Von der Sache ergriffene Phantasie
„Dieser Film unterscheidet sich von den Schwärmen der amerikanischen und europäischen Filme nicht durch die größere Kunst der Regieführung – gewiss auch durch sie –, nicht durch die peinlichere Ausnutzung der filmtechnischen Möglichkeiten und das gewaltigere Aufgebot der Massen. Etwas anderes trennt ihn von der Weltproduktion, etwas grundsätzlich anderes. Er hat die Wand durchstoßen, hinter die jene Filme nicht dringen. Er trifft eine Sache, die wirklich ist, er meint die Wahrheit, um die es zu gehen hat. […]
Mit einem unerhörten Sinn für Zeichen und Wirkungen ist der Augenblick gewählt, in dem sich die Revolution von ihrem realen Beginn bis zu ihrem traumhaften Ende zusammenballt. Ein Augenblick vor dem Sieg der Revolution, aus der Zeit des unterirdischen Wühlens und gut-anarchistischen Begehrens, in der die Wahrheit noch einschlagen kann wie ein Blitz. […]
Dieser Film spannt nicht wie die westlichen durch Sensationen, hinter denen die Langeweile sich dehnt. Die Sache spannt in ihm, denn sie ist wahr. […]
Aber wer assoziiert hier? Die von Empörung, Schrecken und Hoffnung erfüllte Phantasie, die um ein Ziel kreist und inhaltliche Gewissheiten hat. Sie erblickt die automatischen Bewegungen der Kosakenbeine und fliegt über die Gesichter der Menge, um an einem Kinderwagen haften zu bleiben. Ihr verschmilzt das Volk von Odessa und die große Hafentreppe zur unlöslichen Einheit, endlos dünkt ihr der Menschenzug auf der Mole. Diese von der Sache ergriffene Phantasie wälzt die Matrosenleiber durcheinander, sieht Menschenschatten durch eiserne Gitterroste, spannt die endlosen Geschützrohre über das Meer. Mit rebellischer Hast fährt sie von dem Lorgnon, der Verkörperung größter Macht, zu dem riesigen Panzerturm, die Teile der Dinge gelten ihr so viel wie die Meuterer, denn Meuterei steckte auch in ihnen. Nur in der Natur, vielleicht, gibt es ein kurzes Verweilen. In sanften Zwischentönen entschleiern sich Ausschnitte der Ufer, weiße Segel ziehen vorbei. […]“
Siegfried Kracauer über „Panzerkreuzer Potemkin“ in der Frankfurter Zeitung, 16. Mai 1926