11.06.2015

Eulex unter Verdacht

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Eulex unter Verdacht

Korruption und andere Merkwürdigkeiten bei der Kosovo-Mission der Europäischen Union

von Ana Otaševi

Flüchtlinge aus dem Kosovo an der serbischen Grenze DARKO VOJINOVIC/ap
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Seit Sommer 2014 sollen etwa 100 000 Kosovaren versucht haben, in die Europäische Union einzureisen. Mit Beginn dieses Frühjahrs hat der Strom weiter zugenommen. Jeden Tag fahren ganze Familien quer durch Serbien bis zur ungarischen Grenze. Nach Angaben der Belgrader Behörden haben 60 000 Kosovo-Albaner einen serbischen Pass beantragt, um ein EU-Visum zu erhalten.

„Sieben Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit und der Unterordnung des Kosovo unter die Vormundschaft der EU stehen wir vor einem Debakel“, sagt Andrea Capussela, ehemaliger Direktor für Wirtschaftsangelegenheiten beim International Civilian Office (ICO) der EU, das im März 2012 aufgelöst wurde. „Die Situation ist schlimmer als vor Beginn der europäischen Mission“, meint Capussela, der gerade eine Streitschrift gegen die Politik der Europäischen Union auf dem Balkan veröffentlicht hat.1 Darin zieht er nicht nur die Wirksamkeit der EU-Investitionen in Zweifel – von 1999 bis 2013 flossen mehr als 5 Milliarden Euro nach Kosovo –, sondern auch die Glaubwürdigkeit der EU-Außenpolitik insgesamt.

Seit vergangenen Herbst versucht die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini den Brand zu löschen, den Eulex im Kosovo gelegt hat. Die seit Februar 2008 tätige Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union soll die polizeilichen und  rechtsstaatlichen Institutionen im Kosovo stärken. Sie ist mit einem jährlichen Etat von 111 Millionen Euro ausgestattet und beschäftigt 1600 Personen, die insbesondere gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorgehen sollen. Doch einige Mitarbeiter werden selbst der Unterschlagung verdächtigt, während der Mission vorgeworfen wird, die Missstände gedeckt zu haben.

„Ein Jahr lang haben sie die Untersuchung torpediert“, sagt die britische Staatsanwältin Maria Bamieh, die den Skandal ins Rollen brachte. Bamieh arbeitete für eine unabhängige Untersuchungseinheit, die innerhalb der EU-Mission Ermittlungen durchführte. 2012 informierte sie ihre Vorgesetzten über einen Korruptionsverdacht gegen zwei hohe Eulex-Mitarbeiter: den italienischen Richter Francesco Florit, damals Präsident der Eulex-Richterversammlung, und die Leitende Staatsanwältin Jaroslava Novotná.

Bamieh stützte ihre Anschuldigungen auf abgehörte Telefonate der Sekretärin des kosovarischen Gesundheitsministers Ilir Tolaj, gegen den 2010 wegen Korruption und Steuerhinterziehung ermittelt wurde. Die Gesprächspartner der Sekretärin hatten ihr empfohlen, die beiden Eulex-Justizbeamten zu kontaktieren, denn die würden sich verständnisvoll zeigen …2

Bamieh deckte weitere kompromittierende Vorfälle auf. Die betrafen insbesondere den ehemaligen kosovarischen Transportminister Fatmir Limaj, der wegen organisierter Kriminalität und Veruntreuung verurteilt wurde, und Enver Sekiraqa, einen kleinen Mafiaboss aus Pristina, dem die Beteiligung an einem Bombenattentat vorgeworfen wird. Doch kurioserweise verschwand Bamiehs Bericht in der Versenkung und die Anschuldigungen wurden nicht weiter verfolgt.

Im Oktober 2014 gelangte die größte kosovarische Tageszeitung Koha Ditore in den Besitz von Auszügen des Berichts und veröffentlichte ein Interview mit Catherine Fearon, der Beraterin des neuen Eulex-Chefs Gabriele Meucci. Die Journalistin Vehbi Kajtazi behauptete, Fearon habe sie bei einem Treffen aufgefordert, ihre Quellen preiszugeben, und ihr mit rechtlichen Schritten gedroht. Trotz des Drucks begann die Zeitung am 27. Oktober 2014 mit der Veröffentlichung ihrer Rechercheergebnisse.

