11.06.2015

Gezieltes Töten

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Gezieltes Töten

Im Krieg gegen den Terror halten die USA an der alten Strategie aus dem Kampf gegen Drogen fest: Gefährliche Organisationen werden ihrer Spitze beraubt. „High-value targeting“ heißt das und bedeutet, dass Führungspersönlichkeiten ins Visier genommen und meist getötet werden.

von Andrew Cockburn

Drogenboss Pablo Escobar – das Gesicht des Feindes in der Menge el tiempo/ap
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Vor Kurzem berichtete US-Außenminister John Kerry voller Stolz, man habe bereits „50 Prozent“ der Spitzenleute des „Islamischen Staats“ (IS) ausgeschaltet – was die Fortschritte im Krieg gegen den Terror belegen sollte. Im März wurde Abu Bakr al-Baghdadi, der „Kalif“ des IS, bei einem Luftangriff schwer verletzt; damit ist der Organisator und Kommandeur des IS-Gebildes außer Gefecht. Im April musste das Weiße Haus nachträglich einräumen, dass bei einem Luftschlag im Januar gegen die Führung der al-Qaida in Pakistan die zwei US-amerikanischen Geiseln Warren Weinstein und Giovanni Lo Porto umgekommen sind.

Im Jemen tötete eine US-Drohne am 13. April Ibrahim al-Rubaisch, eine wichtige Figur der al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP); kurz zuvor hatte die AQAP al-Mukalla, die Hauptstadt der ostjemenitischen Provinz Ha­dra­maut, eingenommen und erstmals einen Flughafen erobert. Danach wurde im saudischen Nachrichtensender Al-Arabija ein Kartenspiel präsentiert, auf dem die wichtigsten Feinde der Saudis im Jemen abgebildet sind (nach dem Vorbild der berüchtigten Spielkarten, die das US-Militär 2003 vor der Irak-Invasion in Umlauf gebracht hatte – mit Saddam Hussein als Pik As).

Egal welchen beschönigenden Ausdruck man verwendet – „high-value targeting“ oder, wie die Israelis es nennen, „gezielte Prävention“: Für Washington sind Mordanschläge zur bevorzugten Strategie im 21. Jahrhundert geworden. Die Methoden mögen variieren, die Angriffe können mit Drohnen, Marsch­flug­körpern oder mit speziell ausgebildete Hunter-Killer-Teams erfolgen. Doch im Kern geht es immer darum, die Führungspersonen des Feindes direkt anzugreifen und auszuschalten. Wie entschieden Washington auf dieses Erfolgsrezept setzt, verriet im November 2010 Hillary Clinton. Die damalige US-Außenministerin bezeichnete die „auf nachrichtendienstliche Informationen gestützten Operationen gegen wichtige („high-value“) Rebellenführer und ihre Netzwerke als „Schlüsselelement“ der US-Militärstrategie.1

Killerteams und Drohnen

Im Hinblick auf diese Strategie wird häufig, und zu Recht, auf den Vietnamkrieg verwiesen: Damals hatte die CIA mit ihrer „Operation Phoenix“ zwischen 1967 und 1973 mindestens 20 000 Kader der feindlichen Nationalen Front zur Befreiung Südvietnams (NFB) „neutralisiert“. Für das Mordprogramm, das derzeit im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika stattfindet, gibt es jedoch eine jüngere und viel näher liegende Inspirationsquelle, von der nicht so oft die Rede ist: Ich meine die sogenannte Kingpin-Strategie2 aus den Drogenkriegen der 1990er Jahre. Diesen Zusammenhang hat mir ein ausgewiesener Experte für Terrorismusbekämpfung, der früher im Weißen Haus tätig war, 2013 in einem Interview bestätigt: „Die Idee hat ihren Ursprung im Antidrogenkrieg. Es gab also Präzedenzfälle, die ins System eingespeist waren und unser Denken bestimmt haben. Wir waren fest überzeugt von der Nützlichkeit gezielter Tötungen. Und davon, dass man dieses Instrument auch einsetzen sollte.“

Hätte dieser frühere Regierungsvertreter etwas mehr über die Auswirkungen der Strategie im Antidrogenkrieg erfahren, hätte er sich vielleicht nicht so sehr auf dieses bevorzugte Instrument verlassen. Denn die Geschichte hat eine bedenkenswerte Pointe: Genau dieselbe Strategie, die schon damals grandios gescheitert war, da am Ende genau das Gegenteil des angestrebten Ziels erreicht wurde, fand anschließend im Antiterrorkrieg erneut Anwendung – mit exakt demselben Ergebnis.

