11.06.2015

Südländer, Nordländer und der Euro

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Südländer, Nordländer und der Euro

Die zwei unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle, die es in Europa gibt, erfordern eigentlich zwei verschiedene Währungen – so die Position deutscher Eurokritiker.

von Wolfgang Streeck

Kanzler Kohl und sein europäisches Modell REINHARD KRAUSE/reuters
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Nachkriegsdeutschland war nie darauf aus, Europa zu dominieren. Parteiübergreifend war sich die politische Klasse stets einig, dass ihr Land als europäische Macht vor einem fundamentalen Dilemma stehe, das höchst zurückhaltend zu handhaben sei: Deutschland war zu groß, um geliebt, und zu klein, um gefürchtet zu werden. Folglich gebiete es das nationale Interesse, das Land in ein größeres europäisches Gebilde einzugliedern, wobei dieses auf keinen Fall von Deutschland allein geführt werden dürfe, sondern nur in Kooperation mit anderen Ländern, insbesondere mit Frankreich.

Deutschland hatte also, solange sein Zugang zu ausländischen Märkten gesichert war (um die nötigen Rohstoffe zu importieren und die eigenen industriellen Produkte zu exportieren), kein Interesse an einer herausragenden internationalen Rolle. Zumal unter Bundeskanzler Helmut Kohl galt es als oberste Priorität, den europäischen Kokon, in dem sich Deutschland häuslich einzurichten hoffte, möglichst unversehrt zu bewahren. Das ging so weit, dass Kohl immer dann, wenn Zwistigkeiten unter seinen europäischen Partnern drohten, in die Tasche langte, um die Rechnung für einen Kompromiss zu zahlen, der die europäische Einheit zumindest dem Anschein nach zu retten vermochte.

Das ist heute jedoch nicht mehr möglich; und genau darauf muss die Regierung Merkel eine Antwort finden. Seit Beginn der Finanzkrise, deren Ende auch nach sieben Jahren noch nicht absehbar ist, erwartet man in ganz Europa – und nicht nur hier – die Lösung von Deutschland, und zwar bevorzugt nach dem Kohl‘schen Rezept. Doch inzwischen sind die Probleme zu groß geworden, als dass Deutschland sie noch aus eigener Tasche lösen könnte.

Was Merkel von Kohl unterscheidet, ist also nicht etwa der Ehrgeiz, die politische Führung Europas zu übernehmen, sondern eben diese neue Situation: Heute muss die deutsche Regierungschefin, ob sie will oder nicht, aus dem Dunkel der europäischen Hinterbühne heraus an die Rampe treten – und sei es nur, weil die Vorderbühne sonst leer bleiben würde. Doch die Probleme, die sie dort erwarten, sind gigantisch.

Das gilt zum einen für die Ebene der Europäischen Union, wo der Integrationsprozess zu einem politischen und ökonomischen Desaster geführt hat – wobei Deutschland heute groß genug erscheint, um für alles, was schiefgeht, verantwortlich gemacht zu werden, aber immer noch zu klein ist, um es wieder geradezubiegen. Es gilt aber auch für die Politik in Deutschland, wo der zentristische innenpolitische Konsens in Auflösung begriffen ist.

Betrachten wir zunächst die Rolle Deutschlands in Europa. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise reichten wenige Jahre, um die meisten – wenn nicht alle – Sympathien aufzuzehren, die sich deutsche Regierungen in der Nachkriegszeit bei den Nachbarländern in mühsamer Kleinarbeit erarbeitet hatten. In den Mittelmeerländern, teilweise auch in Frankreich, ist Deutschland heutzutage so verhasst wie noch nie seit 1945. In einigen Ländern gehören Plakate und Karikaturen, die Merkel oder Schäuble in Wehrmachtsuniform und mit Hakenkreuzen versehen zeigen, heute zum Alltag. Und rechte wie linke Parteien betrachten es als Erfolgsrezept, ihre Wahlkämpfe als Kampagnen gegen Deutschland und die deutsche Kanzlerin aufzuziehen.

