Lyrik oder Brumm-Brumm
von Jacques Roubaud
Eine Feststellung
Das gegenwärtige Jahrhundert (das 21.) ist jetzt fest installiert und in den Zeitungen und Zeitschriften verliert die Lyrik immer mehr an Boden: In Le Monde des livres kann ein ganzes Jahr verstreichen, ohne dass ein einziger neuer Band zeitgenössischer Lyrik besprochen wird. Die Buchhandlungen, die in der Mehrzahl schon gar keine Abteilung mehr für derartige Werke haben, und das Fernsehen (aber das war schon im vorigen Jahrhundert klar) interessieren sich nicht für Gedichte. Eine gewisse Scham hinderte die Kulturbehörden noch bis vor kurzem daran, sich auf diese gesellschaftliche Gegebenheit einzustellen. In letzter Zeit taten sie es dann doch, aber wahrscheinlich geschah das, ohne dass sie selbst es merkten.
Zwei Beispiele: Ehrengast der letzten Pariser Buchmesse war Mexiko. Etliche Schriftsteller waren eingeladen, darunter nicht ein einziger Dichter. Ebenfalls kein einziger Dichter war unter den Autoren, die im Frühling in die Vereinigten Staaten geschickt wurden, um dort die französische Gegenwartsliteratur zu repräsentieren.
Diese Situation hat zur Folge – oder sie ist die Folge davon –, dass Lyrik wirtschaftlich quasi nicht vorhanden ist – jedenfalls die Gegenwartslyrik. Lyrik verkauft sich nicht, also ist sie unwichtig geworden. Lyrik ist unwichtig geworden, kann sich also nicht verkaufen. Natürlich ist diese literarische Gattung nicht die einzige, deren Marktanteil zurückgegangen ist. Der Roman, die Literatur als Ganzes, das Buch als solches sind davon betroffen. Aber im Falle der Lyrik haben wir es mit dem Extremfall der Auslöschung zu tun.
Wer ist schuld daran?
Die Verantwortung für diesen Zustand wird seit fast einem Jahrhundert mit einer geradezu rührenden Beharrlichkeit den Dichtern selbst zugeschoben. Stets und ständig wird ein ganzes Sortiment von Anschuldigungen ausgebreitet, um das Desinteresse des Marktes zu erklären und zu rechtfertigen: Die zeitgenössischen Dichter sind schwierig; sie sind elitär; ihre Tätigkeit ist altmodisch und vergangenheitsorientiert. Dichter sind narzisstisch; sie haben keine Ahnung, was in der Welt wirklich vor sich geht; sie ergreifen keine Initiative, um Geiseln zu befreien oder den Terrorismus zu bekämpfen; sie tragen nichts bei, um die sozialen Unterschiede auszugleichen; sie tun nichts, um den Planeten zu retten. Sie sprechen nicht die dieselbe Sprache wie normale Leute und so weiter. Und deswegen liest sie keiner. Selber schuld.
Es ist müßig, diese Anschuldigungen zu kommentieren. Sagen wir bloß dies: Wer sich für Lyrik interessiert, wer zum Beispiel Baudelaire, Hugo, Rimbaud, Apollinaire, Eluard, Aragon, Char und Michaux schätzt und kennt, die Dichter seiner eigenen Zeit aber schwierig findet, sie nicht liest und nicht versteht, warum sie auf eine Weise schreiben, die ihm unverständlich scheint, – dem geht es wie jemandem, der mit einer schweren Krankheit einen Monat lang das Bett hüten musste und im Laufe seiner Genesung zunächst kaum gehen, nicht einmal stehen kann. Ein Leser, der aufgehört hat, Gedichte zu lesen, befindet sich in einer ähnlichen Lage: Je weniger man liest, desto weniger liest man, und das, was man dann zufällig einmal zu lesen versucht, kommt einem unzugänglich vor.
Der Freie Internationale Vers
Die beschriebene Situation blieb nicht ohne Wirkung auf die Dichter selbst – in vielerlei Weise, wobei ich nicht versuchen will, die eine von der anderen abzuleiten. Der erste Schlag beim „Sturz der Lyrik“ kam durch die plötzliche Beschleunigung einer seit längerem stattfindenden Entwicklung: der Auflösung der Form. Der standardisierte Freie Vers der Surrealisten löste den traditionellen metrischen und gereimten Vers ab; die Avantgarde der 1960er-Jahre zertrümmerte ihn und bekehrte sich weitgehend zum Freien Internationalen Vers (FIV, siehe Kasten), der wie vieles andere auch aus den USA importiert wurde: Der FIV ist ein Vers; er besitzt weder ein festes Versmaß noch einen Reim, und im Allgemeinen kommt er ohne die poetischen Eigenheiten und Traditionen der jeweiligen Sprache aus, in der er angewandt wird; er folgt der Zeile und vermeidet dabei starke syntaktische Brüche. Man kann Internationale Freie Verse in nahezu allen Sprachen schmieden. Worin liegt der Vorteil? Man vermeidet allzu große Schwierigkeiten beim fürchterlichen Wegzoll der Übersetzung, der sowohl Verleger als auch Übersetzer abschreckt; und man entgeht der in Zeiten der Globalisierung ungeliebten Beschränkung auf Sprachgrenzen.
