Frieden schaffen
Neue Instrumente für die Vereinten Nationen
von Gabriel Galice
Der Weg in die Hölle des Krieges ist oft mit guten Friedensabsichten gepflastert. Die alte Weisheit gilt erst recht heute, da der Rückgriff auf Gewalt fast zum Normalfall und die Nato zum militärischen Arm einer vom Westen diktierten Weltordnung geworden ist. Die Intervention im Kosovo, die 1999 ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats erfolgte, diente zur Vorbereitung auf die neue Rolle der Nato – unter humanitärem Deckmantel. In einer gemeinsamen Erklärung vom 23. September 2008, die von der UNO zunächst geheim gehalten wurde, segneten Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Umbau der UN-Sicherheitsarchitektur ab, der durch die Intervention der Allianz in Libyen im Jahre 2011 bekräftigt wurde.
Die am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnete Charta der Vereinten Nationen ist ein Manifest gegen den Krieg, das die Staaten darauf verpflichtet, ihre Streitigkeiten auf friedlichem Wege zu lösen. In der Präambel heißt es eindeutig: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat ...“1
In diesem Sinne postuliert Art. 2, Abs. 3: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ In einem anderen Abschnitt der UN-Charta werden auch Instrumente genannt, die der Umsetzung dieses Grundprinzips dienen sollen: „Die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl“ (Kap. VI, Art. 33).
Entgegen allen Vorurteilen war diese Methode einigermaßen erfolgreich, meint der Schweizer Botschafter Thomas Greminger: „In den 1990er Jahren wurden mehr Konflikte (42) durch Verhandlungen gelöst als durch einen militärischen Sieg (23).“2
Die in Art. 33 erwähnten diplomatischen und juristischen Mittel zur friedlichen Konfliktlösung kommen übrigens ständig zur Anwendung, auch bei innerstaatlichen Auseinandersetzungen. So hat man 2005 in zwei Fällen nach langwierigen, intensiven Vermittlungsprozessen Staatsgebiete aufgeteilt, die zuvor jahrelange bewaffnete Konflikte erlebt hatten: das Friedensabkommen zwischen der sudanesischen Regierung und der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, der dem Südsudan den Weg in die Unabhängigkeit eröffnete; und das Abkommen zwischen Indonesien und der Unabhängigkeitsbewegung Osttimors, das die Demokratische Volksrepublik Timor-Leste ins Leben gerufen hat.
Am 12. Juni 2006 unterzeichneten die Präsidenten von Kamerun und Nigeria einen Vertrag, mit dem Kamerun die lange umstrittene Halbinsel Bakassi zuerkannt wurde, nachdem der Internationale Gerichtshof (IGH) bereits 2002 zugunsten von Kamerun entschieden hatte. Der Sicherheitsrat erklärte am 13. August 2013 die Zeit der Übergangsregierung für beendet und begrüßte die friedliche Lösung.
Schon am 27. Juni 1986 hatte Nicaragua einen aufsehenerregenden Sieg vor dem IGH errungen. Zwar hatte die Verurteilung der von den USA unterstützten paramilitärischen Contras keinerlei politische Konsequenzen, weil US-Präsident Ronald Reagan die Entscheidung schlicht ignorierte – doch zeigen solche Erfolge, dass das Völkerrecht durchaus einen Rahmen und Verfahren für den Austausch von Argumenten zwischen Konfliktparteien bietet, was in jedem Fall besser ist als bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Gruppierungen.
Zu dem Arsenal friedlicher Instrumente gehören auch Vermittlungsmissionen, bei denen manche Länder besonders erfahren sind. Die Schweiz etwa half 1962 beim Zustandekommen der Verträge von Evian zwischen Frankreich und der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Algeriens. Und Norwegen organisierte die Friedensgespräche zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die zum Oslo-Abkommen von 1993 führten.
Andererseits scheitern die Versuche einer friedlichen Konfliktlösung nur allzu oft (auch im Fall des Oslo-Abkommens). Deshalb haben sich die am Ende des Kalten Kriegs aufkeimenden Hoffnungen nicht erfüllt. Die UN-Kommission „Panel on united peace operations“ hat 2000 unter Vorsitz von Lakhdar Brahimi einen Schlussbericht erstellt, dem zufolge in den bewaffneten Auseinandersetzungen der 1990er Jahre mehr als fünf Millionen Menschen getötet wurden. Vor allem in Exjugoslawien und im Irak wurde das Völkerrecht weitgehend ausgehebelt, was derzeit auch Russland in der Ukraine tut.