Was die EZB mit ihrem Programm der monetären Lockerung („Quantitative Easing“, QE) bewirkt oder nicht bewirkt, bleibt abzuwarten, aber ein Ergebnis steht jetzt schon fest: In Südeuropa feierte man die Niederlagen der Deutschen im EZB-Rat als Siege. Und in Italien ist Mario Draghi – trotz seines neoliberalen Credos und seiner Banker-Vergangenheit bei Goldman Sachs – der große Held, weil er es mehrmals geschafft habe, „die Deutschen“ auszutricksen und zu demütigen.

Die alte BRD im europäischen Kokon

Im heutigen Europa ist der Nationalismus auf dem Vormarsch. Und er wächst sogar in Deutschland, das lange Zeit das am wenigsten nationalistische Land Europas war. In den südlichen Ländern dreht sich die Außenpolitik mehr und mehr um die Frage, wie Deutschland zu Konzessionen bewegt werden könne, sprich: wie es im Interesse des eigenen Landes, der „europäischen Solidarität“ und der Menschheit schlechthin zur Vernunft zu bringen wäre. Und es ist eine völlig offene Frage, ob und in welchem Zeitraum die Wunden zu heilen sind, die der Euro in den emotionalen Beziehungen zwischen Deutschland und Ländern wie Italien und Griechenland hinterlassen hat.

Dass die Europäische Währungsunion oder EWWU,1 die eigentlich darauf angelegt war, die europäische Einheit zu vollenden, Europa inzwischen zu spalten droht, ist eine Ironie der Geschichte, die Frau Merkel nicht entgangen sein kann. Die deutschen Politiker beginnen langsam zu realisieren, dass es bei dem Konflikt innerhalb und wegen der Währungsunion nicht nur um eine einmalige „Rettung“ des griechischen Staats oder der französischen (oder auch deutschen) Banken geht. Dieser Konflikt ist nicht durch heroische Chirurgie zu beseitigen, durch welche die europäische Einheit wiederhergestellt werden könnte; er ist vielmehr in der Struktur der EWWU selbst angelegt.

In der heutigen Eurozone sind sehr unterschiedliche nationale Gesellschaften mit divergierenden wirtschaftlichen Institutionen, Praktiken und Kulturen vereinigt. Diese Vielfalt macht sich vor allem auch in den unterschiedlichen Gesellschaftsverträgen geltend, die den Verkehr an der Kreuzung zwischen modernem Kapitalismus und gesellschaftlichem Leben möglichst kollisionsfrei regulieren sollen.

Ein wichtiges Element dieser divergierenden politisch-ökonomischen Grundstrukturen ist eine jeweils spezifische Finanz- und Geldpolitik. Vereinfacht dargestellt, hat sich in den Mittelmeerländern ein Typ von Kapitalismus herausgebildet, bei dem das Wachstum vornehmlich von der heimischen Nachfrage abhängt, die, wenn nötig, durch eine inflationäre Geldpolitik belebt wird. Ebenfalls nachfrage- und oft zugleich inflationssteigernd wirken defizitäre öffentliche Haushalte und die Erfolge von Gewerkschaften, die von einer hohen Arbeitsplatzsicherheit profitieren, zumal in einem meist überproportional ausgebauten öffentlichen Sektor.

Zugleich erleichtert eine relativ hohe Inflation dem Staat das Schuldenmachen, weil sie den Schuldenbestand mit der Zeit abwertet. Hinzu kommt ein nationales Bankensystem, das stark reguliert und häufig ganz oder teilweise in öffentlicher Hand ist. Innerhalb eines solchen Gesamtmodells ist es möglich, die Interessen der Arbeiternehmer und der Arbeitgeber mehr oder weniger in Einklang zu bringen, was insbesondere für die große Zahl von für den Binnenmarkt produzierenden Kleinbetrieben gilt. Der Preis für den so erkauften sozialen Frieden ist freilich ein ständiger Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, der regelmäßig durch Abwertung der nationalen Währung kompensiert werden muss, was zu Lasten der ausländischen Exporteure geht. Das Ganze setzt natürlich voraus, dass ein solches Land seine währungspolitische Souveränität behält.