Der FIV ist auf der Weltlyrikszene, auf allen internationalen Festivals, in Sammelbänden und Zeitschriften immer noch sehr präsent. Die formalen Anforderungen, die er stellt, sind eher gering. Dies bringt ein immer deutlicher zu spürendes Hinübergleiten in eine (letzte?) formale Phase mit sich, in der der Vers selbst nicht mehr als notwendig erachtet wird. In den 90er-Jahren des verblichenen Jahrhunderts tendierte er bereits dazu, in der Betonung beim Vorlesen zu verschwinden. Ich habe es mehrmals feststellen können; viele Dichter lasen ihre Gedichte wie Prosa vor – eine durch die Stimme rhetorisch ausgeschmückte Prosa, irgendwie musste schließlich vorgeführt werden, dass es sich um Lyrik handelte. Unter diesen Umständen fragt man sich doch, wieso die Leute dann nicht gleich Prosa schreiben.
Lyrik besteht – das zeigt sich besonders deutlich bei den besten Dichtern Frankreichs oder Amerikas – aus kleinen, kurzen Prosatexten, die aber nicht narrativ wirken: Das Fehlen einer eindeutig erzählerischen Haltung ist also das einzige Merkmal für die Zugehörigkeit zur Gattung Lyrik.
Kann man sich noch Dichter nennen?
Warum will man unter diesen Bedingungen überhaupt noch an der Berufsbezeichnung Dichter festhalten? Antworten darauf sind oft widersprüchlich und irreführend. Die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit der Lyrik führt – das ergibt sich als logische Konsequenz aus der Art von Gesellschaft, in der die Dichter wie alle anderen Bürger auch leben – zu einer mehr oder weniger offenen Verachtung der Öffentlichkeit für diejenigen, die es wagen, sich „Dichter“ zu nennen.
Eher selten nimmt sich die Lyrik eines der vielen unerfreulichen Ereignisse vor, die es zuhauf gibt (meiner Ansicht nach ist das auch nicht ihre Aufgabe). Sollte sie jedoch zufällig einmal in diese Richtung zielen wollen, würde man ihr ungefähr so begegnen, wie Stalin es getan haben soll, als ihn jemand auf die päpstliche Missbilligung seiner Politik hinwies: „Der Vatikan? Wie viele Divisionen?“ Der Welt und den Meinungsseiten der Zeitungen bedeutet das Dichtersein im Grunde gar nichts.
Im Übrigen wird mancher vielleicht einwenden, dass die Dichter sowieso nicht mehr die wahre Dichtkunst pflegen, dieses edle Ding. Sie sind ihrer gar nicht mehr würdig. Die Poesie ist anderswo: im Lied, im Sonnenuntergang, im Roman und so weiter. Denn für die Welt ist Poesie nur noch wahrnehmbar, wenn man sie an Orten findet, wo sie gar nicht ist. Das kann man, in Abwandlung eines Ausdrucks des französischen Autors Yannick Liron, auch als Phantomwirkung bezeichnen. Für alle praktischen Zwecke ist die Lyrik gestorben, aber ihre Aura bleibt. Sie kann sogar – in allen möglichen Formen, nur nicht erkennbar als Dichtkunst der Dichter – der „Unternehmenskultur“ dienen.
Es ist kein Wunder, dass viele es lächerlich, um nicht zu sagen: peinlich finden, sich als zeitgenössische Dichter zu bekennen. Die beschriebenen Wirkungen der Auflösung der Form verbinden sich dann mit dem Gefühl, der Welt nicht gewachsen zu sein; und der legitime Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung verleitet etliche Dichter, ihre Bücher nicht als Lyrik vorzustellen, gar zu leugnen, dass es sich um Lyrik handelt. Er hindert ebendiese schamhaften Dichter, oder ihre Verleger, jedoch nicht daran, Fördergelder und Stipendien bei der Abteilung „Lyrik“ des Centre national des lettres zu beantragen.
