11.06.2015

Endemie der Gewalt

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Endemie der Gewalt

In vielen Staaten Lateinamerikas hat die Kriminalität erschreckende Ausmaße angenommen – mit Mordraten wie in Bürgerkriegsgebieten

von Carlos Santiso und Nathalie Alvarado

Gefährliches Caracas: schwere Waffen, keine Sicherheit ARIANA CUBILLOS/ap
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In Lateinamerika und der Karibik herrscht offiziell Frieden. Doch die Mordrate ist hier ebenso hoch wie in einem Kriegsgebiet. Jeden Tag werden etwa 380 Menschen getötet – davon zwei Drittel durch Schusswaffen.1 Auf die 10 Prozent der Weltbevölkerung, die in der Region leben, entfallen 30 Prozent der weltweiten Tötungsdelikte. 25 von 100 000 Menschen werden jedes Jahr umgebracht, das sind gut viermal so viele wie im globalen Durchschnitt.

Die kriminellen Aktivitäten sind allerdings geografisch ungleich verteilt. In Mittelamerika und auf den Karibikinseln ist die Situation besonders dramatisch. Die hohe Drogen- und Bandenkriminalität begünstigt Waffenhandel und Straflosigkeit und nährt so die tödliche Spirale der Gewalt. Honduras ist mit frappierenden 90,4 Mordfällen pro 100 000 Einwohner statistisch gesehen das gefährlichste Land der Welt, gefolgt von Venezuela (53,7), Belize (44,7) und El Salvador (41,2).

Neben Tötungsdelikten zählen vor allem Erpressungen, Entführungen, Gewalttaten gegen Frauen, Diebstähle und Schmuggel zu den häufigen Verbrechen. Die offiziellen Zahlen beruhen auf unvollständigen Informationen und spiegeln nicht das tatsächliche Ausmaß, denn zahlreiche Straftaten werden aus Furcht vor Vergeltung oder aus Misstrauen gegenüber den Ordnungsbehörden gar nicht gemeldet. Eine landesweite Studie des mexikanischen Statistikinstituts (Inegi)2 ergab, dass im Jahr 2013 schätzungsweise 94 Prozent aller begangenen Straftaten nicht den zuständigen Stellen mitgeteilt wurden. Und nur in der Hälfte der gemeldeten Fälle seien tatsächlich Ermittlungen eingeleitet worden.

Kein Wunder, dass die Angst in der Bevölkerung zunimmt. Das zeigen auch die Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Latinobárometro:3 In den meisten Ländern beunruhigte dieses Thema die Menschen mehr als die Arbeitslosigkeit. War Kriminalität 2005 noch die Hauptsorge von lediglich 5 Prozent der Lateinamerikaner, lag der Wert 2013 bereits bei 30 Prozent.

Der wirtschaftliche Schaden, der durch Kriminalität entsteht, liegt in der Region bei durchschnittlich 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).4 Die Ausgaben für Präventionsmaßnahmen sowie die durch Personen- und Sachschäden entstandenen Kosten beliefen sich dem Global Peace Index zufolge 2014 in Honduras auf 20 Prozent des BIPs, in El Salvador auf 15,5, in Guatemala auf 8,7 und in Panama auf 7,4 Prozent.

Die Faktoren, die zur Unsicherheit in der Region beitragen, sind vielfältig. So haben der Drogenhandel und die organisierte Kriminalität die Gewaltspirale in den vergangenen zehn Jahren zwar beschleunigt, doch stehen der ONUDC zufolge nur 30 Prozent aller Mordfälle in Verbindung mit Banden und anderen Formen von organisiertem Verbrechen. Die Politik der „harten Hand“ mit entsprechender Polizeigewalt verschlimmert die Situation. Nicht selten beginnt Gewalt bereits in den eigenen vier Wänden, was besonders Frauen zu spüren bekommen: Jede dritte Frau zwischen 15 bis 49 Jahren hat nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits häusliche Gewalt erfahren5 – in aller Regel durch einen Partner oder Expartner. Nur die wenigsten Betroffenen melden solche Übergriffe der Polizei.