Die Volkswirtschaften Nordeuropas und vor allem die deutsche funktionieren anders. Hier entspringt das Wachstum der Konkurrenzfähigkeit auf ausländischen Märkten, weshalb Inflation sehr unpopulär ist, auch bei Arbeiternehmern und Gewerkschaften, die bei stei­gen­den Kosten mit einer Abwanderung der Produktion rechnen müssen. Für eine Wirtschaft dieses Typs ist die Möglichkeit, die nationale Währung ab­zuwerten, von geringer Bedeutung. Anders als die EU-Mittelmeerländer, die früher mit einer weichen Währung am besten fuhren, setzen Länder wie Deutschland auf eine Hartwährungspolitik. Wegen ihrer niedrigen Inflation sind sie prinzipiell auch gegenüber Staatsverschuldung skeptischer als andere Länder, obwohl sie in der Regel nur sehr niedrige Zinsen zahlen müssen (nicht zuletzt, weil ihre Gesamtverschuldung relativ niedrig liegt).

Da diese Länder grundsätzlich ohne eine expansive Geldpolitik auskommen, laufen sie auch nicht das Risiko von Blasen, die auf den Aktien- oder Immobilienmärkten explodieren können. Das kommt zusätzlich den in Ländern dieser Art zahlreichen Sparern zugute: „Erst sparen, dann kaufen“ beschreibt, nur leicht zugespitzt, die traditionelle Wirtschaftskultur der Deutschen, wie sie von ihren politisch-ökonomischen Institutionen unterstützt wird.

Hässlicher Kampf mit allen Klischees

Ein einheitliches Geldregime, das sowohl die politische Ökonomie Nordeuropas (das Modell sparen und investieren) als auch Südeuropas (das Modell verschulden und ausgeben) umfasst, kann unmöglich beiden gleich gut dienen. Wenn eine gemeinsame Währung funktionieren soll, muss einer – entweder der Norden oder der Süden – sein gesellschaftliches Produktions- und Wachstumsmodell einschließlich des mit ihm verbundenen sozioökonomischen Friedensvertrags im Sinne des jeweils anderen Modells „reformieren“. Unter den derzeit gültigen europäischen Verträgen lastet dieser „Reformdruck“ auf den Mittelmeerländern, insofern als diese durch das Euro­regime gezwungen werden, auch ohne die Abwertung ihrer nationalen Währung „konkurrenzfähig“ zu werden – unter der strengen Aufsicht der deutschen Hartwährungshüter. Das können die Regierungen dieser Länder jedoch, wie sich zeigt, gegen den Widerstand ihrer Bevölkerung – zumindest kurzfristig – nicht schaffen oder wollen es auch nicht.

Das Ergebnis ist ein Kampf zweier Linien innerhalb der Eurozone. Dieser Kampf ist ausgesprochen hässlich, weil es dabei nicht nur um die materiellen Lebensbedingungen der Menschen geht, sondern auch um wirtschaftliche und gesellschaftliche Weltbilder. Das äußert sich unter anderem in den negativen Klischees beider Seiten: über die „faulen Griechen“ einerseits und die „kalten Deutschen“ andererseits, die „leben, um zu arbeiten, statt zu arbeiten, um zu leben“. Wobei Letztere als gnadenlose Zuchtmeister ihrer europäischen Nachbarn erscheinen, die zusammen mit den europäischen Verträgen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen versuchen, indem sie ihr spezielles Arrangement mit dem modernen Kapitalismus als das allein seligmachende und einzig vernünftige zum allgemein-europäischen Modell erheben.

Gleichzeitig stoßen die Versuche der Südeuropäer, den Euro „aufzuweichen“, um durch die Hintertür wieder ihre altgewohnten Inflationsraten, Haushaltsdefizite und Währungsabwertungen einzuführen, auf den Widerstand der nordeuropäischen Regierungen und ihrer Wähler, die nicht zum „lender of last resort“ ihrer südlichen Nachbarn werden und für eine expansive Geldpolitik einstehen wollen, ohne die es für die politische Ökonomie der Südländer keine Wachstumsperspektive gibt.

Bei der entstehenden Innenpolitik der Eurozone geht es also vornehmlich um die Bildung von Allianzen, die das gemeinsame Währungssystem in entgegengesetzte Richtungen ziehen, das heißt nach dem südlichen oder dem nördlichen Modell entwickeln wollen. Dabei können beide Seiten, so wie sie sind, zwar nicht miteinander leben, zugleich aber wollen sie auf absehbare Zeit auch nicht ohne einander auskommen. Die nördlichen Exportländer schätzen die festen Wechselkurse, die Südeuropäer wollen dagegen niedrige Zinsraten, für die sie Defizitobergrenzen und eine Deckelung ihrer Haushalte, sofern diese „flexibel“ gehandhabt werden, in Kauf nehmen. Wobei sie im Ernstfall auf nachsichtige Behandlung durch Partnerländer hoffen, von denen sie erwarten, dass sie leichter zu beschwichtigen sind als die Finanzmärkte.