Und schließlich, ja schließlich und unvermeidlich, läuft so mancher bedeutende Dichter, enttäuscht über die ausbleibende Resonanz seines Schaffens (keine Buchverkäufe; jahrelanges Warten, bis sein Werk anderswo als im Kleinst- oder Selbstverlag veröffentlicht wird; das absehbare Schweigen der Presse und so weiter), zu anderen Verdienstmöglichkeiten über: Roman, Theater, Film oder Oper.
Poetische Ersatzprodukte
Weil die Lyrik für das mondäne Leben unnötig ist, weil man sie nicht verkaufen kann, weil sie der Vergangenheit angehört, überholt ist, als sprachliche Tätigkeit altmodisch geworden, als literarische Gattung dem Tode geweiht ist, waren ein paar gute Geister der Meinung, sie könnte vielleicht einfach verschwinden. Ihre Stelle solle dann ersatzweise von einem neuen Produkt eingenommen werden, dass vom Joch der literarischen Vergangenheit frei und summa summarum „absolut modern“ wäre. Dieses Ziel hatte seinerzeit die selbst ernannte Avantgarde im Auge, indem sie den TEXT an die Stelle der Dichtung erhob. Der „Text“ ist inzwischen, scheinbar spurlos, wieder verschwunden, doch seit kurzem lässt sich eine gewisse Auferstehung in Gestalt des „Poetischen Dokuments“ feststellen.
Das „Dokument“ in diesem definierenden Wortpaar ist eine neuere Form von „Text“, beansprucht jedoch einen ernsthafteren, weniger metaphysischen Status als sein Vorgänger – ein fast schon wissenschaftlicher Auftritt. Doch die Begründer dieser neuen literarischen Gattung, die weniger radikal sind als ihre Vorfahren aus den 1960er-Jahren, haben das Adjektiv „poetisch“ hinzugefügt.
Sie haben die Verwendung dieses Adjektivs – bei dem alle Welt an Lyrik denkt, Lyrik, wie es sie seit mehreren Jahrhunderten in allen Sprachen Europas gibt – damit zu rechtfertigen versucht, dass sie etymologisch argumentieren. Jean Paulhan hat seinerzeit in seinem hellsichtigen kleinen Buch „La Preuve par l’étymologie“ den grotesken Grundzug einer derartigen Argumentation (die manche Philosophen bis zum Überdruss anwenden) aufgezeigt. Sie beruht nämlich auf einer höchst unwahrscheinlichen Hypothese: Dass sich die Bedeutung von Begriffen im Laufe der Jahrhunderte analog zu der linguistischen Substanz entwickelt, die sie anfänglich ausgemacht hat. Im Falle des „Poetischen Dokuments“ soll das etymologisch interpretierte Adjektiv dem „Dokument“ die Phantomwirkung des Wortes „Poesie“ zuteil werden lassen.
Bedürfnis nach Lyrik
Aus dem bisher Gesagten könnte man schließen, dass die Tage der Lyrik gezählt sind. Dennoch hat sie ihre Anziehungskraft für die große Menge derer, die keine oder so gut wie keine Gedichte mehr lesen und die sowieso von allem immer weniger lesen, nicht vollkommen eingebüßt. Im Gegenteil: Man kann schon fast von einem Bedürfnis nach Lyrik sprechen. Technische Voraussetzungen, die es möglich machen, die Kosten für eine Buchveröffentlichung zu reduzieren, sowie die rasante Ausbreitung des Internets mit seinen Sites und Blogs helfen, dieser Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Ihrem Wesen nach eignet sich die Poesie – Gedichte haben im Allgemeinen einen überschaubaren Umfang – besser für das Lesen auf dem Bildschirm als beispielsweise ein Roman (wer hat jemals „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf seinem Computerbildschirm gelesen?). Ich will nicht vorschnell über die Zukunft des E-Books urteilen, das uns bereits seit Jahren mit einer gewissen Regelmäßigkeit angekündigt wird, dessen Existenz jedoch noch nicht allzu gesichert scheint. Der „Markt“, diese übermächtige Gestalt, die die Welt regiert, bereitet ihm schon den Weg, indem er die öffentlichen Bibliotheken ihrer Bücher entleert (die dann im Internet zu kaufen sind). Sehr viele Gedichte aber findet man online, und die Lyrik erreicht auf diesem Weg mehr Leser als über das Buch, das sich ja kaum verkauft.
