08.02.2013

Brief aus Maribor

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Brief aus Maribor

von Boris Cizej

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Am 30. November 2012 hat der slowenische Staat im Alter von 21 Jahren in Maribor seine Unschuld verloren. Schon seit Tagen hatte es Demonstrationen gegeben, doch nun schlug die Obrigkeit mit unverhältnismäßiger Gewalt zu. Die sogenannten Mariborer Aufstände – ebenso wie die auf dem Kairoer Tahrirplatz über Facebook organisiert – haben Bilder produziert, wie man sie bei uns bisher noch nie gesehen hat: Polizeikordons, Tränengas, brennende Müllcontainer, Hubschrauber über der Menge – das volle Programm eben. Von Maribor sprang der Funke auf Ljubljana über und von dort auf das ganze Land.

Der Verlust der Unschuld zwanzig Jahre nach der Staatsgründung erinnert die slowenische Gesellschaft daran, dass weder die soziale Ordnung noch die Grundwerte in Stein gemeißelt sind. Alle Bürger Sloweniens, die enttäuschten Nationalisten ebenso wie die glühenden Antinationalisten, mussten einsehen, dass die Unabhängigkeit nicht automatisch die von ihnen erhofften Folgen gebracht hat. Ein selbstständiger Staat ist noch keine Gewähr dafür, dass dieser Staat auch tatsächlich die Interessen seiner Bürger vertritt, statt nur die bestimmter Parteien oder Cliquen.

In Slowenien sind allerdings nicht einzelne Politiker oder Machthaber das Problem, sondern das allgemeine Verständnis von Demokratie: Wie kommen die unterschiedlichen Auffassungen zur Geltung? Was bedeutet es im Einzelnen, rechtsstaatliche Prinzipien zu befolgen? Wie kann es gelingen, demokratische Werte in der Gesellschaft zu verankern? All das muss in der slowenischen Gesellschaft erst noch mit Sinn gefüllt werden.

Was in den kommenden Tagen oder Monaten eintreten könnte – Rücktritt des Premiers, Regierungsumbildung, vorgezogene Wahlen –, wäre noch kein Sieg für die Protestbewegung. Davon kann erst die Rede sein, wenn sich jenseits vom Zirkus der Trickser und Intriganten eine echte politische Kraft entwickeln würde, die Entscheidungen vorantreibt und sich von keiner politischen Partei instrumentalisieren lässt.

In Slowenien verabschiedet sich die sogenannte Mladina- beziehungsweise ZMKS-Generation von der Macht und aus der Politik. Die Wochenzeitschrift Mladina („Jugend“) war in den 1980er Jahren das Sprachrohr der demokratischen Opposition, der ZMKS ist der Bund der Sozialistischen Jugend Sloweniens. Aus ihren Reihen kam das Gros der „Befreier“ des Landes, die bis zur Krise von 2008/09 gemeinsam mit der Liberaldemokratischen Partei Sloweniens (LDS) und deren Ablegern die politischen, ökonomischen und kulturellen Räume beherrscht hatten. Diese Generation war sehr jung in die Politik und an die Macht gekommen und hat sich in den zwanzig Jahren ihres Wirkens erschöpft. Die Eliten aus Politik und Wirtschaft leiden am „Boiled Frog Syndrom“ – sie haben nicht gemerkt, dass sich die Situation verändert hat, und haben den Zeitpunkt verpasst, sich noch zurückzuziehen. Als die Krise da war, fanden sie keinen Ausweg mehr.

Die Zeit ist reif für eine bittere Wahrheit: Die vermeintliche Erfolgsgeschichte Sloweniens war ein Märchen. Die slowenische Staatsbildung war zuerst ein kulturelles Projekt: die Geburt des Staats aus dem Lied, wie man bei uns sagen würde. Aber dann hat die Politik alles vereinnahmt, eine funktionierende Zivilgesellschaft wollte sich einfach nicht herausbilden, und die Kultur zog sich mehr oder weniger aus dem Zentrum zurück.

Die ersten Meldungen ausländischer Medien über die Demonstrationen in Slowenien waren im Großen und Ganzen falsch. Die Presseagenturen erklärten, es handele sich wie in vielen Krisenstaaten der EU um die üblichen Proteste gegen Sparmaßnahmen. Es stimmt zwar, dass es auch die Krise war, die die Menschen auf die Straße getrieben hat, die eigentliche Botschaft der ersten Massenproteste im unabhängigen Slowenien war aber eine andere. Sie richtete sich in erster Linie an die unfähige und korrumpierte politische Kaste, die schon seit Langem den Kontakt zur bitteren slowenischen Realität verloren hat. Dieser Kaste wollten die Demonstranten zu verstehen geben, dass die Vorstellung, Staatsbürger seien Wähler, die hin und wieder bei einem Referendum ihre Stimme abgeben dürfen, auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Stattdessen sollen die Bürger mitbestimmen, was beispielsweise dank moderner Technologien in zunehmenden Maße auch möglich ist. Natürlich wird es auch in Zukunft allgemeine Wahlen und Volksabstimmungen geben, aber die Bürger müssen an den Entscheidungsprozessen insgesamt mehr beteiligt werden.