In dieser Auseinandersetzung haben Deutschland und seine Verbündeten derzeit die Oberhand. Doch auf längere Sicht kann sich keine der beiden Seiten eine Niederlage leisten, denn der Verlierer wird das komplexe Gefüge seiner Institutionen und Einverständnisse, die seine politische Ökonomie ausmachen, von Grund auf neu gestalten müssen. Wobei der Ausgang einer derartigen „Reform“-Anstrengung ungewiss bleibt und in jedem Fall eine lange Übergangsperiode voller politischer Unsicherheiten und ökonomischer Turbulenzen durchzustehen wäre. So müssten etwa die Südländer, wenn sie verlieren, die Arbeitsmarktregeln des Nordens übernehmen, während die Deutschen ihre Stabilitäts- und Sparmentalität zu überwinden hätten, die in den Augen ihrer südlichen Partner destruktiv und egoistisch ist.

Nun kann man natürlich das im März 2015 angelaufene Quantiative- Easing-Programm der EZB, das nach offizieller Lesart die Inflationsrate im gesamteuropäischen Durchschnitt auf 2 Prozent anheben soll, als Teil einer Strategie sehen, die den Euro im Interesse der südlichen Mitgliedstaaten aufweichen soll. Tatsächlich ließ das QE den Außenwert des Euro zunächst rasch sinken. Dazu kommt einem der frühere italienische Regierungschef Letta in den Sinn, der sich zu dem unbedachten Spruch hinreißen ließ, „der verdammte Euro“ sei so teuer, dass er die Erholung der italienischen Wirtschaft behindere. Allerdings begünstigt eine Euroabwertung vor allem export­orien­tier­te Länder wie Deutschland, ohne die Lage der schwächeren gegenüber den stärkeren Eurostaaten zu verbessern. Eine weitere Verbilligung des Euro könnte zudem langfristig einen globalen Abwertungswettlauf in Gang setzen. Und auch in Deutschland werden nicht alle profitieren: Die Exportindustrie wird sich über die zusätzliche und fundamental ungerechtfertigte Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit nicht beschweren, doch die deutschen Sparer werden für lange Zeit mit sehr niedrigen oder gar negativen Zinsen leben müssen.

Der Kampf um die künftige Gestalt des europäischen Währungssystems wird freilich nicht nur auf rein technischer, sondern auch auf moralisch-kultureller Ebene ausgetragen. Deshalb ist der Hinweis wichtig, dass keine der verschiedenen Systeme kapitalistischen Wirtschaftens den anderen moralisch überlegen ist. Die Einbettung des Kapitalismus in die Gesellschaft und die Versöhnung der kapitalistischen Logik mit der des sozialen Lebens ist stets ein schwieriger und „unsauberer“ Prozess, bei dem Improvisationen und Kompromisse unvermeidlich sind, was bedeutet, dass am Ende keine der beiden Seiten zufrieden sein wird.

Das hält die Verfechter jedes einzelnen nationalen Modells allerdings nicht davon ab, sich einzureden, dass das eigene Modell nicht nur natürlich und rational ist, sondern auch die höheren sozialen Werte verkörpert. Die Deutschen drängen die Griechen, ihre politische Ökonomie – und mithin sich selbst – zu „reformieren“, damit Misswirtschaft und Korruption endlich überwinden werden. Dabei vergessen sie, dass sie mit ihrer Forderung an die Griechen, sich „den Marktgesetzen“ zu unterwerfen, zugleich verlangen, dass diese ihre altmodische, gesellschaftlich eingebettete Korruption für eine moderne, in die Finanzmärkte eingebettete Korruption nach Art von Goldman Sachs oder der internationalen Großbanken aufzugeben, die im heutigen Kapitalismus endemisch ist (siehe die seit 2010 von den großen Banken, einschließlich der Deutschen Bank, geleisteten Bußgeldzahlungen in Höhe von insgesamt mehr als 150 Milliarden Dollar – etwa für geheime Absprachen bei der Festsetzung von Leitzinsen oder des Goldpreises).

