11.06.2015

Es war einmal No Future

zurück

Es war einmal No Future

Vierzig Jahre Punk oder Das Ende der Revolte

Yves Oppenheim, ohne Titel, 2004, Öl auf Leinwand, 300 x 200 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Durch einen Artikel im New Musical Express erfuhr Großbritannien im Sommer 1975 von der Existenz einer neuen, kraftvollen Musikszene, die gerade in der ärmlichen Bowery im Süden von Manhattan entstanden war. Die damals in einer Auflage von 200 000 Exemplaren erscheinende britische Musikzeitschrift berichtete anlässlich des „Top 40 New York Unrecording Rock Bands Festival“, das im CBGB veranstaltet wurde, einer dunklen, versifften Bar, die zu einem provisorischen Club umfunktioniert worden war. „Der Sound war furchtbar und hinter der Bühne krochen die Ratten herum“, erzählte später die Sängerin Patti Smith dem amerikanischen Magazin Rolling Stone.

Die in dem Artikel erwähnten Bands hießen Ramones, Blondie oder Television. Keine von ihnen hatte bisher eine Platte veröffentlicht. Nur Patti Smith war es mit finanzieller Hilfe des befreundeten Fotografen Robert Mapplethorpe im Juni 1974 gelungen, eine Single mit zwei Songs herauszubringen: „Hey Joe“ und „Piss Factory“. Ihre Bearbeitung der ursprünglichen Fassung, die Jimi Hendrix kurz zuvor bekannt gemacht hatte, erinnert an die Millionenerbin Patty Hearst. Die Enkeltochter eines kalifornischen Me­dien­moguls war im Februar 1974 von einer linksradikalen Splittergruppe entführt worden und schloss sich dieser mehrere Monate später an.

Die Werbung für die Single, von der gerade mal 2000 Stück gepresst wurden, beschränkte sich auf einen kleinen Flyer, der der New Yorker Wochenzeitung The Village Voice beilag und darüber informierte, wo man in Greenwich Village die Platte kaufen konnte. Dieses Vorgehen war damals völlig neu: Üblicherweise suchten unbekannte Musiker, selbst wenn sie gegen eine Kommerzialisierung waren, die Anbindung an bestehende Labels, die sich um Produktion und Vertrieb einer Platte kümmerten.

Die Ramones willigten erst in die Zusammenarbeit mit ihrem Manager ein, als der sich von seiner Mutter das Geld zusammengeliehen hatte, um ihnen ein Schlagzeug zu kaufen. Eigenproduktion, Improvisation und Verbreitung nur im kleinen Kreis: Das Etikett Do It Yourself (DIY) definierte bald das Handlungskonzept dieser subkulturellen Szene. Die Grundlagen hatte 1971 Abbie Hoffman, der Mitbegründer der Youth International Party, in seinem provokanten Anarcho-Bestseller „Steal This Book“ gelegt, mit dem er „dem System den Stinkefinger zeigte“, wie Gary Valentine, der Bassist von Blondie, in seiner Autobiografie schrieb.1

Die zu DIY abgekürzte Losung des Selbermachens passte perfekt zum Geist einer kleinen New Yorker Musikszene, die in völliger Unabhängigkeit ihre eigenen Codes erfand und, künstlerisch wie optisch, keinerlei Ambitionen besaß, die Massen für sich zu gewinnen. Zerrissene T-Shirts (Richard Hell von Television), löchrige Jeans und Lederblousons (Ramones), omnipräsentes Schwarz: Der Kleidungsstil war nicht von der Existenzialität der Musik zu trennen, die immer improvisiert und manchmal einfallsreich war, jedoch nie Hochkultur oder Klangkunst sein wollte. Der Wille zum Minimalismus brach mit dem damaligen finanziell wie musikalisch überinstrumentierten Mainstream-Rock. Die erste LP der Ramones kostete das Plattenlabel Sire Records 6300 Dollar, während Warner in die Produktion des Albums „Rumor“ von Fleetwood Mac, der im Jahr 1977 am meisten verkauften Platte, fast eine Million Dollar steckte.

Es ging nicht um künstlerische Qualität und Markttauglichkeit. Die Songtexte, die im CBGB zu hören waren, wollten nicht verführen. Sie waren brutal und provozierend oder im Gegenteil, wie etwa bei Television, bildhaft und inspiriert von den Dichtern des französischen Symbolismus und der Beat Generation. Sie waren ironisch oder lyrisch, aber selten enthusiastisch oder positiv. In dieser Hinsicht standen sie in Opposition zu den kollektiven Utopien und Verlautbarungen der vorausgegangenen Generation, die von den Idealen der Hippies und dem Widerstand gegen den Vietnamkrieg geprägt war.