Die Mehrzahl der Mörder – und 40 Prozent ihrer Opfer – sind Männer zwischen 15 bis 29 Jahren. Da 60 Prozent der Lateinamerikaner jünger als 30 sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, als Mann aus einem sozial benachteiligen Milieu vor dem 31. Geburtstag umgebracht zu werden, bei 1 zu 50. Ein Fünftel der Jugendlichen in der Region, insgesamt 32 Millionen Personen, so viele, wie in ganz Peru leben, besitzen weder einen Schulabschluss noch eine Arbeit.6 Neben dem daraus resultierenden Gefühl der Entfremdung und der fehlenden wirtschaftlichen Perspektive beeinflusst vor allem die massive Verbreitung von Drogen und Waffen die Kriminalitätsrate. Während Armut grassiert und familiäre Bindungen schwinden, bieten Gangs ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Schutzes. Zudem werden illegale Tätigkeiten zunehmend lukrativer als reguläre Jobs.

Neue Notruf-App mit Angabe der Blutgruppe

Besonders problematisch ist die Situation in städtischen Ballungsgebieten, wo etwa 80 Prozent der Menschen leben. Am häufigsten werden Personen aus den einkommensschwachen Vierteln am Stadtrand ermordet. Nach Angaben des brasilianischen Igarapé-Instituts liegen sieben der zehn tödlichsten Städte der Welt in Lateinamerika. Aleppo in Syrien steht ganz oben auf der Liste, danach folgen bereits San Pedro und Sula in Honduras.

Es ist paradox: Die Kriminalität in der Region hat zugenommen, obwohl die Armut im vergangenen Jahrzehnt insgesamt zurückgegangen ist und die sozialen Sicherungssysteme sich deutlich verbessert haben. Trotz solch positiver Entwicklungen sind die extreme Armut, die große Ungleichheit der Einkommen und die Schattenwirtschaft geblieben. Nach einem Bericht der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik lebten 2014 dort 167 Millionen Menschen (also nahezu 30 Prozent der Gesamtbevölkerung) in Armut und 67 Millionen in extremer Armut.

Die Region scheint in einer Ungleichheitsfalle gefangen zu sein; das ist besonders fatal, da sich Ungleichheit noch negativer auf Kriminalitätsraten und Unsicherheit auswirkt als Armut an sich. Gewalt ist unter verarmten städtischen Bevölkerungsgruppen verbreiteter und Morde treffen primär die Bewohner der Armenviertel; Diebstähle und Entführungen hingegen richten sich vor allem gegen Angehörige der Mittelschicht. Nur die wohlhabenden Milieus besitzen genug Kapital, um sich vor Gewalt zu schützen, indem sie in gesicherten Wohngebieten leben. So gibt es in der Region mittlerweile auch mehr private Sicherheitsleute als Polizisten. Wie sich vor diesem Hintergrund der gegenwärtige Wirtschaftsabschwung auf die Kriminalitätsentwicklung auswirken wird, ist noch offen.

Während das organisierte Verbrechen immer effizienter wird, mangelt es den Staaten an wirksamen Gegenmaßnahmen. Und weil die Ordnungshüter in der Bevölkerung kein Vertrauen mehr genießen, entsteht ein Teufelskreis aus Kriminalität, Korruption und Straffreiheit. Zudem erschweren Schwächen im Justizsystem und im Polizeiapparat eine effiziente Sicherheitspolitik: Nach der Phase des Kalten Krieges, die geprägt war durch autokratische Herrschaftssysteme und nationale Sicherheitsdoktrinen, hat die Polizei keinen neuen Ansatz gefunden. Kriminelle Gewalt hat die staatliche Repression abgelöst, und die gleichen Sicherheitsbehörden, die gestern noch die Bevölkerung unterdrückten, sollen heute deren Beschützer sein – ein Übergang, der nicht so einfach funktioniert.