Die bitteren ideologischen und ökonomischen Konflikte, die Europa heute entlang nationaler Linien spalten, werden nicht schnell beizulegen sein. Selbst wenn die Sparpolitik ihren unterstellten Zweck erfüllen und Südeuropa unter einem harten Euro konkurrenzfähig machen sollte, wird dies zu Lasten des Lebensstandards in den Defizitländern gehen, der um weitere 20 bis 30 Prozent sinken müsste. Ob dann, „nach der Kur“, wenn diese Länder nach marktliberalem Verständnis über eine neue solide Basis verfügen, sie kräftig ökonomisch aufholen werden, ist freilich keineswegs gesichert.

Tatsächlich ist ein Schrumpfen der Einkommensdifferenzen innerhalb und dank freier Märkte ein Hirngespinst, wenn man die vielen Faktoren bedenkt, die für kumulative Vorteile derjenigen sorgen, die im Wettbewerb bereits vorne liegen. Für die Innenpolitik der Währungsunion wird es deshalb zwingend sein, die durch das Sparen noch verschärften regionalen Disparitäten politisch zu entschärfen. Vorbild wären Nationalstaaten wie Italien und Deutschland, wo der Mezzogiorno respektive die „Neuen Länder“ von dauerhafter Unterstützung durch die Zentralregierung profitieren; die schwächeren Regionen werden subventioniert, um den Rückstand zum Lebensstandard der anderen in Grenzen zu halten. Tatsächlich werden in Italien wie in Deutschland pro Jahr schätzungsweise 4 Prozent des Sozialprodukts in die rückständigen Gegenden transferiert, was allerdings gerade ausreicht, um ein weiteres Anwachsen der interregionalen Einkommensunterschiede zu verhindern.

Politik im Auftrag der Exportindustrie

Das ökonomische Gefälle zwischen den EWWU-Mitgliedern nach der „Rettung“ der Schuldenstaaten des Südens, wenn eine solche überhaupt möglich ist, wird also die Konflikte, die schon jetzt zwischen und innerhalb der Eurostaaten existieren, eher noch verschärfen. Die Südstaaten werden Wachstumsprogramme, einen europäischen „Marshallplan“ und regionalpolitische Fördermittel fordern, um eine konkurrenzfähige Infrastruktur aufbauen zu können – also materielle „Solidarität“ als Gegenleistung für ihr Festhalten an der gemeinsamen Währung und der europäischen Einheit insgesamt.

Die Nordländer werden aus wirtschaftlichen wie politischen Gründen außerstande sein, mehr als einen Bruchteil der erforderlichen Gelder aufzubringen – und schon gar nicht die Summen, die der Süden fordern wird und muss.2 Zugleich werden die Regierungen des Nordens als Gegenleistung auf Kontrolle über die Verwendung ihrer Gelder bestehen, schon um im eigenen Lande nicht dem Vorwurf der jeweiligen Opposition ausgesetzt zu sein, dass sie Verschwendung, Klientelismus und Korruption fördern.

Die Südländer wiederum werden sich die Beschneidung ihrer Souveränität durch die Nordländer nicht gefallen lassen und sich über deren Knausrigkeit beschweren, während man im Norden behaupten wird, dass man zu viel gezahlt und dafür zu wenig Einfluss zugestanden bekommen hat. Aus Sicht des Südens wird dabei vor allem Deutschland – das größte und dem Anschein nach reichste Mitgliedsland – politisch als imperialistisch und ökonomisch als egoistisch wahrgenommen, ohne dass die Berliner Regierung viel dagegen tun könnte. Denn nachdem die deutschen Wähler bereits für die Integration Ostdeutschlands gezahlt haben und zahlen, werden sie ihrer Regierung nicht erlauben, die Südländer zu unterstützen – schon gar nicht bedingungslos – und für eine europäische Regionalpolitik mehr als nur symbolische Summen aufzubringen.

