15.01.2010

Durch die Ténéré

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Durch die Ténéré

Als Illegaler auf dem Weg von Afrika nach Europa von Fabrizio Gatti

Es ist kurz vor Tagesanbruch. Ich muss gehen. Man versammelt sich im Autogare. „Start um acht Uhr“, heißt es vor dem Fahrkartenschalter. Viele Menschen laufen hin und her, erfrischt von der morgendlichen Kühle. Der große Lkw steht mitten auf dem Platz bereit. Die ganze Nacht hindurch ist er beladen worden und sieht jetzt, aufgebläht von den vielen daran baumelnden Wasserkanistern, wie eine riesige Traube aus.

„Wo ist der Italiener?“, fragt jemand an der Fahrkartenausgabe, und der Mann, der mit dem Sohn des Besitzers zusammenarbeitet, kommt heraus. „Wie viele Kanister Wasser hast du?“ „Einen Zwanzig-Liter-Behälter.“ „Du sitzt vorne auf der Fahrerkabine. Da musst du den Kanister festmachen.“ Erst in diesem Augenblick nimmt der Mann den blauen Boubou wahr, den mir Yaya geschenkt hat, und lächelt. Das lange Gewand wird mich nicht nur gegen die Hitze schützen. Weil es so weit ist, kann ich darunter meine Gürteltasche verstecken, in der ich den Fotoapparat, die Batterien, mein Notizheft und einige Ersatzkugelschreiber untergebracht habe. „Du musst deinen Namen auf den Kanister schreiben“, rät der Angestellte, „hast du das schon erledigt?“ Ein großes Dröhnen und eine schwarze Wolke über dem Laster verkünden, dass der Motor angelassen ist. „Ich habe Dirkou geschrieben, wie die Oase. Mein Name wäre zu auffallend.“ „Gut, Gott beschütze dich“, sagt der Mann und reicht mir die Hand.

Die Leiter, die auf den Lkw führt, ist zu schmal für all die herandrängenden Füße. Deshalb versuchen einige, direkt in den Laderaum zu klettern, sodass das Gepäck und die Kanister herunterzufallen drohen. Der Fahrer wird wütend und schreit etwas in Haussa. Geduldig ordnen sich die Passagiere in eine Schlange ein. Die ersten setzen sich rittlings über die Seitenwände auf zusammengerollte Decken, um die harte Kante abzufedern. Die anderen lassen sich auf dem Boden nieder. Wieder andere müssen stehen bleiben. Es ist schwierig, die Beine unterzubringen und niemandem, der unter einem ist, auf die Füße zu treten.

Die Letzten müssen es sich auf schmalen, hoch über dem Laderaum befestigten Querstangen „bequem“ machen. Am Ende ist der Wagen mit einer Masse von Beinen, Armen und Köpfen beladen. Farben und Stimmen mischen sich mit Säcken, Bündeln und Kanistern. Der Besitzer hat jedes verfügbare Fleckchen verkauft. Frei bleiben lediglich die Kotflügel der sechs großen Räder und die Motorhaube des alten Mercedes-Lkws. „Alle hundertsechzig Passagiere und der Italiener an Bord“, ruft der Fahrer, damit man es beim Fahrkartenschalter hört. „Yalla, yalla, los geht’s.“ Der zweite Fahrer steigt ins Fahrerhaus. Die beiden Türen knallen zu. Zwei jüngere Männer bleiben auf den Trittbrettern rechts und links stehen. Es ist inzwischen zehn Uhr, und wir sind immer noch auf dem Platz des Autogare.

Mit dem Sonnenstand ist auch die Temperatur gestiegen. Bill, Adolphus und Aloshu sitzen höchst unbequem auf der nur wenige Zentimeter breiten eisernen Querstange, die sich ins Sitzfleisch drückt, während ihre Beine über den Köpfen der Passagiere baumeln, die nach Luft schnappen. Auch die drei Liberianer waren nach unserer ersten Begegnung verschwunden. Vielleicht haben sie irgendwo fern vom Autogare einen bezahlbaren Schlafplatz gefunden. Daniel und Stephen stecken irgendwo in der Masse der Körper im Laderaum. Bisher haben sie das von einem grünen Tagelmust verdeckte weiße Gesicht noch nicht entdeckt. Auch die anderen nicht. Nur eine junge Frau dicht neben mir betrachtet unverwandt meine bleichen Hände. Die kann ich bei der Hitze einfach nicht verbergen. Eine dicke schwarze Rauchwolke hebt den Deckel auf dem Auspuffrohr, das wie ein Kamin neben dem Fahrerhäuschen in die Luft ragt.