Gleichzeitig finden immer mehr öffentliche Lyriklesungen und Veranstaltungen mit Dichtern statt – vor durchaus nicht kleinem Publikum. Allerdings spielt auch dabei die Wirtschaft eine gewisse Rolle: Vielen Stadtverwaltungen ist nämlich aufgegangen, dass es viel weniger kostspielig ist, einen oder zwei Dichter einzuladen als einen Sänger, ein Orchester oder ein Ballett. In dieser Hinsicht hat das Bedürfnis nach Lyrik eine originelle Ausdrucksweise gefunden: die Slam Poetry .
Slam Poetry
Dem Bedürfnis nach Sport wird eher gerecht, wer sich selber bewegt, als der, der sich eine Übertragung der Tour die France im Fernsehen anschaut. Auch kann einen das Bedürfnis nach Musik dazu bringen, Karaoke zu machen oder ein Konzert zu besuchen, aber vermutlich wird man es doch eher durch aktives Mitmachen in einem Chor oder einer Rockband befriedigen. Die Erfindung der Poetry Slams beruhte, zumindest ursprünglich, auf der Vorstellung, dass jeder Mensch ein potenzieller Dichter ist. Also kann jeder den Dichter machen. Poetry Slams seien, so heißt es, eine „mündliche, deklamatorische Kunst volkstümlicher Art, die in öffentlichen Lokalen wie Bars oder Vereinsräumen in Form von Begegnungen und oratorischen Wettstreiten praktiziert wird“.
Ich zitiere hier eine offizielle Definition von Slam: „Das Wort slam bedeutet in der amerikanischen Umgangssprache ‚Knall‘ oder ‚Aufprall‘, was von dem Ausdruck to slam a door für ‚eine Tür zuknallen‘ abgeleitet wird. Bei der mündlich und öffentlich vorgetragenen Lyrik geht es darum, den Zuhörer am Genick zu packen und ihn mit Wörtern, mit Bildern vollzuknallen, um ihn aufzurütteln und zu berühren.“ Eine weitere Erläuterung des Begriffs gab 2005 der Initiator der Bewegung, Mark Smith, während seines Auftritts beim Poetry Slam von Nantes: Er habe den Ausdruck Slam wegen seiner sportlich-spielerischen Anklänge gewählt (Grand Slam beim Tennis oder Bridge, Slam Dunk beim Basketball).
Für Poetry Slams gilt:
– Sie werden mündlich ausgetragen.
– Sie verfolgen nicht a priori künstlerische Absichten, was den Initiatoren zufolge ihren demokratischen Charakter unter Beweis stellt. Smith hatte vor, „das Qualitätskonzept in der Lyrik infrage zu stellen: Irgendwelche Leute, Mitglieder einer willkürlich zusammengesetzten Jury, lassen sich von ihrem persönlichen Geschmack leiten.“ Die zahlreichen Beispiele, die man im Internet aufrufen, durchlesen und anhören kann, zeigen tatsächlich, dass die Produktionen bei Poetry Slams meist von einer unfasslichen Dürftigkeit sind (was nicht heißen soll, dass darunter nicht auch Dichtung im üblichen Sinne zu finden wäre).
– Im Prinzip ist Slam Poetry Improvisationskunst. Insofern knüpft sie an traditionelle Volksdichtung an.
– Es wird behauptet, die Slams seien die Wiederauferstehung „einer alten literarischen Gattung des Mittelalters, des Dichterwettstreits, des okzitanischen tençon der Troubadoure, bei dem zwei Dichter mit einem zuvor festgelegten Thema gegeneinander antraten.
Diese ehrenvolle Herleitung beruht auf einem Missverständnis: Der tençon der Troubadoure war von größter Gelehrsamkeit und setzte ein Publikum voraus, das diese zu schätzen wusste. Genauso verhält es sich mit der traditionellen improvisierten Dichtung, die auf sehr alten Praktiken fußte und in der komplexe und strenge Formen vorgegeben wurden. Es ist beim Stand der allgemeinen Unwissenheit über die vergangene und gegenwärtige Lyrik unmöglich, sich solchen Modellen auch nur anzunähern.
Daher findet man in den Produkten der Slam Poetry nur noch traurige Überreste der klassischen Dichtung vor, denn es fehlen deren wesentliche Voraussetzungen, nämlich Versmaß und Rhythmus. Der Reim ist aus seinem langen Schlaf erwacht, aber in einen Minimalzustand auf Grundschulniveau verfallen. Man erkennt noch schwache Anklänge an in der Schule Gelerntes, aber was man vor allem und immerzu findet, ist der Ausdruck schlichtester Gefühle, Regungen, die sich in nichts von denen in irgendwelchen Seifenopern unterscheiden.