Mit der UN-Resolution Nr. 687 vom April 1991, die den Irak zu Entschädigungsleistungen verpflichtete, maßte sich der Sicherheitsrat Befugnisse des Internationalen Gerichtshofs an. Und am 22. Mai 2003 legitimierte er mit der Resolution Nr. 1483, die von den USA, Großbritannien und Spanien eingebracht und von den 14 Anwesenden einstimmig beschlossen wurde, auf indirekte Weise nachträglich die Besetzung und Ausbeutung des Iraks. China und Russland gaben am Ende nach, um in Erwartung des Siegs der USA ihre Interessen zu wahren.
Die Auseinandersetzungen in der Ukraine, in Syrien oder im Jemen sind die jüngsten Beispiele für solche Stellvertreterkriege, wie sie in gewisser Weise schon zu Zeiten des Kalten Kriegs in Korea, Vietnam, Angola, Nicaragua und anderswo stattfanden. Noch folgenreicher war der Rechtsmissbrauch, den George W. Bush mit seiner Präemptivschlagsdoktrin zur Rechtfertigung des Irakkriegs beging, indem er Art. 51 der Charta (über das Selbstverteidigungsrecht der Staaten) ganz in seinem Sinne auslegte.
Derzeit laufen weitere bewaffnete Auseinandersetzungen, die auf einer Instrumentalisierung der Menschenrechte beruhen; zugleich setzen sich die westlichen Mächte über alle völkerrechtlichen Regeln hinweg: Sie verlegen ihre „verschärften Verhöre“ in andere Länder und weigern sich, ihre Gefangenen gemäß der Genfer Konvention zu behandeln, oder sie setzen auf unerlaubte Weise bewaffnete Mittel ein. „In diesem Fall tritt man auch das Recht mit den Füßen und gibt allen, die unser demokratisches System stürzen wollen, gute Argumente an die Hand“, erklärt der ehemalige Schweizer Staatsanwalt Dick Marty. „Mit diesem Verhalten beweisen wir selber, dass das System ihre selbst beschlossenen Regeln gar nicht einhält.“3
Nach den traumatischen Ereignissen, die auf das Nichteingreifen der internationalen Staatengemeinschaft im bosnischen Srebrenica 1995 und beim Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994 zurückgehen, wurde beim UN-Weltgipfel 2005 der Begriff der „Schutzverantwortung“ eingeführt. Damit hatten die Verfechter humanitärer Interventionen ihr Ziel nach jahrelangen Bemühungen erreicht. Was mit der Forderung begann, dass Hilfe für bedrohte Menschen nicht durch Staatsgrenzen gestoppt werden dürfe, endete damit, dass im Namen der Menschenrechte militärische Interventionen abgesegnet wurden.
Während also der Rückgriff auf Gewalt durch eine instrumentalisierte Ethik legitimiert wird, werden die Konfliktursachen immer vielfältiger und verwickelter. Art. 46 und 47 der UN-Charta, die einen Generalstabsausschuss vorsahen, der den Sicherheitsrat militärisch beraten und unterstützen soll, wurden nie umgesetzt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs verwandelte sich die Nato von einer regionalen Verteidigungsallianz in eine selbsternannte globale Garantiemacht. Und ihre unaufhörliche Ausdehnung nach Osten ging mit einer ständigen Beeinträchtigung der UN-Zuständigkeiten einher.
Das Abkommen vom 23. September 2008 zwischen den Generalsekretären von UNO und Nato ist so schwammig formuliert, dass die Unterschiede zwischen Friedenssicherung und Recht zum Krieg (jus ad bellum) verschwimmen. So heißt es über die verstärkte Zusammenarbeit beider Institutionen, man unterstreiche „die Bedeutung der Einrichtung eines Rahmens für Beratung, Dialog und Zusammenarbeit, einschließlich eines ... Austauschs und Dialogs zu politischen und operationalen Fragen“.4
Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten Generalsekretär Ban Ki Moon zur Unterschrift unter das Abkommen gedrängt. Dmitri Rogosin, der ständige Vertreter Russlands bei der Nato, erklärte das Abkommen dagegen für illegitim, insofern es den Sicherheitsrat umgehe. In dem saß damals übrigens der russische UN-Botschafter Sergei Lawrow, der somit die faulen Tricks der westlichen Vertreter besonders genau studieren konnte.