Ich muss mich herunterbeugen, um nicht die Auspuffgase einzuatmen. Nachdem der Fahrer zweimal Gas gegeben hat, beginnt die Welt um uns herum sanft zu schaukeln. Es geht los. Wir schwanken im gleichen Rhythmus wie das Schaukeln und Rumpeln der Kanister und Gepäckstücke. Hände und Arme halten sich an den Rücken vor ihnen fest. Die Masse der Körper muss sich noch zurechtschütteln, mit Füßen und Hüften ein bisschen Platz schaffen, gerade so viel, um ein paar Millimeter zu gewinnen. Alle versuchen es. Die Mesallaje über den roten Dächern von Agadez grüßt feierlich auch diesen Aufbruch.

Eine heftige Bremsung bringt den Lkw an der Ausfahrt des Autogare zum Stehen. Ein bisschen zu heftig. Wir werden nach vorne geworfen, ohne dass es weitergeht. Dann fahren wir wieder los. Nach links auf die asphaltierte Straße. Am Kreisverkehr geht es nach rechts bis über die Hallen der Zigarettenschmuggler hinaus. Der Asphalt ist von Schlaglöchern durchbrochen. Die Räder sinken in die Tiefe und tauchen wieder auf wie ein Schiffsbug im Sturm. Wer auf den Seitenwänden sitzt, muss sich an seinen Nachbarn festkrallen. Die Straße biegt nach links und verläuft parallel zur Startbahn des Flughafens. Am Ende der Startbahn endet die Straße. Endet Agadez. Endet die Sahelzone. Endet Schwarzafrika. Endet eine Welt. Vor dem Lkw erstreckt sich eine endlose steinige und sandige Ebene. Unzählige Reifenspuren verlaufen kreuz und quer unter den Akazien, den Dornbüschen und den wenigen grünen Fettblattbäumen. Hinter uns lösen sich die Mesallaje, der Wasserturm und die geometrischen Umrisse der Stadt allmählich zu fernen Luftspiegelungen auf.

Fünf Kilometer. Die ersten fünf Kilometer. Kaum eine halbe Stunde Fahrt, und schon muss der Laster anhalten. Aus einem Wachhäuschen an der linken Straßenseite treten drei bewaffnete Polizisten heraus und lassen alle Fahrgäste aussteigen. Es ist der erste Kontrollposten an der Ténéré-Piste. Wir müssen uns mit erhobenen Händen auf den Boden setzen. Einer der drei Männer in Tarnuniform zieht ein stehendes Messer aus dem Futteral und sticht in die Umhüllung der Kanister und Wasserbehälter. Er erreicht nur die, die ganz weit unten hängen. Dann verschwindet er hinter dem Wagen, findet aber anscheinend nichts und probiert es noch einmal. Einigen der auf dem Boden sitzenden Fahrgäste befiehlt er, die Schuhe auszuziehen. Obwohl er die Gesichtszüge eines Haussa hat, weisen ihn die Narben neben seinem Mund als Stammesangehörigen der Djerma aus. Der Polizist sammelt die Schuhe einen nach dem anderen ein und schneidet die Sohle auseinander. Das einzige Geräusch ist das Surren der Stechmücken, die an der Spucke auf unseren Lippen und der Tränenflüssigkeit in unseren Augenwinkeln ihren Durst löschen. Wir schauen schweigend zu.

Die anderen beiden Polizisten gehen zwischen den niedergebeugten Gestalten hin und her und streichen mit zwei großen Gummischläuchen über die Körper. Sie schreien irgendetwas in einer unverständlichen Sprache. Dann wiederholen sie den Befehl auf Englisch und Französisch. Nur zwei Worte: money und argent. Sie wollen Geld. Wer barfüßig ist oder Sandalen trägt und nicht zahlt, wird hinter das Wachhäuschen gezerrt, wo weitere Stimmen zu hören sind. Wenig später vernimmt man unterdrückte Schreie. Hustenanfälle. Das Sirren einer Peitsche. Auch Bill, Adolphus und Aloshu werden geschlagen. Die dicken Gummischläuche klatschen auf ihre mageren Rücken nieder. Die Polizisten holen weit nach oben aus, damit auch die hinter ihnen genau sehen können, was sie in der Hand halten. Dann lassen sie den Schlauch niedersausen, bis der dumpfe Aufschlag und das stolz unterdrückte Wimmern des Opfers zu hören sind.