Langsam verändern sich die Dinge. Die Angst hat ein Ende. Die Menschen fangen an, sich zu widersetzen. Sie sind stolz auf ihre komplexe Geschichte. Diese vielen mannigfaltigen Einflüsse haben eine interessante Mischung aus ländlicher Bodenständigkeit und urbanem Raffinement hinterlassen.

All das führte ausgerechnet in Maribor zu einer Explosion. Die Stadt, die 2012 den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ trug, ist meine Heimatstadt. Eine interessante Stadt in der Provinz, aus der wir alle kommen: Mitteleuropa. Hier bin ich aufgewachsen, zuerst Gymnasium, dann die weite Welt. Vor zwei Jahren bin ich zurückgekehrt, gerade wegen der Kulturhauptstadt. Heimgekehrt. Damals war Maribor eine der traurigsten Städte auf der Erdkugel, öde und träge, sowohl physisch als auch mental. Das war die Folge des industriellen Niedergangs und anderer struktureller Umbrüche zu Beginn der 1990er Jahre. Doch das war nur der jüngste von zahlreichen Schlägen, die die Stadt hat einstecken müssen.

Diese Geschichte reicht übrigens mehr als hundert Jahre zurück. Damals lieferten sich Slowenen und Deutsche regelrechte Konkurrenzkämpfe um das „wahre Volkstum“. Dreiviertel der Stadtbevölkerung waren Deutschsprachige, in den Dörfern der Umgebung war es umgekehrt. Gegenüber dem deutschen Theater errichteten die Slowenen in Maribor ihr nationales Volksheim, und die Deutschen kauften slowenische Bauernhöfe in der Umgebung auf, um so eine Landbrücke von der „Sprachinsel Marburg an der Drau“ zur sprachlichen Mehrheit im Norden zu schaffen. Ohne Erfolg: 1919 fiel die Stadt an das neu geschaffene Jugoslawien, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Die Anzahl der Deutschen ging in kurzer Zeit deutlich zurück, und sie wurden zu einer kleinen, wenn auch wirtschaftlich starken Minderheit.

Zwanzig Jahre später kehrte sich alles um. „Macht mir dieses Land wieder deutsch“, soll Hitler gesagt haben, als er nach der Besetzung von Nordslowenien im April 1941 in Maribor eine Rede hielt. Die gesamte slowenische Ober- und Mittelschicht wurde damals nach Serbien vertrieben. Wer übrig blieb, wurde „eingedeutscht“. Als deutsche Stadt wurde Maribor von den Alliierten bombardiert. Es gab nur wenige Partisanen.

Als der Krieg vorbei war, kamen die Kommunisten in die fast leere Stadt und errichteten ihre Ordnung. Maribor war schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine Industriestadt, die Kommunisten errichteten noch eine großes Werk für Lastwagen und Militärfahrzeuge, bauten Wasserkraftwerke und eine Fabrik für Industriekräne.

1991 wurde Slowenien unabhängig, und Maribor erlitt abermals einen Schlag. Die Industrie verlor ihre Absatzmärkte. Zwanzig Jahre später sind immer noch 18 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeitslos. Seither sind etwa 30 000 Mariborer weggezogen, meist Angehörige der Mittelschicht, und das mittelalterliche Stadtzentrum verfiel zusehends. Lethargie und Ignoranz machten sich breit, was am Ende zur Wahl eines Bürgermeisters führte, der diese ganze schlechte Energie in sich zu vereinigen schien. Mehr Sheriff denn Bürgermeister, mehr Grobian denn Bürger. Er bekam zwölf Strafanzeigen wegen des Verdachts auf Korruption, alle in Verbindung mit den städtischen Finanzen.

In Slowenien gelten die Mariborer als altmodisch. Die Globalisierung konnte ihnen nichts anhaben. Seit eh und je pflegen sie dieselben lieb gewonnenen Sitten und Unsitten des alten Europa. Es ist ihre Stadt, die sie sich weder wegnehmen noch miesmachen lassen. Ihre ganze Wut und Enttäuschung über die allgemeine Lage Sloweniens und die besondere von Maribor drückten sie in einem einzigen, mit dem Englischen spielenden Slogan aus: „Gotof je!“ („Zieh Leine!“). Der Schlachtruf der Anti-Milosevic-Bewegung in Belgrad, der als Graffito noch heute an manchen Fassaden in Maribor zu sehen ist, konnte sofort wieder die Massen mobilisieren. Am Ende haben sie ihr Ziel erreicht. Der Sheriff ist jetzt „gotof“.

Der Funke aus Maribor ist auf ganz Slowenien übergesprungen. Aber die europäische Öffentlichkeit kann beruhigt sein: Der oben erwähnte Verlust der Unschuld des slowenischen Staats ging in Maribor mit der Geburt einer echten slowenischen Demokratie einher. In den zwanzig Jahren des Übergangs vom Totalitarismus zur Demokratie haben sich die Slowenen wie brave Schüler verhalten, deren Schulbücher von anderen geschrieben wurden – jetzt haben sie die Sache endlich selbst in die Hand genommen. Demokratie, das sind wir. So einfach ist das.

Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof Boris Cizej war von 2005 bis 2011 Herausgeber der slowenischen Ausgabe von Le Monde diplomatique; 2012 war er Leiter des Programms „Kljuci mesta“ („Schlüssel der Stadt“) der Europäischen Kulturhauptstadt Maribor 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.02.2013, von Boris Cizej