Tina und die Aliens
Stellen wir uns einmal vor, ein Raumschiff voll neugieriger Aliens überflöge die Erde. Da sie die Relativität der kosmischen Zeit ausnützten, könnten sie die verschiedenen Kulturen und Lebensformen, die diese Erde in den letzten Jahrtausenden bevölkert haben, nacheinander in den Blick nehmen. Sie flögen dabei von einer Kulturgemeinschaft oder Lebensform zur nächsten, von „Lebensinsel zu Lebensinsel“.
Das wäre ein interessantes Schauspiel. Sie bekämen Lebensformen zu sehen, die bitterarm sind und einen unbarmherzigen Kampf ums nackte Überleben führen. Andere hätten vielleicht Nahrung und Behausung im Überfluss, verfügten aber (gerade deswegen?) kaum über technische oder kulturelle Errungenschaften. Wieder andere hätten gegen schreckliche Krankheiten zu kämpfen. Oder gegen übermächtige äußere Feinde. Manche wären auch von inneren Konflikten und vielleicht Bürgerkriegen gekennzeichnet.
Auf fast allen Inseln, so steht zu vermuten, gäbe es identifizierbare Quellen menschlichen und sozialen Leidens, unter denen der Mangel an individueller Handlungs- und Entscheidungsfreiheit nicht die geringste wäre.
Nehmen wir weiter an, auch unsere spätmoderne westliche Lebensform wäre eine solche Insel, über die die Aliens staunend hinwegflögen. Hier gerieten sie ins Grübeln: Die Menschen sehen unglücklich aus. Sie wirken gehetzt. 25 Prozent von ihnen haben die absoluten Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit erreicht. Praktisch alle klagen über Stress und Zeitnot. Depressionserkrankungen als Reaktion auf Überforderungsgefühle nehmen zu.
Dabei verkünden ihre Führer, die goldenen Zeiten seien vorbei – der Wettbewerb müsse härter werden, viele materielle, kulturelle und soziale Errungenschaften der Vergangenheit könne man sich nicht mehr leisten.
Da es sich zweifellos um eine sehr entwickelte Kulturform handelt, würden die Aliens vielleicht versuchen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Worunter die Menschen denn so litten? „Wir haben keine Arbeit“ oder „Wir haben Angst, die Arbeit zu verlieren“ wäre gewiss eine häufige Antwort.
Ihr habt keine Arbeit?! Die Aliens wären verwirrt: Wenn die da unten keine anderen Sorgen haben … Vielleicht ist ihnen den ganzen Tag langweilig, weil es nichts zu tun gibt? Doch nein: Unsere Wirtschaft muss um jeden Preis wachsen, würden sie von den Führern jener Gruppen, die „Parteien“ heißen und die Meinungsführerschaft innehaben, zu hören kriegen.
Das verstünden die Aliens. Ihr meint, eure Wirtschaft muss wachsen, weil ihr nicht genug Nahrung, Häuser, Autos, Computer, Fernseher oder Bücher habt?! Nein, nein, bekämen sie zur Antwort. Die Wirtschaft muss wachsen, weil wir sonst keine Arbeit haben. Das Problem ist, dass wir mehr produzieren müssen, und zwar mit weniger Leuten, obwohl wir schon alles haben, was wir brauchen. Weil wir sonst keine Arbeit mehr haben. Arbeit gäbe es eigentlich genug – wir müssten dringend unsere Straßen reparieren, unsere Umwelt pflegen, unsere Alten und Kranken angemessen versorgen –, aber wir können uns das alles nicht mehr leisten, weil die anderen Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, sich dies auch nicht mehr leisten. Versteht ihr das nicht?!
Aber die Aliens verstünden nicht. Also, würde ihr Chefanalytiker anheben, ihr wollt uns sagen, dass ihr alle Maschinen der Welt habt, um alle eure materiellen Probleme zu lösen, dass ihr keine tödlichen Krankheiten, keine nennenswerten Kriege und genug intellektuelles Potenzial habt, um eure materielle und kulturelle Reproduktion spielend aufrechtzuerhalten, dass ihr gesunde Mitbürger habt, die jene Maschinen bedienen und alle Arbeit nicht nur erledigen können, sondern auch wollen, dass ihr aber schrecklich und immer stärker leidet, weil ihr nicht in der Lage seid, Arbeit und Güter zu verteilen? So ist es!, würden wir antworten.
Die Aliens würden uns auslachen: Dann ändert doch euer System! Wir aber würden aufheulen: Das geht nicht! TINA! There Is No Alternative!, hat schon Margaret Thatcher gewusst. Alle Länder der Erde, von zwei kleinen, inselartigen Gebilden abgesehen, denen es noch schlechter geht als uns, haben es eingesehen, alle Universitäten, alle Zeitungen und Fernsehsender, alle Wirtschaftsexperten predigen es: Die Wirtschaft muss wachsen, es gibt keine Alternative!
Wann, würden die Aliens entgeistert fragen, ist eure Wirtschaft leistungsfähig genug, dass sie aufhören kann zu wachsen; wann ist der Wettbewerb so hart, dass ihr es zufrieden seid und euch anderen Dingen des Lebens zuwenden könnt? Kleinlaut müssten wir eingestehen: Einen solchen Endpunkt gibt es nicht. Die Wirtschaft wird immer weiterwachsen, als Selbstzweck, nicht um ein großes Ziel zu verwirklichen. Bis in alle Ewigkeit. Fredric Jameson, kein Alien, sondern amerikanischer Literaturwissenschaftler, bemerkt, das Erstaunlichste an unserem Zeitalter sei es, dass wir uns wesentlich leichter das Ende der Welt ausmalen könnten als eine Alternative zum herrschenden wirtschaftlichen und politischen System. Das Einzige, was uns als Gegenmodell einfällt, ist die stalinistische Planwirtschaft. Und die wollen wir nicht.
Jetzt würden die Aliens nicht mehr lachen. Sie würden den Kopf schütteln und davonfliegen. Denen ist nicht mehr zu helfen. Die sind übergeschnappt. Kollektiver Wahnsinn …
Hartmut Rosa
© Le Monde diplomatique, Berlin Hartmut Rosa lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.