Bill, der immer noch humpelt, und seine beiden Freunde müssen vor aller Augen diese Tortur über sich ergehen lassen. Vielleicht weil sie weiterhin Schuhe tragen und auch nicht darauf verzichten wollen. Sie halten es nicht einmal eine Minute lang aus. Eine Minute so lang wie ein ganzer Tag. Schließlich zahlt jeder zehntausend Francs, etwas mehr als fünfzehn Euro. Aber die Polizisten wollen mehr und drohen ihnen weiter. Da sehen sie plötzlich in ihren Händen die blauen liberianischen Pässe, blättern einen davon Seite für Seite um und beruhigen sich dann merkwürdigerweise.

Für die Nigerianer läuft es schlechter. Vielleicht weil in Nigeria kein offiziell anerkannter Bürgerkrieg herrscht. Die Nigerianer werden hinter das Wachhäuschen geführt. Sie kehren mit gesenktem Blick, Tränen in den Augen und sicherlich mit weniger Geld in der Tasche zurück. Das Prügeln und Filzen dauert eine ganze Stunde, dann können wir weiterfahren. Zwanzig Fahrgäste dürfen nicht mehr einsteigen. Ein einziger nimmt sein Gepäck. Die anderen hatten nichts. Langsamen Schrittes, wie jemand, der nichts mehr zu erwarten hat, kehren sie in westlicher Richtung zurück. „Sie mussten aussteigen, weil sie weder Geld noch Schuhe oder Kleider hatten, um sie den Polizisten zu schenken“, sagt jemand. Die zwanzig gehen zu Fuß nach Agadez. Obwohl sie für die Fahrt bezahlt haben. Erneut sind sie stranded people.

Achtzig Kilometer weiter erwartet uns die Gendarmerie von Tourayatte, dem letzten Ort vor der Stille der Ténéré. An der Piste stehen wenige Baracken. Auf der linken Seite werden auf einem langen Verkaufsstand aus Stämmen und Brettern Zucker, Tabak, Zigaretten und ganze, frisch geschlachtete Ziegen angeboten. Mit seinem schwerfälligen Gefährt sucht der Fahrer, der unsichtbar unter unseren Füßen sitzt, einen Platz auf dem sandigen und steinigen Gelände rechts der Straße.

„Ein Weißer, der auf einem Lkw durch die Wüste fährt“, sagt eine Stimme hinter mir. Sie gehört einem freundlich lächelnden, kräftigen Mann in Jeans und einem hellen T-Shirt. „Fährst du nach Libyen?“, fragt er. „Vorläufig bis Dirkou, so Gott will.“ „Ja, so Gott will. Du bist wie ein Muslim gekleidet. Bist du denn Muslim?“ „Nein, es ist nur die bequemste Kleidung.“ „Ich bin auch kein Muslim. Bist du denn Christ?“ „Muss ich darauf antworten?“ „Wenn du nicht willst, musst du nicht. Ich schon, ich bin Christ. Christ und Nigerianer. Abdoulkarim“, stellt er sich vor und reicht mir die Hand. „Ich bin Steward auf dem da.“ Bei diesen Worten deutet er auf den weißen Lkw hinter sich. „Steward?“ Er lacht: „Ja, Steward. Außerdem dolmetsche ich zwischen den Fahrgästen und den Fahrern, denn sonst verstehen sie einander nicht. Aber es klappt trotzdem nicht richtig, hast du gesehen, wie sie sich geprügelt haben vorhin?“ „Ich hab’s gesehen.“ „Jedes Mal, wenn wir wieder einsteigen, gibt es Streit. Wer es nicht mehr aushält auf den Kanten, versucht sich einen bequemeren Platz zu erobern. Die Fahrer lachen, und die Passagiere gehen einander an die Gurgel. Einige haben ein Messer in der Tasche, da wird meine Aufgabe schwierig. Manche sind völlig am Ende. Wir sind aber erst am Anfang. Das ist aber ganz normal, oder?“

