10.08.2007

Macht’s wie die BBC

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Macht’s wie die BBC

von Mathias Greffrath

von Mathias Greffrathvon Mathias Greffrath

Größer als Gorleben“ sei die Sache, sagte der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, und Helmut Schmidt fand sie „gefährlicher als Kernenergie“. Die „Sache“ war die Zulassung kommerzieller Fernseh- und Rundfunksender in der Bundesrepublik.

Der Kampf der Union gegen den „Rotfunk“, die ökonomische Begehrlichkeit der Zeitungsverleger und eine neue Technik demontierten das beste Mediensystem, das wir je hatten. Das ist jetzt 25 Jahre her. Der Fall-out dringt heute 24 Stunden am Tag aus hundert Kanälen, und anders als bei den Atomkraftwerken glaubt niemand, dass die kommerziellen Meinungsmeiler noch abzustellen sind.

„Das Nachdenken beginnt immer erst, wenn etwas verlorenging“, schrieb Alexander Kluge damals. „Geht aber die Öffentlichkeit verloren, so geht die Formenwelt für das Nachdenken ebenfalls verloren.“ Die Privatisierung der Öffentlichkeit sei eine elementare Frage, weil sie die Souveränität betrifft: „Wer die klassischen Öffentlichkeiten zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher.“

Die Einreden von damals klingen rührend altmodisch in einer Zeit, in der Murdochs Reich sich von den Höhen des Wall Street Journal bis in die Niederungen globaler Graswurzelnetzwerke erstreckt, in der Bild und Welt nur Teile eines Unternehmens sind, das vom Briefverkehr über den osteuropäischen Boulevard bis zur Unterwanderung der offiziellen Websites deutscher Großstädte reicht, in der niemand weiß, welche Fonds hinter KKR und Permira stecken, denen Sat.1 und SBS gehören. Und in der bestenfalls noch offen ist, ob die hunderttausend Blumen des Web 2.0 zu neuen Formen sozialer und politischer Gemeinschaft werden, oder zu einer bloß netten, bunten Wiese, die, sobald sie zu erblühen beginnt, von den Content- und Werbemultis plattgemacht wird.

Jürgen Habermas hat, weil die Heuschrecken nun auch die Süddeutsche Zeitung bedrohen, noch einmal das demokratische Heiligtum beschworen: Der Philosoph pries eine aufgeklärte Öffentlichkeit, in der vom „professionellen Selbstverständnis eines unabhängigen Journalismus getragene“ Medien die existenziell wichtigen politischen Fragen bearbeiten und „zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündeln“, die dann kraftvoll in die parlamentarische Arena wirken.

Die Globalisierung der Medienmärkte gefährdet nun auch die „Leitmedien“ der Nation, die dies alles vollbringen (sollen). „Keine Demokratie kann sich ein Marktversagen auf diesem Sektor leisten“, meint Habermas. Deshalb regt er an, über staatliche Hilfen für die in ökonomische Not geratende Qualitätspresse nachzudenken. Schließlich sei der Staat verpflichtet, die Energieversorgung der Bevölkerung mit Gas und Strom sicherzustellen. „Sollte er dazu nicht ebenso verpflichtet sein, wenn es um jene andere Art von ‚Energie‘ geht, ohne deren Zufluss Störungen auftreten, die den demokratischen Staat selbst beschädigen?“

Man könnte die Sorge noch alarmistischer formulieren: Wir werden die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte nur halbwegs demokratisch bewältigen, wenn die nationalen Regierungen und Parlamente wieder handlungsfähig werden und wenn es gelingt, unter den Bürgern einen Konsens über die Umverteilungen von Lasten und Opfern herzustellen. Wenn also die Bürger – alle Bürger – nicht nur gut informiert werden, sondern sich als chancenreiche Teilnehmer an diesen Umwälzungen begreifen können.

In den letzten drei Jahrzehnten sind die Medien dem Marktgesetz verfallen. Ihre neue „Vielfalt“ ist passgenauer Überbau der ökonomischen Basis: Unterschichten lernen auf Unterschichtenschulen, schlucken Unterschichtenessen, sehen Unterschichtenfernsehen; Eliten gehen auf Privatschulen, essen und joggen mit Stil und lesen FAZ, SZ und notfalls Die Welt. Wer wollte da von den Politikern eine Förderung der Qualitätspresse erwarten, die Wasser, Strom, Verkehr und Post längst freudig privatisiert haben?

Abgesehen von der Realität, zu der auch die Brüsseler Wettbewerbspolitik gehört, wäre die staatliche Subventionierung oder der nationale Schutz demokratischer „Leitmedien“ auch politisch bedenklich: Statt Auslese über den Markt wirkten politische Opportunitäten und Abhängigkeiten – und vor allem bliebe das Ungleichgewicht zwischen Elite- und Massenmedien erhalten.