In Folge der Enthüllungen wurde Maria Bamieh vom Dienst suspendiert, „wegen Burnout“, gab Eulex-Chef Meucci zu Protokoll. Zudem warf er der Britin vor, Informationen an die Presse weitergegeben zu haben.

Seither beschuldigt die nach London zurückgekehrte Bamieh ihre Exvorgesetzten, sie hätten eine zu große Nähe zu den mächtigen Politikern im Kosovo aufgebaut, die im Zentrum der strafrechtlichen Ermittlungen durch Eulex stehen: „Wie können wir unsere Mission erfüllen, wenn unsere Chefs mit kosovarischen Mafiosi und Politikern zu Abend essen, die der Korruption verdächtigt werden?“

Die EU-Außenbeauftragte Mogherini ordnete daraufhin eine Untersuchung an, die Jean-Paul Jacqué leitete, einst Chef des Instituts für höhere europäische Studien (IEP) an der Uni Straßburg und von 1992 bis 2008 Leiter des juristischen Diensts des Rats der EU, derjenigen Institution, die die Eulex-Mission mandatiert hat.

In seinem Bericht, der am 14. April veröffentlicht wurde, stellt Jacqué fest, es habe keine Vertuschung einer Affäre gegeben; stattdessen wird eine Reihe von verwaltungsrechtlichen Fehlern angeführt. Brüssel sei über das Dokument, das die Verdachtsmomente bei Eulex ausführlich darlegt, nicht ausreichend informiert worden. Die Eulex-Verantwortlichen hätten mit einer Untersuchung abgewartet, weil sie den Inhalt der Telefonmitschnitte für „nicht besonders glaubwürdig“ hielten.

Jacqué kommt allerdings zu dem Schluss, dass eine Untersuchung „von Beginn an hätte eröffnet werden müssen“, nachdem Maria Bamieh ihre Hinweise weitergegeben hatte. Was die Drohungen gegen Kajtazi3 angeht, stellt der Bericht fest, die Beraterin des Eulex-Chefs habe „die Journalistin vor der Verbreitung von Informationen bezüglich der Kriminalfälle gewarnt, weil dies gegen kosovarisches Recht verstößt“.

Andrea Capusalla überzeugt diese Antwort nicht: „So zu tun, als sei nichts geschehen, ist die schlimmste aller Reaktionen,“ sagt der italienische Experte. „Wenn Eulex Journalisten in einem Land, in dem die Pressefreiheit sehr begrenzt ist, tatsächlich bedroht, hätte die EU die Beraterin lieber austauschen und ein starkes Signal senden sollen, dass wir unsere Prinzipien ernst nehmen.“

Der Jacqué-Bericht unterscheidet sich gleichwohl von den offiziellen Verlautbarungen der europäischen Institutionen, die in der Eulex-Mission im Kosovo ein Modell für rechtsstaatlichen Wiederaufbau sehen wollen. Jacqué konstatiert gravierende Unregelmäßigkeiten und beschreibt die „allgegenwärtige“ Korruption im Land, wobei „auch der Justizbereich keine Ausnahme“ darstelle. Sieben Jahre Arbeit mit dem Ziel, einen Rechtsstaat aufzubauen, hätten nicht ausgereicht, um den Amtsmissbrauch zu beseitigen. Dabei müsste es doch möglich gewesen sein, „die Grundlagen für ein System zu schaffen, das in der Lage ist, die Korruption zu bekämpfen“. Den für 2016 anvisierten Rückzug von Eulex hält Jacqué für verfrüht, weil das lokale Justizsystem bestimmte Aufgaben noch nicht bewältigen könne.