Der weiße Lkw fährt hundert Meter weiter vor. „Es geht los, ich muss zurück“, sagt Abdoulkarim und öffnet eine quadratische Klappe zwischen den Vorderrädern und der ersten Hinterachse. Darin sind ein Holzofen, ein Topf, einige Teller, Seife und anderes mehr, das man nicht sieht, verstaut. Abdoulkarim nimmt eine Feldflasche heraus. Der Lkw der Marke Mercedes ist moderner als die, die in Agadez vom Autogare abgehen. Das libysche Nummernschild ist absichtsvoll von einer Ghirba abgedeckt, deren Pfoten an der Stoßstange befestigt sind. Die Ghirba ist die älteste Art, Wasser kühl zu halten: In ihrem früheren Leben war sie eine Ziege, die von Knochen, Fleisch und Innereien befreit und wieder so zusammengenäht wurde, dass nichts herauslaufen kann.

Die Fahrgäste werden nach einer weiteren kleinen Auseinandersetzung gruppenweise aufgerufen, und zwar nach Nationalität. Immer jeweils zehn aus Ghana, Liberia, Nigeria, Benin, Togo … Sie rennen los, klettern über das Gepäck und die Kanister am Lkw hoch, um sich auf den Bordwänden die besten Plätze zu sichern, wo man rittlings auf zusammengerollten Decken sitzen kann. Nach dem Appell kehren die sechs Soldaten zu den Tonnen zurück, die ihren Kontrollposten bilden. Die untergehende Sonne hat die Höhenzüge, hinter denen sich der Wüstensand verbirgt, in rotes Licht getaucht. In der heißen Luft ist der Schmerzensschrei einer Ziege zu hören, die ein Tuareg-Hirte zwischen den Hütten auf einem Stein schlachtet. Das Alltagsleben geht weiter, ein Laster nach dem anderen.

Um sechs Uhr abends verlässt der weiße Mercedes-Lkw den Platz nach rechts in Richtung Osten. Nicht alle haben einen Sitzplatz bekommen, viele müssen stehen. Das ist eines der Bilder, die sich mit all dem, was ein Foto nicht zeigen kann, tief einprägen. Der letzte Schrei der Ziege. Das Dröhnen des Motors. Der süße Geschmack des Staubs, der die Kehle austrocknet. Und der Umriss des großen Lkws, der sich langsam über den Kies die Steigung hinaufquält, direkt auf den durchsichtigen Himmel über der Ténéré zu.

„Buonasera, willkommen auf dem Agorass von Tourayatte.“ Mit diesen Worten in korrektem Italienisch spricht mich ein Mann von hinten an. Er ist uniformiert. „Sie sprechen hervorragend Italienisch.“ „Wenn ich es nur könnte“, fährt er auf Französisch fort. „Es reicht nur zur Begrüßung.“ „Das ist schon ein guter Anfang.“ „Kommen Sie zum Kontrollposten. Dort wartet ein Freund auf Sie.“ Yaya erzählt, was er in den letzten Monaten erlebt hat, und die Soldaten, die unter einem Vorbau aus Lehm und Blech sitzen, hören ihm zu und lachen.

„Wie geht es dir? Bist du müde? Ist ganz schön heiß hier, nicht?“, fragt er nach der Begrüßung. „Yaya, komm mit, ich muss etwas aus dem Auto holen.“ Unter diesem Vorwand können wir uns von den Soldaten entfernen. „Haben sie dich über mich ausgehorcht?“ „Natürlich. Ich habe ihnen erzählt, dass du ein etwas verrückter Tourist bist, der die Lkws in der Wüste fotografieren will.“ „Aber sagst du ihnen etwas über unsere Route?“ „Das, was im Passierschein steht. Interessant ist aber, was sie gesagt haben.“

