09.07.2015

Solitudes Kampf

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Solitudes Kampf

von Jacques Denis

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In seinem Roman „Die Mulattin Soli­tude“ (Volk und Welt, 1975) erzählt André Schwarz-Bart die wahre Geschichte einer Sklavin, die 1802 an dem Aufstand gegen die napoleonischen Truppen teilnahm. Eine Statue in Pointe-à-Pitre erinnert an jene finstere Episode der Inselgeschichte, die in den aus Frankreich übernommenen Geschichtsbüchern nicht vorkommt.

Solitude wollte lieber sterben, als in die Sklaverei zurückzukehren; so ähnlich lauteten auch die letzten Worte von Oberst Louis Delgrès aus Martinique, der von Napoleons Truppen am 28. Mai 1802 besiegt wurde. Solitude war schwanger. Man ließ sie ihr Kind noch gebären, bevor sie am 29. November öffentlich erhängt wurde.

Acht Jahre zuvor hatte das revolutionäre Frankreich die Sklaverei in seinen Kolonien zwar offiziell abgeschafft. Doch die Lobby der Plantagenbesitzer war der Meinung, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte könne nicht auf die Schwarzen angewandt werden. Am 4. Februar 1794 wurde die Diskussion vom Nationalkonvent entschieden: „Alle Menschen, die in den Kolonien beheimatet sind, werden ohne Ansehen der Hautfarbe französische Bürger und ge­nießen alle von der Verfassung verbürgten Rechte.“ Trommler verkündeten die frohe Botschaft auf den Plantagen, welche die Sklaven sofort verließen.

Das war das Ende von mehr als 150 Jahren Ausbeutung durch die Zuckerbarone, die auf ihren Plantagen eine Schreckensherrschaft etabliert hatten. Grundlage ihrer Herrschaft war der 1685 erlassene Code Noir, dessen Artikel 44 die Sklaven auf den Status „beweglicher Güter“ reduzierte. Drei Jahrhunderte nach ihrer „Entdeckung“ durch Christoph Kolumbus gab es fast 3000 Sklaven auf der Insel. Die Franzosen importierten massenhaft Arbeitskräfte aus zahlreichen Regionen Afrikas wie Ghana, Togo, Dahomey (Benin), Elfenbeinküste, Nigeria, Kamerun, Gabun, Kongo und Angola. Daran erinnern die den verschiedenen Herkunftsländern der Sklaven gewidmeten Steinstufen gegenüber dem Denkmal für den ­Gwo-ka-Trommler auf Grande-Terre, eine der beiden Hauptinseln von Guadeloupe.

Solitudes Mutter wurde an Bord eines Sklavenschiffs vergewaltigt, ihre Tochter kam 1772 zur Welt und durchlebte die Hölle auf Erden: Ketten, Fußeisen, Fesseln, Halseisen, Abschnürbinden, Eisenhalsbänder und -masken. Kerkerhaft und Lynchmorde bestimmten den Alltag der Sklaven auf den Plantagen. 1794 schloss sie sich einer Gemeinschaft von bereits zu Kolonialzeiten entflohenen Sklaven (Maroons) an, bevor sie wie viele andere zu den Truppen von Louis Delgrès stieß, einem erfahrenen Offizier der Revolutionsarmee, der nach Napoleons Machtübernahme in den Widerstand gegangen war.

Der Kampf dauerte über ein Jahr. Nach seinem Sieg dekretierte Napoleon zwar die Rückkehr zu den alten Verhältnissen und die schwarzen Bürger von Guadeloupe wurden abermals versklavt. Doch nichts war mehr wie zuvor. Bis heute hat sich das Jahr 1802 ins Gedächtnis der Insel eingebrannt – vermutlich ebenso tief wie der 27. April 1848, als die Sklaverei auf Initiative des Abgeordneten Victor Schœlcher zum zweiten Mal und diesmal endgültig abgeschafft wurde.

J. D.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2015, von Jacques Denis