Wie lange die Große Koalition in der Lage sein wird, zugleich ihre EU-Partner und ihre Wähler zufriedenzustellen, ist eine offene Frage. Eingeklemmt zwischen diesen beiden Fronten, könnte sie mit ihrer Weisheit schon bald am Ende sein. Für die deutschen Exportbranchen samt ihren Gewerkschaften hat die Erhaltung der Eurozone heute allerhöchste Priorität. Dabei gelingt es ihnen, unterstützt durch eine euroidealistische Linke, den Euro auf eine Weise zu sakralisieren, die umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass es sich dabei schließlich und endlich nur um eine Währung handelt.3 Ganz auf dieser Linie liegt auch Merkel, die ihre heimische Machtbasis stets im Blick hat, was sich in ihrem berühmten Diktum äußert: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“

Nachdem die deutsche Regierung sich im Namen höherer moralischer Ziele auf den Euro festgelegt hat, muss sie in den harten multinationalen Verhandlungen, die innerhalb der Eurozone mittlerweile zum Dauerzustand geworden sind, auf schmerzhafte Weise ihren Konzessionsspielraum ausloten lassen. Bezeichnend ist eine Episode aus dem Februar dieses Jahres: Nachdem die neue griechische Regierung, die von der Spieltheorie mehr versteht als ihre von Brüssel eingesetzten Vorgänger, mit den Europartnern eine erste Vereinbarung über „Reformen“ unterzeichnet hatte, sah sie zu, wie der deutsche Finanzminister sich abmühte, die CDU-Bundestagsfraktion zu deren Ratifikation zu bewegen. Einen Tag vor der Abstimmung erklärte Schäubles Kollege Varoufakis im griechischen Fern­sehen, das Abkommen sei dank seiner „kreativen Unklarheit“ im Grunde substanzlos, im Übrigen werde man die griechischen Staatsschulden am Ende sowieso abschreiben müssen – was Schäuble gerade für völlig ausgeschlossen erklärt hatte.

Es ist also keineswegs so, dass die Berliner Regierung – als geschäftsführender Ausschuss der deutschen Exportindustrie und ihrer Einheitsfront von Unternehmern und Beschäftigten – für das Überleben des Euro keine Opfer bringen will. Das Problem ist vielmehr, dass der ursprüngliche „permissive Konsens“ über die europäische Integration neuerdings auch in Deutschland in dem Maße versickert, in dem „Europa“ in Gestalt der Währungsunion die na­tio­nalen politisch-ökonomischen Strukturen immer tiefer durchdringt.

Und so gab es einen „Euroskeptizismus“ plötzlich auch dort, wo man ihn bislang am wenigsten erwartet hat. Eine neue Partei, die Alternative für Deutschland (AfD), drohte das politische Spektrum der CDU von rechts anzunagen. Will man die Gegner einer immer weitergehenden Entmachtung des Nationalstaats in Schach halten, müssen sich die Parteien der Mitte, einschließlich der SPD, vor Konzessionen hüten, wie sie ihnen andere europäische Länder künftig abverlangen werden. Bislang liefen Transferzahlungen innerhalb der EU häufig über regionale Förder- und Sozialprogramme. Aber die Summen, die die Währungsunion erfordern wird, sind so groß, dass man sie nicht mehr in derartigen Programmen verstecken kann – und das gilt wie gesagt nicht nur für die aktuelle griechische „Rettungsoperation“, sondern auch danach, und zwar auf Dauer.

Überleben ohne den Euro

Mehrere Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht haben in Deutschland dazu beigetragen, „Europa“ zu politisieren und die Öffentlichkeit zu alarmieren. Eine Zeit lang schien es so, als billige die Merkel-Regierung stillschweigend die Praktiken der EZB, der es mittels diverser erfindungsreicher Methoden gelungen ist, das nach EU-Recht gültige Verbot direkter Kredite an Mitgliedstaaten zu umgehen. Zwar hat sich die Bundesbank über diese Praktiken beschwert, doch von der Regierung kam kein Wort der Kritik. Weil aber der Verteilungskonflikt in der Eurozone ein Dauerthema bleiben wird, könnten die Kosten der Währungsunion für Deutschland politisch wie ökonomisch eine Dimension erreichen, die vor einem Wählerpublikum, das selbst immer stärker von einer strengen Haushaltspolitik betroffen ist, weder versteckt noch gerechtfertigt werden kann.