Yaya verhält sich manchmal wie jemand, der auf die Frage, ob er weiß, wo die Innenstadt ist, mit Ja antwortet, ohne den Weg dorthin zu zeigen. „Was haben sie denn gesagt?“ Er zieht tief den Rauch seiner Zigarette ein und antwortet lächelnd: „Sie haben gesagt, dass in den letzten vierundzwanzig Stunden zwei vielleicht mit Zigaretten beladene Sattelschlepper mit achtzig Auswanderern drauf vorbeigekommen sind. Außerdem der libysche Mercedes eben mit zweihundert Leuten. Dann noch einer von uns aus dem Niger mit hundertfünfzig Personen, einer aus Tourayatte mit hundertachtzig und der deine, auf dem noch zweiundzwanzig Mann mitfahren müssen, die von den anderen übrig geblieben sind. Rechne zusammen, wie viele sind das?“ „Uns eingerechnet sind es ungefähr achthundert Menschen.“ „Das alles an nur einem Tag, die kleinen Geländewagen nicht eingerechnet. Stell dir vor, wie viele Menschen hier in einem Monat durchkommen. Siehst du, was das für ein Geschäft ist?“

Eine schwarze Rauchwolke über dem Platz verkündet, dass der Motor angelassen worden ist. Zweimal hupt der Fahrer. Man muss schnell hinrennen und sich wie ein Seemann beim Entern über die Bordwand hinaufschwingen. Der Lkw fährt los, obwohl es noch nicht alle Passagiere geschafft haben. Die letzten klammern sich an die Kanister und riskieren, unter die Räder zu kommen. Jetzt ist es noch viel enger.

Die Scheinwerfer beleuchten nur wenige Meter vor dem Lkw. Die Räder folgen den Spuren von Tausenden anderer Räder. Wie ein See wird der Sand von kleinen Wellen gekräuselt. Auch seine Konsistenz ist jetzt unter uns flüssig wie Wasser. Es muss ein fech fech sein, der puderfeine Sand, der sich manchmal in ausgetrockneten Flussbetten oder Sümpfen bildet. Eine Wolke von Staub steigt unter dem Wagen auf, so dicht, dass er die Sterne verdeckt. Man bekommt kaum mehr Luft und fängt zu husten an. Sobald sich die Sandwolke verzogen hat, werden im Scheinwerferlicht die Umrisse von Dromedaren sichtbar, die sich auf ihren abgewinkelten Beinen niedergelassen haben. Eine Karawane verbringt hier die Nacht. Irgendwo in der Nähe muss es eine Weidemöglichkeit geben. Für die Pflanzenfresser der Sahara genügen wenige Stängel trockenen Grases. Wenn das Motorgeräusch leiser wird, weil der Fahrer schaltet, kann man die Tiere wiehern hören. Dromedare sind unduldsame Tiere. Sie beklagen sich über Kälte, Müdigkeit oder das plötzliche Aufscheinen eines Lichtkegels, der ihre großen Augen trifft.

Um uns herum sind zahlreiche Feuer zu erkennen, achtzehn Flämmchen, vielleicht gibt es ebenso viele Hütten. Es könnte Bargout sein, ein Lager der Tuareg-Hirten. Oder der Brunnen von Tazole, die letzte Quelle vor der Leere, die auf Tamaschek eben Ténéré heißt. Über uns fliegen unzählige Sternschnuppen wie leuchtende Stecknadelköpfe frei durch den Raum. Abends um neun versinkt die Mondsichel bereits hinter dem Horizont. Die Grenzen zwischen Himmel und Erde, zwischen der Dunkelheit oben und der Dunkelheit unten verschwimmen. Das einzige Unterscheidungsmerkmal besteht in der Ansammlung von Milliarden leuchtender Punkte nah und fern. In der Höhe funkeln sie am lebhaftesten, unterhalb der Linie, die die Grenzen der Welt markiert, verlöschen sie.

In der Wüste ist es nicht finster. Auch ohne Mond reflektiert sie weiter das silberne Sternenlicht. Zu schwach, um zu erkennen, was man vor sich hat, aber intensiv genug, um die Umrisse von Dingen oder Personen in der Nähe wahrzunehmen. Das Dröhnen des Lkws überdeckt alles. Man hört nichts anderes; nur der eigene Atem, der unter dem Tagelmust gefangen ist, überlagert das Motorgeräusch. Der einzige, der engste Begleiter, der diese Männer bis zum allerletzten Zug nicht verlassen wird, ist der Atem. Unser Atem.