Wie ist die ursprüngliche Kingpin-Strategie entstanden? In den frühen 1990er Jahren galt die Drogenbekämpfungsbehörde DEA (Drug Enforcement Administration) als die arme kleine Schwester der anderen bundesstaatlichen Exekutivorgane. 1970 von Präsident Nixon gegründet, dümpelte die DEA lange Zeit im Schatten der wirklich mächtigen Institutionen und insbesondere des FBI vor sich hin. Als dann jedoch Präsident George Bush der Ältere eine neue Runde des unter Nixon begonnenen Antidrogenkriegs ausrief, konnten die DEA-Leute auf eine üppige Aufstockung ihrer Haushaltsmittel hoffen. Und während ihre Gegner zu Nixons Zeiten nur schattenhafte Drogenbanden waren, konnte man jetzt dem Feind ein Gesicht – oder vielmehr Gesichter – geben. Denn inzwischen hatte der Aufstieg der berüchtigten kolumbianischen Kokainkartelle stattgefunden, deren Macht und skrupellose Effizienz in den Medien lang und breit erörtert wurden.

Dem ehemaligen Staatsanwalt und Bundesrichter Robert C. Bonner, der im August 1990 von Präsident Bush an die Spitze der DEA berufen wurde, bot sich damit eine ideale Gelegenheit. Schon Nixon hatte mit der Idee gespielt, die damals neu gegründete Antidrogentruppe zur Ermordung von Drogenhändlern einzusetzen und die erforderlichen Killer mit Hilfe von Exilkubanern anzuheuern; doch Bonner wollte die Sache systematischer angehen. Seine Kingpin Strategy sah vor, die Spitzen dieser Kartelle zu „eliminieren“, sprich umzubringen oder gefangen zu nehmen. Dieses Konzept beruhte auf der Annahme, dass man es mit einer hierarchisch strukturierten Bedrohung zu tun habe. Damit griff Bonner auf eine alte Doktrin der US-Luftwaffe zurück, wonach es in jedem feindlichen System neuralgische „Knotenpunkte“ gebe, nach deren Zerstörung das System zusammenbrechen werde.

Auf einem Treffen von DEA-Veteranen, die 2012 den 20. Jahrestag der Kingpin Strategy feierten, hielt Bonner eine Rede über den gemeinsamen Feind. In seinem überaus interessanten Referat charakterisierte er die wichtigsten Drogenkartelle als „Großorganisationen“, die definitionsgemäß „transnational“ operieren und sich zugleich durch eine „vertikale Integration“ von Produktion und Distribution auszeichnen.

Schließlich kam er auch auf die Führungsstruktur der Kartelle zu sprechen: „An ihrer Spitze stehen normalerweise ziemlich schlaue, wenn auch brutale Leute, die das Kartell mittels einer klaren Kommandostruktur kontrollieren. Zudem haben sie Leute mit speziellen Kompetenzen, die für bestimmte Grundfunktionen der Organisation zuständig sind, wie etwa Logistik, Verkauf und Distribution, Finanzen und Geldeintreiben.“ Aus Bonners Beschreibung folgte zwingend, dass die Ausschaltung der „schlauen Leute“ an der Spitze, aber auch der Logistikexperten, die Kartelle lahmlegen und den Zufluss von Drogen in die Vereinigten Staaten stoppen würde.

Von der Jagd auf diese Kingpins konnte die Institution DEA massiv profitieren. Bonner musste sich damals nicht nur gegenüber der allgegenwärtigen Bundespolizeibehörde FBI behaupten, sondern auch gegen ein anderes Raubtier, das im bürokratischen Dschungel der Hauptstadt regelmäßig in sein angestammtes Territorium eindrang: die Central Intelligence Agency (CIA). In einem 2013 gegebenen Interview sagte Bonner: „DEA und CIA gerieten ständig aneinander, das Verhältnis war wirklich gespannt.“ Doch am Ende schaffte er es mit viel Geschick, das Kriegsbeil mit dem mächtigen Geheimdienst zu begraben. Womit er zugleich einen „mächtigen Verbündeten“ gewonnen hatte: „Die CIA konnte die Dienste der DEA in Anspruch nehmen und umgekehrt.“