Von Habermas haben wir auch gelernt, dass Öffentlichkeit keine selbstverständliche Gegebenheit ist. Jede Entschränkung der Öffentlichkeit und der Demokratie wurde von den Massen erkämpft und finanziert. Die fragile Sphäre der öffentlichen Meinung entfaltete sich schwebend zwischen bürgerlicher und linker Presse. Jede hatte ihr Publikum, beide waren kontrovers adressiert an die Träger der staatlichen Macht. Diese schöne Konstruktion aber zerfällt, wenn „der Staat“ immer weniger handlungsfähig ist, wenn er die Voraussetzungen für mündige Bürger – ein egalitäres Bildungssystem – nicht mehr garantieren will und wenn die Bürger ihren Parteien immer weniger zutrauen.

Edle Absichten blamieren sich, wenn sie nicht von einem Interesse getragen werden. Wer könnte ein nachhaltiges Interesse an der Reparatur unserer Öffentlichkeit haben? Die klassischen „Leitmedien“ diversifizieren und popularisieren ihr Angebot unter dem Druck des Anzeigenmarktes; auch fungieren sie kaum noch als „vierte Gewalt“. Mit der wachsenden Gestaltungsschwäche des Staates bündeln sie nicht länger politische Energien, sondern folgen dem Zug zur Personalisierung alternativloser Politikmatadore, zur beliebigen Darstellung von Symptomen, zur Informationsdienstleistung.

Hinzu kommt, was von Jahr zu Jahr immer ärgerlicher wird: Die Journalisten als intellektuelle Träger der „vierten Gewalt“ sind von der Unentschlossenheit einer – ihrer – Mittelschicht angesteckt, die den anstehenden radikalen Reformen bestenfalls ambivalent gegenübersteht, weil sie ihre Lebenslagen und Privilegien ankratzen. Im politischen Diskurs über Energie, über Religion, über die chinesische Herausforderung, über die Willensfreiheit, über Europa oder die Globalisierung regiert allenthalben das resignierte Eingeständnis der Ratlosigkeit. Marktliberale und sozialstaatliche Ressorts, religiöse Renegaten und radikale Aufklärer, Wachstumseuphoriker und Neo-Asketen finden sich zu einer „pluralistischen“ Redaktion, deren Hilflosigkeit vom eigenen Feuilleton ironisch oder hämisch kommentiert wird. Nirgends also wird gebündelt und nirgends polarisiert, wie es die schöne Theorie von der Öffentlichkeit fordert.

Die aufgeklärteren Geister der Parteien lamentieren seit zwanzig Jahren, dass die Privatisierung der Massenmedien eine grobe Sünde war, die den knappen Boden erodieren lässt, auf dem die politische Klasse schwankt. Die Nostalgiker schwärmen vom alten öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seinen imposanten Senderketten und seiner Finanzkraft. In den Trümmern des Krieges von BBC-Idealisten gezeugt, kam er dem nahe, was man eine virtuelle Agora nennen kann. Eine Mischung aus Vorparlament und Ganztagsgesamtschule der Nation, ein durch Frequenzmangel erzwungenes, alle einschließendes Forum für politische Debatten und die pluralistische Grundversorgung mit Kultur und Information.

Eine ganze Generation wuchs mit Massenmedien auf, die dem nahekamen, was der Medienwissenschaftler Roger Silverstone den „heimischen Raum“ nennt: Medien, die eine „zweite Heimat“ herstellen, als Ausgleich „für die materielle Entwurzelung durch die Moderne, die erhöhte Mobilität, die Zerstörung der Familie“. Mit Ritualen der Information, der Unterhaltung, der Kultur wurden die Tagesabläufe getrennt lebender Menschen synchronisiert, wurden über Entfernungen hinweg gemeinsame Sprachen und kulturelle Gemeinsamkeiten geschaffen und politische Debatten instrumentiert. Das Programmschema von BBC oder ARD folgte idealiter dem Modell eines großen Stadtplatzes, einer Agora, auf der sich im Laufe des Tages alle irgendwann einmal einfanden: Bertolt Brecht und Freddy Quinn, Heinz Erhardt und Klaus Harpprecht, die Königin der Nacht und Elvis, Strauß und Enzensberger, die „Welt der Arbeit“ und Dampfgeplauder, der Seelenratgeber und die Odysse für Kinder. Das Parlament tagte auf UKW, im Fernsehen schaute zur Primetime sogar Hamlet herein.