„Hey, ist das nicht schön?“ Es ist Daniels tiefe Stimme. „Ja, wirklich schön. Wie hast du es denn geschafft, über alle Passagiere zu klettern?“ Daniel hört meine Frage nicht, sondern betrachtet die Sterne und sagt überraschend: „Ah, linger on, thou are so fair!“ Ich brauche eine Weile, um aus dem Englischen übersetzt das Zitat zu erkennen. „Daniel, das ist doch Goethes Faust.“ „Ja.“ „Ich habe nicht erwartet, dass jemand auf einem Lkw in der Wüste Goethe zitiert.“ „Ich liebe Deutschland. Wenn ich Deutsch könnte, würde ich dorthin gehen.“ Wie im Zug zwischen Kayes und Bamako sollte man wach bleiben. Mitten in der Nacht verliert Bill, von der Müdigkeit übermannt, das Gleichgewicht und fällt auf die unter ihm sitzenden Fahrgäste. Einer von ihnen schlägt ihm mit einer großen Stabtaschenlampe ins Gesicht. Bill hält sich den blutenden Mund mit der Hand zu. Die Oberlippe ist geplatzt. Ein Stimmengewirr erhebt sich. Harte Worte in einer unverständlichen Sprache. Der Motor ächzt. Erster Gang, zweiter, wieder erster. Wir fahren jetzt langsamer, ich schätze, nicht mehr als fünf bis zehn Stundenkilometer. Blasen heißer Luft wechseln sich mit kalten Luftzügen ab. Im Laderaum ist neuer Streit ausgebrochen. Ein Mann bedroht mit dem Dolch in der Hand die anderen um ihn herum. Die Masse der Körper weicht vor der Klinge zurück. So erobert sich der Mann mehr Raum, um sich setzen und schlafen zu können.

Nachts um zwei ist es nur noch kalt. Man muss sich zudecken. Am Himmelsrund steht Amanar an der Stelle, an der jede Nacht die Zeiger der Uhr um zwei stehen. Die Müdigkeit ist so groß, dass man immer wieder wegsackt und sich dabei mit den Händen an die Arme des jeweiligen Nachbarn klammert. Wir haben alle Angst, herunterzufallen und überfahren zu werden.

Ein schmaler roter Streifen am Horizont kündigt das Morgengrauen an. Man kann zusehen, wie in wenigen Minuten die ganze Landschaft in ein zartes Rosa getaucht wird. Eine Stunde lang wechseln sich starke Kontraste von Licht und Schatten ab. Dann erscheint die Sonne. Ihr erster Strahl richtet sich wie ein Schwert gegen die letzten Sterne. Dann löst der Glanz die Grenze zwischen Himmel und Ebene auf, bevor sich ein orangefarbener Rücken zeigt, klein und rund. Die Schatten werden länger. Die Farben beginnen zu leuchten. Aber es gibt einen unvergesslichen Augenblick, er dauert nur kurz, nur einen Wimpernschlag lang. Die Sonnenstrahlen treffen senkrecht auf die winzigen Felsbrocken, die die unendliche Weite bedecken. Genau in diesem Moment bilden sich Milliarden senkrechter Schatten, um dann zu verschwinden und auf den nächsten Morgen zu warten. „Verweile doch! Du bist so schön!“ Daniel, der neben mir kauert, hört den Satz und lächelt. Die milde Wärme der Sonne breitet sich in der eisigen Luft aus und erreicht die Gesichter. Aber die Rücken sind noch kalt. Die Landschaft, die sich im Osten vor dem Lkw ausbreitet, ist in silbernes Licht getaucht. Im Westen ist sie kupferrot. Die gleichen Steine, die gleichen Felsbrocken, der gleiche Ort. Es kommt darauf an, wie man sie anschaut. Man braucht nur den Kopf zu drehen, sofort ändert sich die Farbe.

Hier oben gibt es nicht mehr nur eine Piste. Die weite Fläche ist von Hunderten paralleler Spuren in ostwestlicher Richtung durchfurcht, die nach Norden und Süden auseinanderstreben. Wie eine auf die Erde projizierte Fotografie oder wie ein riesiges Graffito sind sie hier alle zusammen abgebildet. Man meint die Künstler dieses riesigen Graffitos zu sehen: all die Tausende Männer und Frauen, in Lastern zusammengepfercht wie wir, deren Leben am seidenen Faden der Wasserkanister hängt. Ein Gruppenfoto, auf dem man nur die Abdrücke sieht. Nicht die Körper. Nicht die Gesichter.