Das bedeutete zum Beispiel, dass die Geheimdienstleute bei ihren Operationen innerhalb der USA auf die rechtlichen Befugnisse der DEA zurückgreifen konnten. Durch diese Zusammenarbeit gewann die DEA weitere mächtige Verbündete, erzählte mir Bonner: Jetzt kooperierte die DEA nicht nur eng mit der CIA, sondern über diese auch mit der National Security Agency (NSA), dem größten Auslandsgeheimdienst des Landes. Zusätzlich gründeten die Drogenfahnder eine neue Abteilung für „Spezialoperationen“, die auf die Kingpins angesetzt wurde und dabei auf die Zusammenarbeit mit CIA und NSA angewiesen war, die der DEA wichtige, durch elektronische Lauschangriffe gewonnene Informationen lieferte.

Diese neue Zusammenarbeit gewann schnell an Schwung, nachdem es gelungen war, einen der bekanntesten Köpfe der Drogenkartelle zu „eliminieren“. Pablo Escobar, die beherrschende Figur des Medellín-Kartells, war von den US-Organen besonders hartnäckig gejagt worden. Lange Zeit hatte sich der Drogenboss der Verfolgung durch die USA entziehen können. 1991 handelte er einen Deal mit der kolumbianischen Regierung aus und durfte sich in ein „Gefängnis“ zurückziehen, das er sich selbst in den Bergen über Medellín gebaut hatte. Doch nach einem Jahr tauchte Escobar unter, weil er fürchtete, die Regierung in Bogotá werde sich nicht an die Abmachung halten und ihn an die USA ausliefern.

Die anschließende Jagd auf den flüchtigen Drogenboss markierte einem Wendepunkt. Der Kalte Krieg war vorbei, Saddam Hussein war nach dem ersten Golfkrieg von 1991 besiegt, von anderen Bedrohungen gegen die Vereinigten Staaten war weit und breit nichts zu sehen. Kein Wunder, dass das Pentagon und die Geheimdienste akute Ausgabenkürzungen fürchteten. In dieser Situation beschlossen sie, die volle Palette an Lausch- und Überwachungstechniken, die sie ursprünglich für den Kampf gegen das sowjetische Lager entwickelt hatten, gegen eine einzige Zielperson einzusetzen.

Die US-Luftwaffe stellte verschiedene Aufklärungsflugzeuge zur Verfügung (darunter auch „Blackbirds“ vom Typ SR-71, die mit dreifacher Schallgeschwindigkeit fliegen konnten); die US-Marine setzte ihre eigenen Spionageflugzeuge ein; die CIA war mit einer Helikopter-Drohne dabei. Teilweise operierten sogar 17 dieser Überwachungsfluggeräte gleichzeitig im Luftraum über Medellín. Allerdings war keines von ihnen beim Aufspüren von Escobar auch nur die geringste Hilfe. Auch die DEA leistete keinen entscheidenden Beitrag. Die entscheidende Rolle bei der Zerstörung von Escobars Macht- und Unterstützungsbasis spielten dessen Rivalen vom Cali-Kartell, damals das zweite große Drogenkartell in Kolumbien – vor allem aufgrund seines gut funktionierenden Spitzelsystems und seiner skrupellosen Brutalität.

Am 2. Dezember 1993 wurde Escobar, nachdem man sein vormals allmächtiges Netz von Informanten und Leibwächtern zerschlagen hatte, über sein Funkgerät geortet und aufgespürt. Als er über ein Dach entkommen wollte, wurde er abgeschossen. Obwohl der tatsächliche Ablauf immer noch umstritten ist, hat mir eine ehemalige DEA-Größe eindeutig versichert, dass die tödliche Kugel von einem Scharfschützen der Delta Force, einer Spezialeinheit der US-Armee, abgefeuert wurde.

Nach diesem Triumph begann die DEA auch das Cali-Kartell mit allen verfügbaren Mitteln zu jagen. „Im Grunde haben wir als Erste Abhörtechniken für solche Einsätze entwickelt“, behauptet Bonner. Geduld und ein enormer technischer und finanzieller Aufwand führten schließlich zum Erfolg. Im Sommer 1995 wurden sechs der sieben Köpfe des Cali-Kartells festgenommen, darunter deren Gründer: José „Chepe“ Santacruz Londoño und die Brüder Gilberto und Miguel Rodríguez Orijuela. Londoño konnte am Januar 1996 aus dem Gefängnis ausbrechen, wurde aber zwei Monate später in Medellín aufgespürt und getötet. Der Druck der USA blieb noch mehrere Jahre bestehen und sorgte dafür, dass immer wieder Drogenbosse im Gefängnis oder im Sarg landeten.