Weil sie kein Vertrauen in die Polizei haben, erstatten die Opfer nur selten Anzeige. Tun sie es doch, bleibt das oft ohne Folgen. Die Regierungen setzen ihrerseits eher auf Repression denn auf Prävention und versuchen, Strafgesetze und Ermittlungsprozeduren zu ändern. Die hohen Verbrechensraten in der Region scheinen indes zu belegen, was die Theoretiker der Kriminalitätsökonomie7 schon seit den 1960er Jahren behaupten: Potenzielle Straftäter handeln ökonomisch. Sie berechnen die zu erwartenden Gewinne und prüfen die möglichen Sanktionen. Ist das Risiko (einer Verhaftung und Verurteilung) gering, wird es in Kauf genommen.

Die Situation in den Gefängnissen der Region ist ein weiterer Minuspunkt für die Staaten. Die erbärmlichen Haftbedingungen8 verhalfen den Bandenchefs zu noch mehr Macht – sowohl innerhalb wie außerhalb der Gefängnismauern. Kleinkriminelle warten oft viele Monate oder Jahre auf ihren Prozess. 2012 waren zwischen 30 und 50 Prozent aller inhaftierten Personen Untersuchungshäftlinge, in Bolivien waren es sogar mehr als 80 Prozent.9 Nach Einschätzung des International Center of Prison Studies10 sitzen von weltweit 10 Millionen Häftlingen 1,2 Millionen in den Gefängnissen Lateinamerikas und der Karibik. Die Anzahl liegt mit über 200 Gefangenen pro 100 000 Einwohner über dem globalen Durchschnitt (aber weit unter dem der USA mit über 700). Mit den Drogenkriegen der letzten Jahrzehnte hat sich die Zahl der Häftlinge mehr als verdoppelt. Die Gefängnisse sind schon lange von Institutionen der Resozialisierung zu Schulen des Verbrechens geworden.

Allerdings gibt es auch Programme, die Erfolge vermelden, vor allem auf dem Gebiet der Prävention: So haben sich einige Initiativen gegen Gewalt an Frauen bewährt. In El Salvador zum Beispiel bietet das Programm „Ciudad Mujer“ (Stadt der Frau) Gewaltopfern schnelle und koordinierte Unterstützung an. Dazu zählt unter anderem der Zugang zu Beratung und Verhütungsmitteln, Soforthilfe im Falle eines Übergriffs sowie juristischer und psychologischer Beistand. Das Programm bietet außerdem Berufsausbildungen, Streitschlichtungen, Unterstützung bei Firmengründungen sowie Gesundheits- und Kinderbetreuungsdienste an. Kolumbien, Trinidad und Tobago und Mexiko haben sich schon von dem Beispiel inspirieren lassen.

Doch für nachhaltige Erfolge bedarf es auch einer Reform der Polizei. Ecuador verfolgt diesbezüglich bereits eine neue Strategie, mit durchaus positiven Ergebnissen. Die dortige Strukturreform beinhaltet unter anderem den Aufbau einer Nachbarschaftspolizei, die die Verbindung zu den Gemeinden stärkt; auch die Verlässlichkeit und Beschaffung von kriminalitätsrelevanten Informationen wurde verbessert. Das Sicherheitsbudget wurde zudem von 1 auf 2 Prozent des Gesamthaushalts aufgestockt und die Polizeibeamten erhalten mehr Gehalt als ihre Kollegen in den Nachbarländern. Für mehr als 80 Millionen Dollar wurden 400 kommunale Polizeiwachen errichtet und eine kostenlose Notruf-App für Handys entwickelt.11 Die Erfolge können sich sehen lassen: Innerhalb von drei Jahren ist die Mordrate in Ecuador um 64 Prozent gesunken. Kolumbien, Uruguay, Brasilien und Honduras haben inzwischen mit Unterstützung der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank ähnliche Schritte eingeleitet.