Eine Piste ist nicht so fixiert wie eine asphaltierte Straße. Jeder Fahrer wählt in der Wüste seinen eigenen Weg. Wenn die Spuren zu tief sind, verlässt er den vorgegebenen Verlauf und legt so eine neue Variante an. Manchmal verläuft sie parallel zu der bisherigen, manchmal ist sie um einige Meter versetzt. Unser Fahrer wählt eine Spur in Richtung Adrar Azzaouager. Hier teilen sich die Wege durch die Ténéré. Die Salzkarawanen ziehen direkt zur Oase Bilma, die Karawanen der Auswanderer in Richtung Nordosten. Ins Nichts. Unmittelbar hinter dem Adrar Azzaouager bildet sich auf dem schwarzen Kies eine Reihe von goldenen Dünen. Ein Rechteck aus Felsbrocken mit einem Stein ohne Namen bezeichnet das Ende einer Reise an einen Ort ohne Namen. Der Lkw fährt ein paar Meter an dem Grab vorbei. Die Erinnerung an diesen Toten wird noch einige Wochen überdauern. Der Wind dringt in die Zwischenräume ein und bläst den Sand weg. Am Ende werden auch diese Steine wie alles in der Wüste weiterrollen.

Wortlos blicken wir einander in die Augen. Jetzt ist offensichtlich, wie tief der Abgrund ist, in dem wir versinken. Diese Menschen wissen, dass, was auch immer geschieht, niemand kommen wird, um sie herauszuziehen. Kein Vater. Kein Bruder. Kein Staat. Keine Hilfsorganisation. Keine der Regierungen, die sie durch ihre korrupte Politik so weit gebracht haben, wird ihren Tod beweinen. Seit sie aufgebrochen sind, sind sie Waisenkinder. Hier in der Wüste sind wir alle Waisen. Stephen, der Zwillingsbruder von Daniel, erwidert meinen Blick manchmal mit einem Lächeln. Die erste eiskalte und praktisch schlaflose Nacht hat unsere Begeisterung sinken lassen. Einige versuchen, sich eine Zigarette anzuzünden, werden aber von den anderen daran gehindert. Unter unseren Füßen schwappen immerhin sechs Tonnen Diesel, dessen öliger Geruch durch das Rütteln des Lkws ab und zu aufsteigt. Hundertzweiundachtzig Köpfe bewegen sich im Rhythmus der ächzenden Federung. Hundertzweiundachtzig Leben, deren Zukunft hier auf dem Spiel steht. Wie die Geschichte der letzten Jahre zeigt, erreichen zwölf Prozent der Menschen, die von Libyen und Tunesien aufbrechen, Europa nicht.

Zwölf Prozent kommen auf der Überfahrt um. Einige gehen über Bord. Einige werden ins Meer geworfen. Wieder andere verhungern und verdursten, wenn die Boote vom Kurs abkommen. Und wieder andere gehen mitsamt dem Boot unter. Wie die über zweihundert Passagiere, die vor den Kerkennah-Inseln eine Beute der Fische wurden. Der Kutter, auf dem sie zusammengepfercht waren, sank auf dem Weg von Tunesien nach Italien. Zweihundertfünfzig Menschen waren an Bord gegangen. Die Stärksten konnten sich schwimmend so lange halten, bis Hilfe kam. Einundvierzig Schiffbrüchige wurden geborgen. Von den anderen konnte sich keiner retten. Neunundvierzig Leichen wurden geborgen, hundertsechzig blieben vermisst.