Die Strategie funktionierte offenbar gut. So stellte es auch Lee Brown dar, der unter Präsident Bill Clinton für Drogenbekämpfung zuständig war und der 1994 stolz erklärte: „Als Pablo Escobar flüchten musste, führte das praktisch zum Untergang seiner Organisation, und am Ende wurde sie zerstört. Es war dies ein Erfolg der Strategie, die wir als ‚Kingpin Strategy‘ bezeichnet haben.“

Freilich hat keiner der Verantwortlichen jemals zugegeben, zumindest nicht öffentlich, dass mit dieser Politik, die ja den Drogenkonsum in den USA eindämmen sollte, genau das Gegenteil erreicht wurde. Beweis für das Scheitern sind die Kokainpreise, die beim Straßenverkauf erzielt wurden. Um sie zu überprüfen, setzte die DEA in den 1990er Jahren verdeckte Ermittler ein, die Kokain einkauften und ihre Ausgaben genau notierten.

Allerdings unterlag der Reinheitsgrad des Kokains, das auf der Straße erworben wurde, extremen Schwankungen, weil der Stoff oft mit billigen Ersatzsubstanzen gestreckt war. Der Grund dafür war, dass die Dealer höhere Einkaufspreise eher dadurch kompensierten, dass sie ihre Produkte streckten, als den Preis pro Gramm heraufzusetzen. Also registrierten die DEA-Tabellen nur begrenzte Preisschwankungen und gaben keinen wirklich Aufschluss darüber, wie sich bestimmte Ereignisse auf das Angebot und damit die Einkaufspreise für die Dealer auswirkten.

Das änderte sich 1994, als ein Zahlenfanatiker im Institute for Defense Analysis (IDA), das vor allem für das Pentagon arbeitet, die Daten genauer unter die Lupe nahm. Den Auftrag hatte dieser Experte, ein früherer Kampf- pilot namens Rex Rivolo, von Brian Sheridan bekommen, dem äußerst sturen Direktor des Büros für Drogenbekämpfung im US-Verteidigungsministerium, der gegenüber der DEA und ihren Operationen ein gesundes Misstrauen hegte.

Rivolo teilte den DEA-Leuten kurz und trocken mit, dass ihre Tabellen lediglich „statistische Nebengeräusche“ und völlig wertlos seien, und entwickelte eine Methode, mit der die Schwankungen des Reinheitsgrads bei den von den Agenten gesammelten Kokainproben herausgerechnet werden konnten. Die Methode funktionierte und erbrachte einige interessante Erkenntnisse: Die Jagd auf die Drogen-„Kingpins“ hatte sehr wohl einen Einfluss auf das Angebot und damit den Preis ihrer Ware. Jedoch war dieser Effekt ganz anders als von der DEA behauptet: Die Versorgung der Straße und der Nasen mit Kokain wurde nicht etwa gebremst, sondern vielmehr beschleunigt. In Wirklichkeit hatte die Ausschaltung der Kingpins das Angebot erhöht.

Das war eine überaus bedeutsame Entdeckung, die entgegen der eingefleischten, bis in die Zeit der Prohibition und dem Krieg gegen die Alkoholschmuggler in den 1920er Jahren zurückreichenden Kultur der Strafverfolgung zustande gekommen war. Doch die US-amerikanischen Antiterrorkriege des 21. Jahrhunderts waren noch immer von diesen alten Methoden bestimmt. Rivolos Entdeckung aber beruhte nicht auf Intuition, sondern stützte sich ausnahmsweise einmal auf harte, unbestreitbare Daten.

In den letzten Monaten des Jahres 1993 war die vormals so mächtige Organisation unter Pablo Escobar bereits zerschlagen und der große Boss des Kokaingeschäfts wurde in den Straßen von Medellín gejagt. Wäre die Prämisse der DEA-Strategie zutreffend gewesen, hätte der Drogennachschub in die USA damals schon unterbrochen sein müssen. Doch das Gegenteil war der Fall: Auf der Straße fiel der Preis für ein Gramm Kokain von rund 80 auf 60 Dollar, weil der US-Markt durch neue Lieferanten geflutet wurde. Und auch nach dem Tod Escobars ging der Preisverfall weiter. Ähnlich lief es, als Mitte 1995 die Führungsebene des Cali-Kartells eingebuchtet wurde: Die Kokainpreise, die Anfang 1995 noch kräftig angestiegen waren, gingen in einen steilen Sinkflug über, der sich auch noch 1996 fortsetzte.