Hinter der Bühne liefen die Ratten herum

Der endete am 30. April 1975, als die vietnamesische Volksarmee in Saigon einmarschierte. New York war pleite und entließ Hunderte seiner städtischen Angestellten. Die Kanadierin Mary Harron, Journalistin, Drehbuchautorin und Regisseurin der Independent-Filme „I Shot Andy Warhol“ und „American Psycho“, beschreibt eine Millionenstadt voller Gewalt und Endzeitstimmung: „Es lag Nihilismus in der Luft, eine Faszination für das Morbide […] Das Gefühl, dass du dabei bist, den Boden unter den Füßen zu verlieren und gemeinsam mit dieser maroden, bankrotten Stadt untergehst. Gleichzeitig hatte es etwas fast Mystisches, Wunderbares, dort zu leben.“2

In der Bowery sangen die Heartbreakers „Born to lose“, die Ramones verkündeten „Now I wanna sniff some glue / Now I wanna have somethin‘ to do“ (Jetzt schnüffle ich Kleber / Jetzt hab ich was zu tun), und Richard Hell brüllte in seinem bekanntesten Song von der Leere seiner Generation: „Blank Generation“.

Im Januar 1976 war Mary Harron an der Herausgabe eines neuen New Yorker DIY-Fanzines beteiligt, das einen Mix aus Comics, durchgeknallten Fotoromanen, Gruppenbildern vor Backsteinmauern und ikonoklastischen Interviews brachte. „Welche Hamburger isst du am liebsten?“, wurde etwa Lou Reed gefragt. Der Name des kleinen Magazins: Punk. Ausgesucht hatte ihn Roderick Edward „Legs“ McNeil, einer der Gründer des Hefts, „weil in diesem Wort all das, was wir liebten, enthalten zu sein schien: Es klang trunksüchtig, niederträchtig, boshaft, aber nicht prätentiös.“3

Der Begriff, der umgangssprachlich „mies“, „wertlos“ und „Dreckskerl“ bedeutet, wurde bald allem angeheftet, das den Anschein einer Rockgruppe neuen Typs besaß. Rasch wurde er in London adaptiert, wo sich ein ähnliches subkulturelles Phänomen entwickelte: In bestimmten Clubs spielten Anfängerbands böse, laute Stücke und zogen damit zunächst ein übersichtliches Publikum an. Man begegnete Punk auch in speziellen Londoner Plattenläden, zu deren Sortiment das Album von Patti Smith ebenso gehörte wie die ersten, außerhalb der großen Handelswege vertriebenen Platten der britischen, amerikanischen und sogar Pariser Independent-Labels oder am Kopierer zusammengebastelte Fanzines.

Existenzialität, Gewalt, Bruch mit den vorausgegangenen Orientierungen, die dumm und verlogen erschienen – das alles entsprach der britischen Jugend in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Denn sie lebten in einem krisengeschüttelten Land: Die Arbeitslosigkeit hatte die Millionenmarke überschritten, die Bildungsausgaben waren gekappt worden, die IRA ließ auf öffentlichen Plätzen Bomben hochgehen, fortwährend wurde gestreikt. Die Inflationsrate lag bei 25 Prozent. 1976 bat Premierminister James Callaghan den Internationalen Währungsfonds um Hilfe.

In dem Slogan „No Future“ fassten die Sex Pistols diese Situation aus Chaos und Verunsicherung treffend zusammen. Auf ihrem Album: „Anarchy in the UK“ singen sie: „Your future dream is a shopping scheme“ (Dein Zukunftstraum ist ein Kaufvorhaben“). Die Sex Pistols sind zum Teil ein DIY-Produkt ihres Mentors Malcolm McLaren, eines dreißigjährigen Anhängers der Situationisten, der es immer bedauerte, dass Großbritannien keinen Mai 68 erlebt hatte. McLaren wollte mit den neuen Formen der Rockmusik Agitprop betreiben, aber gleichzeitig, so der The- Damned-Gitarrist Brian James, „das Maximum an Geld verdienen“. McLaren brachte die vier Bandmitglieder der zukünftigen Pistols zusammen. Geholfen hatte ihm dabei sein Partner Bernie Rhodes, der später die Gruppe The Clash managte, die in ihrem ersten Album sozial engagierte Töne anschlug. Die Band legte damit die Grundlagen für die nachfolgenden radikaleren und proletarischeren Musikrichtungen Streetpunk und Oi!.