Die kosovarische Elite wird in Ruhe gelassen

In einem offenen Brief an Jacqué wertete Bamieh seinen Bericht als enttäuschend und schwammig: er sei eher eine interne Aktennotiz als ein unabhängiger Untersuchungsbericht. Aus den Abschriften der Telefonate gehe hervor, „dass das Geld geflossen ist“, betont Bamieh und bemängelt zugleich, dass die oberste Staatsanwältin Novotna in Jacqués Bericht gar nicht auftaucht. Zudem bedauert sie, dass die Untersuchungen gegen den Richter Florit erst 2013 begannen, nachdem auch der deutsche Geheimdienst belastendes Material geliefert hatte, und nicht schon nach dem Bericht, den sie selbst ihren Vorgesetzten bereits 2012 vorgelegt hatte. Bamieh nennt auch Namen von ehemaligen Kollegen, die sie unterstützt hatten und deshalb aus Eulex ausscheiden mussten.

Die Affäre ist ein weiterer Rückschlag für die Glaubwürdigkeit der EU. Vorausgegangen waren Fehler und Mängel bei der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Auch der Bericht des US-Staatsanwalts Clint Williamson über den Organhandel und die Verbrechen der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) harrt noch immer einer juristischen Aufarbeitung.4 „Wir beklagen Korruption und organisierte Kriminalität, aber wir sagen nie, dass wir es waren, die ein halb konsolidiertes autoritäres System installiert haben, und dass eine kriminelle Elite, die aus der UÇK hervorgegangen ist, die öffentlichen Kassen plündert und sich an die Macht klammert“, schimpft Capusella, der vier Jahre für die EU im Kosovo gearbeitet hat.

Die UÇK war die größte Guerilla-Gruppe im Konflikt von 1999 und wurde damals vom Westen unterstützt. Nach dem Nato-Bombardement und der Kapitulation Serbiens übernahm sie die Macht im Kosovo. Nach den Ermittlungen der ICTY-Anklägerin Carla Del Ponte und des Berichterstatters Dick Marty, ist diese Miliz für Übergriffe auf serbische Zivilisten, Roma und albanische Oppositionelle verantwortlich. Ein Teil der Morde, Entführungen und Folterungen, die in den ersten Nachkriegsjahren von der UÇK verübt wurden, geschahen unter den Augen der Nato-Truppen und der Interimsverwaltung der Vereinten Nationen im Kosovo (Unmik), deren erster Leiter der Franzose Bernard Kouchner war.

„Die Mission war nicht in der Lage die Zivilisten zu schützen“, meint Chris Decker, der 1999 im Auftrag der International Crisis Group ins Kosovo kam und später für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) arbeitete. Die Polizeikräfte der UNO seien schlecht ausgerüstet und überhaupt nicht vorbereitet gewesen. „Die internationale Gemeinschaft macht immer dieselben Fehler“, sagt Decker, der zwölf Jahre lang im Kosovo tätig war: „Zuerst wird militärisch interveniert, und dann überlässt man die Macht den kriminellen Elementen und verhindert so den Aufbau eines Rechtsstaats.“

Auch im Kosovo hat man von Anfang an die lokale Elite in Ruhe gelassen. Die „großen Fische“ zu behelligen, hätte womöglich die etablierte Ordnung erschüttert und zu Unruhen geführt. Eulex scheint sich genauso zu verhalten. Für Carla Del Ponte steht fest, dass nicht nur ihre Mission, sondern der ganze Friedensprozess auf dem Balkan durch die obersten UÇK-Führer gefährdet war. Insbesondere die beiden UÇK-Führer Hashim Thaçi und Agim Çeku (von 2006 bis 2014 als Regierungschefs des Kosovo) wären laut Del Ponte in der Lage gewesen „Gewaltausbrüche in Mazedonien, im Süden Serbiens und in anderen Regionen zu provozieren, indem sie rebellische albanische Minderheiten zum bewaffneten Kampf aufriefen.“5

„Anfangs war ich verwundert über die Nachlässigkeit, Inkompetenz und Trägheit, die innerhalb der Eulex-Mission herrschten“, erzählt Capusella. „Später begriff ich, dass dies zum Teil durch politische Entscheidungen zu erklären war.“ Und durch eine Kultur der Straflosigkeit, die allen internationalen Missionen gemeinsam ist, weil deren Mitglieder rechtlich nicht belangt werden können. „Die Entsendeländer wollen nicht, dass ihre Repräsentanten vor Gericht landen können“, sagt Sian Jones, Kosovo-Spezialist bei Amnesty International.