Auf der Suche nach einer Erklärung für den offensichtlichen Zusammenhang zwischen diesem Preisrückgang und der Eliminierung der „Kingpins“ stieß Rivolo auf eine halb vergessene ökonomische Theorie der „monopolistischen Konkurrenz“, wie er sie nannte. Sie besagt im Kern, dass sich ein bestimmter Preis bildet, wenn zwei Produzenten als Anbieter auftreten. Verdoppelt sich die Zahl der Produzenten, halbiert sich der Preis, weil sich die Anbieter den Markt teilen. Für Rivolo war also der entscheidende Faktor, wie viele Monopole es gab: „Wir hatten drei oder vier Hauptmonopole, aber wenn sich die in 20 Gruppen aufspalten, ist klar, dass nach dem Gesetz der monopolistischen Konkurrenz der Preis fallen wird. Das war ganz sicher in den 1990er Jahren der Fall, als der Kokainpreis abstürzte, weil die Konkurrenz zunahm – aber diese Konkurrenz wurde von uns angetrieben. Am besten wäre es damals gewesen, nur ein Kartell zu haben, das wir einigermaßen kontrollieren. Wenn dein Ziel darin besteht, die Nachfrage auf den Straßen einzudämmen, ist das die richtige Methode. Aber wenn du ein Polizist bist, ist das nicht dein Ziel. Wir mussten also ständig gegen die Polizeimentalität in provinziellen Organisationen wie der DEA angehen.“

Die kolumbianischen Bauern, die tief im Dschungel ihre Kokasträucher pflegten, brauchten keine ökonomischen Theorien, um die Folgen der Kingpin-Strategie zu verstehen. Als ein US-Reporter in der Kleinstadt Calamar im Süden des Landes die Nachricht überbrachte, dass man Gilberto Rodríguez Orijuela vom Cali-Kartell verhaftet hatte, brachen die lokalen Koka-Kleinhändler in Jubel aus und eine Oma schrie: „Der Heiligen Jungfrau sei Dank!“ Einer der Einheimischen meinte zu dem Besucher: „Warte nur, bis die USA kapieren, was das tatsächlich bedeutet. Aber vielleicht finden sie es ja gut, denn schließlich ist das ein Sieg für das freie Unternehmertum: Kein Monopol mehr, das den Markt kontrolliert und den Bauern die Preise diktiert. Es ist so wie damals, als sie Pablo Escobar erschossen haben: Jetzt werden wir alle was von dem Geld abkriegen.“

Diese Einschätzung erwies sich als völlig korrekt. Mit dem Verschwinden der großen Kartelle wurde das Geschäft von den kleineren und zum Teil noch brutaleren Händlergruppen übernommen, denen es ziemlich gut gelang, die Produktion und Distribution aufrechtzuerhalten. Und zwar vor allem dank enger Beziehungen entweder zur pseudomarxistischen Farc-Guerilla oder zu den faschistischen Paramilitärs, den mit der kolumbianischen Regierung verbündeten Antiguerilla-Einheiten, die insgeheim von den USA unterstützt wurden.

Viele von Rivolos Forschungergebnissen zu diesem Thema sind bis heute geheim. Das kann kaum überraschen, denn seine Erkenntnisse untergraben nicht nur die offizielle Begründung für die Kingpin-Strategie in den Drogenkriegen der 1990er Jahre. Sie sind auch ein direkter Schlag gegen die Doktrin des „high-value-targeting“, in die sich die Obama-Regierung verrannt hat, seit sie mit ihren Drohneneinsätzen den gesamten Nahen und Mittleren Osten überzieht.