Die Szene frequentierte regelmäßig die Boutique SEX, wo McLarens Frau, Vivienne Westwood, seine Kreationen feilbot, die ihr Mann als Prototypen der zukünftigen Straßenkleidung ansah. „Das war Do It Yourself, eine Idee, zu der ich sicher mit beigetragen habe. An meinen Kleidern war sensationell, dass jeder sie imitieren konnte“, sagte McLaren im Mai 1980 gegenüber dem New Musical Express.

Macht es selbst und ganz allein! Die kommunikative Kraft, Spontaneität und scheinbare Einfachheit der Sex-Pistols-Stücke, die die Band in ihren Anfängen vom Label EMI produzieren ließ (wegen wiederholter Skandale löste EMI den Vertrag allerdings rasch wieder), machte vielen jungen, finanziell mittellosen Leuten Lust, ihrem Frust, ihrem Hass, aber auch ihrem Willen Ausdruck zu verleihen, die alten Rollenmuster zu verlassen. Die Lust, selbst etwas zu tun, und das Bedürfnis, die eigene Musik schnell aufzunehmen, waren wichtiger als Professionalität und Erfolgsstreben. Ab Ende 1976 entstanden zahlreiche Rockbands, andere versuchten sich als Grafiker, schrieben in Fanzines oder gründeten kleine, lokale Labels, deren Erzeugnisse über ein Netz von Independent-Läden vertrieben wurden.

Diese Umtriebigkeit und Energie führte zu einer Veränderung der Regeln, sowohl in künstlerischer Hinsicht – Perfektion war nicht mehr vorrangig – als auch bei der Art der Verbreitung: Es etablierten sich neue Veranstaltungsorte, neue Aufnahme- und Produktionsweisen. Ein neuer Sound entstand. In Frankreich war es die Hausbesetzerszene, die sich ein paar Jahre später für die Pioniere des sogenannten Alternative Rock interessierte, der zunächst im anarcho-libertären Milieu Aufnahme fand, bevor er ein breiteres Publikum erreichte.

Die Umwälzung der künstlerischen Gepflogenheiten setzte sich in den 1980er Jahren in der amerikanischen Hardcore-Punkszene fort. Anders als bisher üblich traten die Bands an Orten auf, die bislang nur von lokalen Künstlern bespielt worden waren. Davon profitierten später vom ursprünglichen Punkrock beeinflusste Grunge-Bands wie Nirvana oder Pearl Jam. Das DIY ermöglichte im Rock die Einführung des Lo-Fi (Abkürzung von Low Fidelity, im Unterschied zu Hi-Fi, High Fidelity), an dem noch in den 1990er Jahren eine Hauptströmung des Independent-Rock festhielt: Künstler wie etwa Beck nahmen ihre selbst produzierten Alben auf einem vierspurigen Tonbandgerät bei sich zu Hause auf. Do It Yourself ­wurde auch zur Devise der Elektromusik­pioniere, die Vinyl verwendeten, als die Plattenindustrie schon längst auf CD umgestiegen war, und gingen damit auf Distanz zum System der Majorlabels.

Von der Werbung immer wieder zum Slogan vereinnahmt – zum Beispiel „Just Do It!“ von Nike –, ist das DIY heute für junge Künstler im Internet eines der besten Mittel, ihre Projekte zu realisieren und zu verbreiten. Durch die partizipativen Möglichkeiten des Internets können die Musiker ihre Arbeit online promoten und in der Internetgemeinde Gelder für Produktion und Vertrieb einwerben.4 Sie sind nicht mehr auf das Vertriebsnetz der großen Labels angewiesen, das sich mit dem Verschwinden der großen Ladenketten wie Virgin und HMV ohnehin als zunehmend beschränkt und ineffizient erweist.

Ihr Vorgehen lässt sich durchaus mit dem der subkulturellen Szene von einst vergleichen, die auf Abstand zur Musikindustrie ging, ihre Singles selbst zu produzieren und zu finanzieren versuchte und damit die Rockmusik fundamental erneuerte. Heute jedoch hat das DIY für die Mehrheit der meist unpolitischen Musiker nichts mehr von einem Akt der Rebellion oder Opposition gegen das System des Markts. Es ist einfach zum unverzichtbaren Bestandteil ihrer Ausdrucksweise geworden. Der anarchistische Geist hat sich aus der Rockmusik weitgehend verabschiedet.

1 Gary Valentine, „New York Rocker“, London (Sidgwick & Jackson) 2002.

2 John Savage, „England‘s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock“, Berlin (Edition Tiamat) 2001.

3 Legs McNeil und Gillian McCain, „Please Kill Me! Die unzensierte Geschichte des Punk“, Innsbruck (Hannibal) 2004.

4 Siehe Jacques Denis, „Tous producteurs“, Le Monde diplomatique (frz. Ausgabe), März 2014.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Eric Tandy ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015