Das alles ist nun Nostalgie. Die öffentlichen Medienanstalten folgten – ohne Not – in den letzten Jahrzehnten dem Hang zur Selbstkommerzialisierung und zum Boulevard. Unter dem Druck der Politikerquoten in den Rundfunkräten und der Einschaltquoten in den Köpfen der Programmdirektoren, begleitet vom ängstlichen Schweigen und stillen Leiden der Redakteure, erlitten die stolzen Kulturinstitutionen einen Banalisierungsschub nach dem anderen, bis hinunter auf das Niveau von Sat.1, RTL. Die Intendanten ließen zu, dass statt der politischen Magazine, die einst die politische Agenda setzten oder beeinflussten, Frau Christiansen vier Legislaturperioden lang die Propaganda der „Initiative soziale Marktwirtschaft“ transportierte.

Genug des Jammerns. Was nun? Die Fundamente stehen ja noch. Eine konsequente Entkommerzialisierung der öffentlichen Anstalten, ein Verzicht auf Werbung, eingetauscht gegen den Verzicht der Medienunternehmen auf ihre Attacken gegen die „Zwangsgebühren“; eine verfassungsrechtliche Garantie für das öffentliche Rundfunksystem, gegebenenfalls dessen Steuerfinanzierung; vor allem aber eine Entfernung der Parteien aus den Aufsichtsgremien – dies alles und noch mehr könnte das „professionelle Selbstverständnis eines unabhängigen Journalismus“ wieder entfesseln.

Die Parteien werden solchen Machtverzicht nicht freiwillig leisten. Aber wie wäre es mit einem kraftvollen Masterplan zum demokratischen Relaunch, vorgelegt von den unkündbaren Lokomotivführern in den Anstalten? Mit paritätischer Mitbestimmung der Journalisten in den parteifreien Rundfunkräten, renommierten und ausstrahlenden Journalistenschulen der ARD, wirksamen Redaktionsstatuten, anständigen Frequenzen für den nationalen Hörfunk? Es gäbe hundert Ideen, deren Verwirklichung keine Marktrücksichten zu nehmen hätte.

Vor allem aber sind die Öffentlich-Rechtlichen der wirksamste und letzte Hebel der Politik, um im Internet die Machtergreifung durch kommerzielle Interessen wenigstens einzugrenzen. Ein Blick auf die gute alte BBC lehrt, was nötig wäre: Die Anstalt stellt gerade die Schätze ihrer Archive und ihre professionell recherchierten aktuellen Sendungen kostenlos in die neuen jugendnahen Internetplattformen und fischt damit Zuschauer und Hörer.

Bei der ARD wird derzeit nicht mal ein Prozent des Gebührenaufkommens für die Netzprogramme eingesetzt. Angesichts der Medienpräferenzen der jüngeren Generation ist das mehr als grob fahrlässig. Doch welche demokratischen und kulturellen Chancen hätte die marktunabhängige ARD, würde sie das duale System von bürgergesellschaftlicher und kommerzieller Publizistik und Kultur, das auf dem Markt von Print und TV seit einem Vierteljahrhundert schwer gestört ist, im Netz neu etablieren!

Wenn neue Kontinente sich auftun, muss man schnell seine Claims abstecken, Zweckkoalitionen eingehen und aufkündigen, Gegner neutralisieren. Die Medienkonzerne haben es begriffen, die Freunde der Demokratie tun sich schwer damit. Immerhin, in der eher staatsskeptischen Blogger-Community wächst die Erkenntnis, dass die schöne Vielfalt für kreative Start-ups und Netzbürger nur dazu führt, dass es „kein gemeinsames Nachdenken mehr gibt“ und dass stattdessen „jeder über etwas anderes nachdenkt“.

Das ist nichts anderes als der Ruf nach der klassischen Öffentlichkeit. Deren Verteidigung ist nötig, aber sie wird vergeblich sein, wenn die neuen Kontinente nicht besetzt werden. Eine Allianz der basisdemokratischen Impulse der Blogger-Communitys mit dem Geld und Know-how der öffentlichen Medien könnte zu einem neuen demokratischen Urknall führen.

Nachfrage gibt es genug, denn da wächst allmählich ein neuer Wurzelgrund für Optimismus. 45 Prozent der Westdeutschen, meldet Allensbach mit Missvergnügen, halten den Sozialismus für eine gute Idee, die beim ersten Mal nur schlecht ausgeführt wurde. Vor 16 Jahren waren es noch 30 Prozent. Das ist ein Wachstum von 50 Prozent. Vierzig Millionen suchen ein Medium. Eine riesige Marktlücke für unabhängige Intendanten, profilsuchende Politiker, leidenschaftliche Journalisten, flankierende Professoren, ehrgeizige Blogger.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.08.2007, von Mathias Greffrathvon Mathias Greffrath