Ein besseres Vorbild für den Umbau der UN-Sicherheitsarchitektur wäre die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gewesen. Die OSZE weist mehrere Vorteile auf: Erstens bietet sie eine kooperative Struktur, die für Dialog und Sicherheit steht; zweitens gehören zu ihr – neben Kanada und den USA – auch große Teile Europas (inklusive Russland) und Zentralasiens; drittens funktioniert sie auf eher elastische und pluralistische Weise, dank einer Führungs-„Troika“, in der das Land, das den aktuellen Vorsitz innehat, mit seinem Vorgänger und seinem Nachfolger kooperiert.
Was die wirtschaftliche Ebene betrifft, so gibt es ein globales Phänomen, das sich verschärfend sowohl auf die sozialen Konflikte als auch auf die lokalen Kriege auswirkt: die Politik der Privatisierungen. Das Recht auf Entwicklung, das die UN-Vollversammlung 1986 explizit bestätigt hat, wurde mittlerweile zugunsten eines ebenso minimalistischen wie problematischen „Kampfs gegen die Armut“ vernachlässigt. Dabei gehen Krieg und Unterentwicklung Hand in Hand. Die wirtschaftlich und technologisch überlegenen Mächte umgehen die Verpflichtungen der UN-Charta, indem sie den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation vorschieben.
Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad), auf der die Hoffnungen der Entwicklungsländer in den 1960er und 1970er Jahren ruhten, ist längst an den Rand gedrängt. Das Völkerrecht wird zunehmend durch das internationale Privatrecht und multilaterale Handelsabkommen ersetzt, wie der zunehmende Einfluss der internationalen Schiedsgerichte zeigt. Sollte das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP wirklich kommen, werden diese nicht öffentlich tagenden Privatgerichte in Streitfällen zwischen Investoren und Staaten entscheiden.
Was tun? Besonders wichtig ist es nach wie vor, bei der Analyse eines bewaffneten Konflikts die geopolitischen oder wirtschaftlichen Interessen zu ermitteln, statt immer nur nach irgendwelchen kulturellen oder religiösen Ursachen zu suchen.
Der US-Journalist Thomas Friedman stellt die Verbindung zwischen Wirtschaft und Militär wie folgt dar: „Die wirtschaftliche Integration des Planeten setzt voraus, dass die US-amerikanische Macht gegen Staaten zum Einsatz kommt, die das System der Globalisierung bedrohen – vom Irak bis Nordkorea. Die unsichtbare Hand des Markts wird niemals ohne eine unsichtbare Faust funktionieren. Die Geschäfte von McDonald‘s florieren nicht ohne McDonnell Douglas, den Konstrukteur des F-15-Kampfjets. Die unsichtbare Faust, die die Welt sicher macht, damit die Technologien des Silicon Valley gedeihen können, besteht aus Heer, Luftwaffe, Marine und Marineinfanterie der USA“.5
Es kann nicht verboten sein, über andere Visionen nachzudenken, die sich auf Frieden und Entwicklung unserer Welt konzentrieren …
1 Dieses und alle Zitate der UN-Charta nach der offiziellen deutschen Fassung: www.documentarchiv.de/in/1945/un-charta.html).
2 Thomas Greminger, „Médiation et facilitation dans les processus de paix actuels: l’importance vitale de l’engagement, de la coordination et du contexte“, Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, Bern, 15.–17. 2. 2007.
3 Dick Marty, „Terrorisme, antiterrorisme et justice“, in: Yvonne Jänchen (Hg.), Cahiers du Gipri, Nr. 8: „Quel avenir pour l’Irak?“, Paris (L’Harmattan) 2010.
4 Karl Müller, „Geheimabkommen zwischen UNO und Nato kann nicht im Sinne der Weltgemeinschaft sein“, 23. 9. 2008: www.zeit-fragen.ch.
5 Thomas L. Friedman, „A Manifesto for the Fast World“, New York Times, 28. März 1999.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Gabriel Galice ist Präsident des Internationalen Friedensforschungsinstituts (Gipri) in Genf und Autor von (mit Christophe Miqueu) „Penser la République. La guerre et la paix sur les traces de Jean-Jacques Rousseau“, Genf (Slatkine) 2012