Rivolo konnte die Umsetzung der Kingpin-Strategie noch zehn Jahre lang weiter beobachten. Dann wurde er im Jahr 2007 einer kleinen hochkarätigen Gruppe von Geheimdienstleuten zugeteilt, die dem Hauptquartier der US-Truppen im Irak unterstellt war. In Bagdad nahm er sich das laufende Programm zur Verfolgung von wichtigen Individuen („high-value indiviuals“, HVI) unter den irakischen Aufständischen vor. Dabei untersuchte er anhand einer Liste von 200 HVIs, die zwischen Juni und Oktober 2007 getötet oder gefangen genommen worden waren, was nach der Ausschaltung dieser lokalen Aufstandsführer in der betreffenden Gegend passierte.

Sein Befund war schlicht und eindeutig: Die Strategie zeigte in der Tat Wirkung – allerdings nicht die be­ab­sich­tigte. Das kam für Rivolo nicht überraschend, denn er kannte das Ergebnis schon von der Kingpin-Strategie in den Drogenkriegen der 1990er Jahre. Die Ausschaltung der irakischen HVIs minderte weder die Angriffe der Rebellen noch die Verluste der US-Truppen. Im Gegenteil: Auf jeden Tötungsakt der USA folgte sofort ein blutiges Chaos. Innerhalb von 30 Tagen nahmen die Angriffe der Aufständischen in einem 3-Kilometer-Radius um die Opera­tions­basis ihres „eliminierten“ Anführers um 40 Prozent zu. Innerhalb einer 5-Kilometer-Zone – der typische Operationsbereich für eine Rebelleneinheit – lag die Zunahme immer noch bei 20 Prozent.

Am Ende des Berichts, den Rivolo für seinen Vorgesetzten General Raymond T. Odierno anfertigte, stand ein klarer Befund: „Die HVI-Strategie, unsere Hauptstrategie im Irak, ist kontraproduktiv und bedarf einer Neubewertung.“ Wie schon im Fall der Kingpin-Strategie gegen die Drogenbosse war auch diese Schlussfolgerung Rivolos, die offenbar der militärischen Intuition zuwiderlief, bei genauerem Nachdenken ziemlich einleuchtend: Die getöteten Aufstandsführer wurden sofort ersetzt, und die Nachfolger waren fast immer jünger und aggressiver als ihre Vorgänger, weil sie sich zu beweisen hatten.

Die Ergebnisse von Rivolos Forschungsarbeit wurden zwar bis in die höchsten Ebenem weitergereicht, doch Folgen hatte das keine. Die Kingpin-Strategie hat auf den Straßen der amerikanischen Städte vollkommen versagt, aber im Hinblick auf das Wohl der DEA war sie ein durchschlagender Erfolg: Die finanzielle Ausstattung der Behörde erhöhte sich von 1990 bis 2000 um 240 Prozent, von 594 Millionen auf über 1,5 Milliarden Dollar. Auf ähnliche Weise, aber in weitaus größeren Dimensionen, hat auch die HVI-Strategie in der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens versagt. Statt ihre erklärten Ziele zu erreichen, bewirkte sie lediglich, dass terroristische Gruppen immer mehr neue Leute rekrutieren und im Schatten der Drohnen bestens gedeihen konnten.

Nehmen wir ein Beispiel aus jüngster Zeit: Die Ausschaltung von Abu Bakr al-Baghdadi, dem obersten Kommandeur des Islamischen Staats, hat die militärischen Operationen des IS offensichtlich nicht beeinträchtigt. Für eine ganze Meute von Interessenten aber erweist sich die HVI-Strategie tagtäglich als unendlich wertvoll: angefangen von den Herstellern der Drohnen (wie Boe­ing und Lookheed) bis hin zur Antiterrorabteilung der CIA, die bei der Abwehr der Anschläge vom 11. September 2001 so jämmerlich versagt hat – und die nun als Antwort darauf die Durchführung von Mordanschlägen wieder mal als neuen Daseinszweck entdeckt.

Kein Wunder, dass die Saudis im Jemen diesem Vorbild nacheifern wollen. Die Welt ist groß und Ziele gibt es genug.

1 Zitiert nach einer BBC-Meldung: www.bbc.com/news/world-south-asia-11762544.

2 Kingpin heißt „Königszapfen” und bezeichnet ein zentrales Verbindungsstück zwischen zwei Bauteilen, wie zum Beispiel die Anhängerkupplung am Auto.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Andrew Cockburn ist Washington-Redakteur von Harper’s Magazine. Vor Kurzem erschien sein Buch „Kill Chain: the Rise oft the High-Tech Assassins“, New York (Henry Holt) 2015.

© Agence Globale; für die deutsche Übersetzung

Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015, von Andrew Cockburn