In einem weiteren Schritt muss das Problem der Straflosigkeit bekämpft werden. In einer hochmodernen Einrichtung nach höchsten internationalen Standards testet Panama derzeit ein innovatives Rehabilitationsmodell für kleinkriminelle Minderjährige. Ein Drittel aller Jugendhäftlinge sitzt hier ein und erhält Zugang zu Gesundheitsversorgung, Sportprogrammen, technischen Lehrgängen und Berufsausbildung. Erste Studien sprechen für Verhaltensänderungen und eine Verringerung der Rückfallquote. Allerdings hat diese Initiative in der Region bislang kaum Nachahmer gefunden.

Und schließlich geht es auch um Good Governance. Der brasilianische Bundesstaat Pernambuco im Nordosten des Landes hat seinen Sicherheitsapparat reformiert: Der Gouverneur des Bundesstaats kontrolliert persönlich, ob und wie die gesteckten Ziele erreicht wurden. Auch ein 2007 beschlossener „Pacto Pela Vida“ (Pakt für das Leben) zeigt eindrucksvolle Erfolge: Die Mordrate in Pernambuco ist zwischen 2006 und 2013 um 40 Prozent und in der Hauptstadt Recife sogar um 60 Prozent gesunken, auch wenn sie mit 35 Tötungsdelikten je 100 000 Einwohner nach wie vor sehr hoch ist.12

Projekte wie diese zeigen, wie Kriminalität und Gewalt in Lateinamerika und in der Karibik eingedämmt werden könnten. Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung müssen jedoch von einer Verringerung der Ungleichheit und mehr wirtschaftlichen Möglichkeiten für junge Menschen begleitet werden. Dazu bedarf es größerer sozialer Mobilität und eines besseren Zugangs zu Bildung und Arbeit für alle. Das Gewaltproblem ist eben nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern auch eine soziale Herausforderung.

1 „Global study on homicide 2013„, Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), Wien 2014.

2 „Encuesta nacional de victimización y percepción sobre seguridad pública (Envipe) 2014“, Nationales Institut für Statistik, Geografie und Informatik (Inegi), Mexiko 2014.

3 Eine regelmäßige erstmals 1995 durchgeführte Erhebung in 18 lateinamerikanischen Ländern, an der etwa 20 000 Personen teilnehmen.

4 Rodrigo Soares und Joana Naritomi, „Understanding of social and policy factors“, in: Di Tella, Edwards und Schargrodsky (Hg.), „The Economics of Crime: Lessons for and from Latin America“, University of Chicago Press, 2010.

5 „Violence against women in Latin America and the Caribbean : A comparative analysis of population-based data from 12 countries“ , Washington, D. C., 2012.

6 Siehe Helen Moestue, Leif Moestue und Robert Muggah, „Youth violence prevention in Latin America and the Caribbean : A scoping review of the evidence“, Norwegian Peacebuilding Resource Centre (Noref), Oslo, 15. August 2013.

7 Gary Becker, „Crime and punishment : An economic approach“, Journal of Political Economy, Band 76, Chicago 1968.

8 Vgl. Cecibel Romero und Toni Keppeler, „Im siebten Kreis der Hölle“, Le Monde diplomatique, Oktober 2013.

9 „Citizen security and justice sector framework document“, Inter-Amerikanische Entwicklungsbank, Washington, D. C., 2014.

10 „World pre-trial/remand imprisonment list“, www.prisonstudies.org/sites/prisonstudies.org/files/resources/downloads/wppl_10.pdf.

11 Bei einem Notruf sendet die App automatisch den Anruferstandort. Bei der Installation kann die Blutgruppe des Nutzers eingegeben werden.

12 Caio Marini und Humberto Falcão Martins, „Todos por Pernambuco em tempos de governança : conquistas e desafios“, Sekretariat für Planungs- und Verwaltungsaufgaben des Bundesstaats Pernambuco, Recife 2014.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Carlos Santiso und Nathalie Alvarado sind bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank zuständig für die Stärkung staatlicher Institutionen.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015, von Carlos Santiso und Nathalie Alvarado