Capusellas Buch enthält eine Liste der schlimmsten Fehler von Eulex im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich wie auch hinsichtlich der Menschenrechte. Demnach hat die Kosovo-Mission weder zu den Korrup­tions­affären im Zusammenhang mit Privatisierungen (Telekommunikation, Zementindustrie), Landenteignungen oder Straßenbauaufträgen, noch wegen des mutmaßlichen Wahlbetrugs oder der Einschüchterung von Journalisten Ermittlungen aufgenommen. Selbst in Fällen von politisch motiviertem Mord und von Kriegsverbrechen hat sich Eulex nicht gerührt.

Noch schlimmer ist, das Eulex auch Unschuldige verfolgt hat. Über vier Monate saß zum Beispiel der Gouverneur der kosovarischen Zentralbank in Haft, ohne dass die Mission belastendes Material vorgelegt hätte. Die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt. Ein italienischer Ökonom, der die Anschuldigungen für wenig glaubwürdig hielt, geht davon aus, dass der Zentralbanker ausgeschaltet wurde, weil er den Interessen einiger mächtiger Leute im Wege gestanden hatte. Vor allem hatte er sich geweigert, einen Geldtransfer an drei Banken im Nahen Osten abzuwickeln.

Während die Korruption im Kosovo um sich greift und die Verantwortlichen straflos ausgehen, wachsen die Spannungen. Die politische Klasse, allen voran der starke Mann Hashim Thaçi, versucht die Aufmerksamkeit auf die Nachbarländer zu lenken, meint Capusella: „Über ihre Netzwerke können sie Unruhen in Mazedonien anzetteln, wo die Situation sehr instabil ist, oder gegen die Serben im Kosovo, oder gegen EU-Vertreter.“ So gibt man Brüssel und Washington zu verstehen: „Ihr überschreitet eine rote Linie.“ Dass die herrschende Klasse im Kosovo Gewalt zu instrumentalisieren versteht, glaubt auch Chris Decker, der an die früheren Angriffe gegen Serben und andere Minderheiten erinnert: „Hätte es 2004 keine Unruhen gegeben, wäre der Druck für die Unabhängigkeit nicht so groß gewesen.“

Dass sich die Eulex (wie zuvor die Unmik) bislang als unfähig erweist, ein funktionierendes Justizsystem im Kosovo zu etablieren, weckt nicht nur Zweifel am Nutzen der mindestens eine Milliarde Euro teuren Mission, sondern auch am Respekt der EU vor den Bürgerrechten der Kosovaren und am Fortbestand des Friedens in der Region.

1 Andrea Lorenzo Capussela, „State-Building in Kosovo: Democracy, Corruption and the EU in the Balkans“, London (I. B. Tauris) 2015.

2 Julian Borger, „EU’s biggest foreign mission in turmoil over corruption row“, The Guardian, 7. November 2014.

3 Siehe den Bericht von Reporters without borders vom 31. Oktober 2014: en.rsf.org/kosovo-investigative-journalist-receives-31-10-2014,47187.html.

4 „Statement by the Chief Prosecutor of the Special Investigative Task Force (SITF) on investigative findings“ www.sitf.eu. Als Folge dieses Berichts sollte das kosovarische Parlament bis Ende Mai ein Sondertribunal einrichten, da diese Verbrechen nicht unter das Mandat des ICTY fallen. Siehe Jean-Arnault Dérens, „Die UCK vor Gericht“, Le Monde diplomatique, März 2011.

5 Carla Del Ponte, „La Traque. Les criminels de guerre et moi“, Paris (Éditions Héloïse d’Ormesson) 2009.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Ana Otaševi ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015, von Ana Otaševi