Erdogan ausgebremst?
Die Wahlen zur Großen Nationalversammlung der Türkei vom 7. Juni brachten eine erfreuliche Überraschung für alle, die das Land seit den Präsidentschaftswahlen vom August letzten Jahres auf dem Weg in eine Präsidialdiktatur sahen. Erdogans AK-Partei verfehlte nicht nur die angestrebte Zweidrittelmehrheit, die ihr eine Verfassungsänderung in Richtung eines autoritären Systems ermöglicht hätte. Sie erreichte nicht einmal die absolute Mehrheit und blieb mit 41 Prozent der Stimmen um 8 Prozentpunkte hinter ihrem Wahlergebnis bei den Parlamentswahlen von 2011 zurück. Bei den Präsidentenwahlen vom August 2014 war Erdogan noch auf knapp 52 Prozent gekommen.
Dass die Machtambitionen des Präsidenten vorerst gescheitert sind, ist vor allem der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu verdanken. Sie konnte ihren Stimmenanteil verdoppeln und kam auf 13 Prozent. Die von Kurden dominierte Partei siegte nicht nur in den kurdischen Gebieten Südostanatoliens, sie konnte auch in den Großstädten des Westens viele nichtkurdische Wähler mobilisieren, die Erdogan und die AKP stoppen wollten.
Die Entwicklung in der Türkei, die jetzt in eine neue Phase eingetreten ist, wurde in Le Monde diplomatique über die Jahre kontinuierlich verfolgt und interpretiert. Die Schritte Erdogans zur Aufhebung der Gewaltenteilung und zur Errichtung eines modernisierten „Sultanats“ wurden in den Beiträgen von Yavuz Baydar beschrieben, zuletzt im Dezember 2014 unter dem Titel „Ein Staat für Erdogan“. In unserem Türkei-Schwerpunkt vom Februar 2014 wurden auch die Kräfte porträtiert, die Erdogan für seine größten Feinde hält: Jürgen Seufert schrieb über die Gülen-Bewegung, Timour Muhidine über „Apachen und Poeten“, die junge Subkultur von Istanbul. Über den Umgang Erdogans mit seinen Kritikern berichteten bereits zwei Texte, die in Le Monde diplomatique vom Juli 2013 nachzulesen sind: Tristan Colona bilanzierte „Erdogans Versprechen – Erdogans Versagen“, und Yasar Adnan Adanali schilderte unter dem Titel „Istanbul brennt“ den brutalen Abriss eines alten Stadtviertels.