Es sei angemerkt, dass dieser „semantische“ Aspekt die Slam Poetry als eine Abart des Rap erscheinen lässt, der für sich gar nicht den Anspruch erhebt, Lyrik zu sein. Genauso wurde seinerzeit der Rock als Abart des Blues geboren.
Brumm- Brumm
Zweifelsohne stellt Slam Poetry keine sehr große Gefahr für eine weniger schlichte Ausübung der Lyrik dar. Anders verhält es sich dagegen mit dem Phänomen, das ich hiermit „Brumm-Brumm“ taufe. Es handelt sich um die Invasion des poetischen Felds durch etwas, das „Lyrik-Performance“ genannt wird und das dank enger Zusammenarbeit mit öffentlichen oder privaten Kulturträgern, welche von einer verzehrenden Leidenschaft für lebendige Darbietungen gepackt sind, zum privilegierten Existenzmodus der Lyrik zu werden droht, unter weitgehendem Ausschluss des Schriftlichen zugunsten des Mündlichen. So kann man immer häufiger im Rahmen von abgeblichen Lyrikveranstaltungen, beispielsweise auf internationalen Poesiefestivals, „Dichter“ sehen, deren dem Publikum als Dichtung vorgestellte Tätigkeit darin besteht, eine Treppe hinunterzupurzeln, ein dickes Telefonbuch auf der Bühne zu zerreißen oder mit elektronischer Hilfe unerhörte und bewundernswerte Klangfolgen zu erzeugen – und dabei kein einziges Wort von sich zu geben. Sofern überhaupt ein sprachlicher Beitrag existiert, zeigt dessen Niederschrift auf Papier einen meist höchstens mittelmäßigen Text – wie es bei vielen Pop- oder Rock- oder sonstigen Songtexten der Fall ist, wenn ihnen die Musik genommen wird.
All diese Schöpfungen sind ehrenwert, manchmal eindrucksvoll, selten (was nicht überraschen kann) von hoher künstlerischer Qualität, aber weshalb werden sie Lyrik genannt? Wieso nennt man sie nicht Musik, Gymnastik, Arie, Zirkusnummer, Sketch, Lied, Ballett, Striptease? Eines der Werke, auf das sich die Brumm-Brummer wie ihr Wahrzeichen beziehen, ist die „Ursonate“ von Kurt Schwitters. Aber die kündigt sich zutreffenderweise als Musik und nicht als Lyrik an. Man kann doch folgende Hypothese aufstellen: Die Ursache für dieses lachhafte Abdriften ist sicherlich, dass die Lyrik in der wirtschaftlichen Realität eigentlich nicht vorkommt. Ein derartiger Dichter, der nichts als Klänge hervorbringt, braucht jedenfalls nicht die harte Konkurrenz zu fürchten, auf die er träfe, wenn er sich in der Musikszene tummeln würde.
Lesen und sprechen
Ich bin kein Prophet, und ich habe keine Ahnung, ob Brumm-Brumm die einzige anerkannte lyrische Form der Zukunft sein wird oder nicht. Auch wenn dieser Extremzustand ausbleiben sollte – mir scheint, es gibt das Risiko (für mich ist es ein Risiko), dass sich die Dominanz des Mündlichen in der Lyrik endgültig durchsetzt, auf Kosten des Buchs und sogar des Bildschirms. Das wäre eine Amputation und ein Rückschritt. Dabei gibt es wie eh und je auch heute noch Lyrik und zwar sehr gute. Schwierige oder leichte Lyrik, von allem handelnd, von Ihnen oder auch von gar nichts, erfinderisch, neu, überraschend, bezaubernd. Man findet sie in den Buchhandlungen (ja, solche gibt es), die es nicht aufgegeben haben, Lyrik zu präsentieren, zu unterstützen, zu verkaufen. Lesen Sie, kopieren Sie, lernen Sie auswendig, wie man es früher getan hat.
Was ich hier aufgeschrieben habe, dient zur Verteidigung folgender Ansicht: Lyrik findet in einer Sprache statt und wird aus Worten gemacht; ohne Worte keine Lyrik. Ein Gedicht muss ein aus Sprache geschaffener vierdimensionaler Kunstgegenstand sein, das heißt, es muss für das Blatt Papier, für die Stimme, für das Gehör und die innere Vision gemacht sein. Lyrik muss man lesen und sprechen können.
Aus dem Französischen von Johannes Honigmann und Katharina Döbler Jacques Roubaud ist Dichter, Mathematiker und Mitglied des internationalen Autorenkreises Oulipo (L’Ouvroir de la Littérature Potentielle; dt.: Werkstatt für Potenzielle Literatur), gegründet 1960, unter anderem von Raymond Queneau („Zazie in der Métro“).