Zwölf Prozent bedeutet, dass von den hundertzweiundachtzig Passagieren unseres Lkws zweiundzwanzig sterben werden. Und wenn bei uns alle überleben, werden vielleicht vierundvierzig Menschen des nächsten umkommen. Oder sechsundsechzig des übernächsten. Und dann sind da noch Kofi, Oliver und die anderen Namenlosen, die bereits in der Wüste begraben sind: Die stranded people, die das Meer nie zu Gesicht bekommen werden. Das Wasser in den an den Bordwänden hängenden Kanistern schwappt hin und her. Jedes Mal, wenn der Lkw auf den Sandwellen federt, spielen die zweihundert mit Pappe und Hanf ummantelten Behälter einen langsamen Marsch. Er klingt eher beunruhigend, denn er bedeutet, dass manche von ihnen schon fast leer sind. Zwei Nigerianer pfeifen dazu eine Melodie. Ein alten Disco-Ohrwurm, der durch das Satellitenfernsehen bis nach Afrika gelangt ist. Der Soundtrack der Globalisierung. Andere Fahrgäste singen den Refrain mit: „Uh-ooh, uh-ooh …“ Gute Laune am Morgen. Die eisige Luft der Dämmerung. Die ersten warmen Sonnenstrahlen im Gesicht. Lebenslust. Der Lkw fährt zwischen zwei steilen Dünen hindurch. Sie sind wunderschön, weich, ihre Kämme vom Wind verweht, der die leichtesten Körnchen wegträgt. Die Räder versinken an einer Stelle, an der es nur eine Spur gibt, in zwei tiefen Gräben. Wir halten an. Der Fahrer steigt aus, geht ein paar Schritte und trampelt mit seinen Sandalen auf dem Sand herum, um seine Konsistenz zu prüfen. Dann kehrt er zum Fahrerhaus zurück und kniet gen Osten gerichtet zu einem stummen Gebet nieder. Seine Geschicklichkeit als Fahrer und unser aller Schicksal legt er in Gottes Hand. Die nigerianischen Männer hören auf zu singen. Die Tür schlägt zu, wir fahren wieder los. Nur das Motorgeräusch des alten Lkws ist zu hören. Wir befinden uns vielleicht auf der Dünenkette, die gestern wie ein Vorhang die dunkle Ebene begrenzte. Der Sand unter den Reifen weicht wie eine kleine flüssige Welle zur Seite aus. Daniel und Stephen bewegen ohne Worte die Lippen und bekreuzigen sich dann. Allen ist klar, dass unsere Reise hier endet, wenn der Lkw im Sand stecken bleibt. Die Spannung hält mehr als drei Stunden an. Schließlich landen wir wieder auf einer von Luftspiegelungen verzerrten Ebene. Es erscheint ein Brunnen, ein Schild nennt seinen Namen: Espoir 400, Hoffnung 400. Vierhundert Kilometer von Agadez entfernt. Der dritte Tag der Reise.

Hinter Kufr wird der Sand wieder flüssig und hinterhältig. Wir fahren auf und ab über Dünenketten, die sich kilometerlang im Windschatten der Falaise hinziehen. Um diese Zeit sind die Dünen nicht zu erkennen, denn es ist schon dunkel. Aber man kann sie an dem hellen Schein erahnen, der über der Erde liegt. Heute Nacht funkeln nicht einmal die Sterne, denn ein dünner Staubschleier in der Höhe verdeckt sie. Ein Zeichen, dass sich irgendwo ein Sturm erhebt. Die Scheinwerfer beleuchten die tiefen Furchen, in denen sich die Räder abmühen. In einer Senke schlittert der Laster, rollt aus der Spur und bleibt stecken. Die Fahrer steigen aus und öffnen die Motorhaube. Sie sagen, im Dunkeln sei es zu gefährlich weiterzufahren. Zeit genug, den Schlafsack auszurollen und auf der weichen Matratze aus Sand bequem zu schlafen. Eine Matratze so groß wie die Wüste. Die Leere verstärkt wie ein Lautsprecher die geflüsterten Worte derer, die zu müde sind, um sofort einzuschlafen. Die Stimmen verebben schließlich ganz. Der Schlaf in der Ténéré hinterlässt eine unzerstörbare Spur im Körper. Eine Erinnerung für das ganze Leben.

Die Welt der Nacht und ihrer Gedanken verschwindet mit dem kalten Wind vor Sonnenaufgang. Als wolle er einen necken, weht der Morgenwind über Augen, Wangen und Hals und macht sofort wach. Die Fahrer bereiten heißen Tee und kauen schon jetzt Kolasamen. Nicht alle Fahrgäste haben etwas zu essen. Einige bleiben etwas abseits liegen, ohne um etwas zu bitten. Andere begnügen sich mit trockenem Brot und Zucker. Sobald der Himmel sich rosa färbt, geht es weiter.

Gekürztes Kapitel aus: Fabrizio Gatti, „Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“, München (Kunstmann) 2010. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Kunstmann Verlag, München; Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Fabrizio Gatti