Die deutsche Volkswirtschaft könnte sich im Prinzip durchaus auf ein Leben ohne den Euro einstellen. Die Rückkehr zu einer Art von Währungssouveränität, die den Ländern des Südens (und den Kandidatenländern des Südostens) mehr Bewegungsspielraum verschaffen würde, könnte Europa bessere Bedingungen für eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung bieten, als es die Gemeinschaftswährung tut.

Die Zweifel an der Zukunftsfähigkeit eines Währungssystems nach Art des Goldstandards wachsen überall in Europa, sogar in Deutschland. Selbst wenn die Auffassung der deutschen Regierung und der neoliberalen Wirtschaftstheorie zutreffen sollte, dass Austerität der beste Weg zu wirtschaftlicher Prosperität ist, so gilt doch, dass diese Wunderwirkung in der Praxis immer nur dann eingetreten ist, wenn die Sparpolitik durch eine Abwertung der nationalen Währung flankiert wurde.4

Die Eurozone wird heute fast nur noch durch Angst vor dem zusammengehalten, was im Fall eines Auseinanderbrechens passieren könnte. Aber dies könnte schon bald nicht mehr ausreichen, um die Summen zu rechtfertigen, die man den deutschen Wählern wird abfordern müssen, um den Euro zu retten. Wenn die deutschen politischen Eliten einmal eine breite Welle des Protests auf sich zukommen sehen, wie sie heute schon in fast allen anderen europäischen Ländern zu beobachten ist, könnten sie es ratsam finden, die ideologische Gleichung „Euro gleich Europa“ aufzugeben. Dann könnten sie auf den Rat von immer mehr Ökonomen hören, die nun auch in Deutschland5 begonnen haben, über ein anderes, flexibleres Währungssystem für Europa nachzudenken.

Eine Rückkehr zu wie auch immer begrenzter nationaler geldpolitischer Souveränität wird keine ideale Lösung aller Probleme sein. Bekanntlich sind aber in einer kapitalistischen Ökonomie mit ihren vielfältigen inneren Widersprüchen ideale Lösungen ohnehin nicht zu haben. Ein Rückbau der Währungsunion könnte für die deutsche Exportindustrie eine Zeit lang schlecht sein; für die deutschen Steuerzahler aber dürfte sie ebenso gut sein wie für das Ansehen der Deutschen bei ihren Nachbarn.

Die Bundeskanzlerin hat 2011 in der Frage der Atomenergie eine plötzliche Kehrtwende vollzogen. Es erscheint keineswegs ausgeschlossen, dass sie einmal als die Person in die Geschichte eingehen will, der Europa die Befreiung von einer gemeinsamen Währung verdankt, die zu einem gemeinsamen Albtraum geworden ist.

1 Europäische Währungsunion ist die verkürzte Bezeichnung für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), die mit dem Maastricht-Vertrag vom 7. Februar 1992 gegründet wurde.

2 Nach ersten Schätzungen (auf Basis der Transfermodelle von Italien und Deutschland) wären innerhalb der EWU gewaltige Summen nötig, um auch nur zu verhindern, dass sich der Abstand zwischen den regionalen Einkommen wesentlich vergrößert. Die erforderlichen Summen würden die Zahlungsmöglichkeiten von Deutschland, Frankreich und den Niederlanden (zusammengenommen) bei Weitem übersteigen. Siehe Wolfgang Streeck und Lea Elsässer, „Monetary Disunion: The Domestic Politics of Euroland“, MPIfG Discussion Paper 14–17, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2014: www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-17.pdf.

3 Darin zeigt sich vielleicht auch die fortgesetzte Neigung der Nachkriegsdeutschen, ihre kollektive Identität an ihrem Geld festzumachen, was Jürgen Habermas einmal ironisch als „D-Mark-Patriotismus“ bezeichnet hat.

4 Siehe Mark Blyth, „Austerity. The History of a Dangerous Idea“, Oxford University Press (Oxford), 2013.

5 Zum Beispiel: Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas, „Against the Troika. Crisis and Austerity in the Eurozone”, London und Brooklyn (Verso) 2015.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Wolfgang Streeck ist emeritierter Direktor des Max- Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuletzt erschienen: „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“, Berlin (Suhrkamp) 2013.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.06.2015, von Wolfgang Streeck