten kontrolliert: Unsere Smartphones leiten alle für die Planung eines Fahrdienstes erforderlichen Informationen an Uber. Würde die Kontrolle über die Daten auf die Städte übergehen, wäre Uber wohl kaum die 40 Milliarden Dollar wert, auf die das Unternehmen aktuell geschätzt wird. Ein Algorithmus, der Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmt, kann ja wohl kaum so teuer sein.

Eine App für die Stadt

Städte wie New York und Chicago, die vonseiten der Taxibranche stark unter Druck stehen, haben offensichtlich inzwischen begriffen, wie wichtig eine gemeinsame, technologisch überzeugende Reaktion auf Ubers Attacke ist. Beide Städte arbeiten an der Einführung einer zentralisierten Taxi-App, die nicht nur Ubers Vormachtstellung brechen, sondern auch verhindern soll, dass Reisedaten zu einer teuren Ware werden.

Richtig knifflig wird es erst, wenn die City-App auch mit anderen Verkehrsmitteln koordiniert werden soll. Dagegen ist Uber einfach: Kaum haben Sie die App auf Ihrem Smartphone geöffnet, taucht auch schon ein Auto auf, das Sie an Ihr Ziel bringt. Das funktioniert vor allem in US-Städten wie Los Angeles gut, wo Fußgänger praktisch nicht vorgesehen sind. Warum sollte dies aber als Vorbild für den Rest der Welt dienen? Nur weil Zufußgehen aus Ubers Sicht unprofitabel ist? Die Standardkritik am „Solutionismus“, Probleme auf eine Weise zu definieren, die nur dem Lieferanten der „Lösung“ etwas bringt, trifft hier voll und ganz zu.

Stellen Sie sich dagegen vor, was eine Uber-unabhängige City-App alles könnte: Sie würden zuerst das öffentliche Leihrad nehmen, dann vielleicht in einen Minibus umsteigen und den Rest zu Fuß zurücklegen, weil Sie noch über den schönen Markt schlendern möchten, der gerade heute stattfindet. In Helsinki gibt es schon so etwas Ähnliches, den Rufbus „Kutsuplus“, der in Kooperation zwischen der Stadt und dem Start-up Ajelo entstand. Der öffentliche Bus wird via Smartphone wie ein privates Taxi bestellt, dann berechnet das System für jeden Fahrgast, wie lange die Fahrt mit dem Bus und anderen Verkehrsmitteln voraussichtlich dauert.

Uber und vergleichbare Anbieter sind wahrlich nicht die Einzigen, die einen effizienten Nahverkehr organisieren können. Damit aber Projekte wie Kutsuplus auch eine Zukunft haben, muss geklärt werden, wer die Basisdaten und die zu ihrer Erhebung genutzten Sensoren besitzt. Überließe man sie Uber oder, noch schlimmer, den Technologieriesen, die an der lukrativen „Smart City“ mitverdienen wollen, nähme man den Kommunen die Möglichkeit, den innerstädtischen Verkehr flexibel zu gestalten.

Stellen Sie sich vor, welche Möglichkeiten ein Netz von automatisierten Kennzeichenlesern in Kombination mit intelligenten Ampeln und Straßen böte: Durch diese Infrastruktur ließen sich Uber-Autos ganz ähnlich ausfindig machen und verfolgen wie durch die Smartphones der Uber-Fahrer und -Passagiere. Hier soll nicht etwa eine Lanze für mehr Überwachung gebrochen werden. Vielmehr geht es darum, dass Uber das Eigentum an Daten beanspruchen könnte, die dem Unternehmen nicht gehören.

Uber kommt aus Kalifornien, dessen öffentliches Nahverkehrssystem notorisch unterentwickelt ist. Das ist aber noch lange kein Grund, auch zukünftig aufs Auto zu setzen. Im Gegenteil, es muss wieder mehr in die öffentliche Infrastruktur investiert werden. Die Städte dürfen sich nicht auf Uber verlassen, um aus weniger mehr zu machen, und das auch noch mit dem Gerede von Innovation und Partizipation verbrämen.

Aus dem Englischen von Markus Greiß

Evgeny Morozov ist Journalist und Blogger.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2015, von Evgeny Morozov