15.01.2010

Die Demokratie mit der Maus

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Die Demokratie mit der Maus

von Bruno Preisendörfer

Das Internet ist populär und antielitär, es ist flexibel, interaktiv und lernfähig. Es nutzt brachliegende Kompetenzen und unerschlossene Ressourcen. Deshalb wird die Demokratie der Zukunft auch davon abhängen, in welche Richtung sich das Netz entwickeln und ob es für politische Entscheidungsprozesse herangezogen werden wird.

Das Internet ist populistisch und vulgär, es ist flatterhaft, reizreaktiv und konditioniert. Es benutzt Halbwissen und überschwemmt mit ungesicherten Informationen. Deshalb wird die Demokratie der Zukunft auch davon abhängen, in welche Richtung sich das Netz entwickeln und ob es für politische Entscheidungsprozesse herangezogen werden wird.

Man ist sich also einig. Wie häufig bei digitalen Entscheidungen, pro oder contra, plus oder minus, Null oder Eins, ist man auf gemeinsamer Grundlage geteilter Meinung: Utopisten wie Apokalyptiker sind gleichermaßen von der Relevanz des Internets für die Demokratie überzeugt, die einen in Freude auf das, was das Netz zu richten verspricht; die anderen in Angst davor, was es anzurichten droht.

Vor computergefühlten zehntausend Jahren, als die Menschheit sich noch im elektronischen Neolithikum befand und die sogenannte EDV von Rechenapparaten in Sauriergröße erledigt wurde, erschien ein Buch mit dem anheimelnden Titel „Öffentlichkeit und Erfahrung“. Darin lieferten der Soziologe Oskar Negt und der Filmemacher Alexander Kluge eine „Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit“, wie es im Untertitel hieß. Schlägt man 37 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses Werk auf, weht einen nostalgisch das unverbrauchte Grundvertrauen in etwas an, was damals als ‚Gegenöffentlichkeit‘noch zu den schönsten Hoffnungen berechtigte: Die zerfallende bürgerliche Öffentlichkeit wurde konfrontiert mit einer „Gegenöffentlichkeit als Vorform von proletarischer Öffentlichkeit“, wobei das mit dem ‚proletarisch‘ schon damals eher metaphorisch gemeint war im Sinne von ‚alternativ‘.

Die Hoffnungen auf den ideellen Gesamtarbeiter einer neuen Öffentlichkeit, die Negt und Kluge in Sätzen formulierten, durch die die Substantive untergehakt wie Demonstranten marschierten, diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Alternative Medien konnten sich etablieren, aber nur als Nischenprodukte; alternative Themen schwimmen im Mainstream, aber nur auf der Oberfläche; alternative Parteien wanderten vom Rand in die Mitte, aber das erfrischend rebellische Grün hinter den Ohren verschwand.

Nach diesem siegreichen Niedergang der Gegenöffentlichkeit scheint nun das Internet eine Reanimation zu ermöglichen, wie die einen wünschen und die anderen fürchten. Die wichtige Rolle des Mediums für eine vom Staat nicht kontrollierte Diskussion beispielsweise in China oder im Iran scheint das zu bestätigen. Es ließe sich allerdings einwenden, in diesen Ländern sei die besondere politische Bedeutung des Internets, oder der Zwitterformen aus Handy und WWW wie das Twittern, nur auf die Schwäche der alten Öffentlichkeit und nicht auf die Stärke des neuen Mediums zurückzuführen; in Ländern, in denen das Netz mit einer hoch entwickelten und nicht zentral kontrollierten traditionellen Öffentlichkeit konkurriere, zeige sich der wahre Grund seiner Erfolge. Und der liege nicht in politischer Aufklärung und Selbstaufklärung, sondern in der Geschäftsidee zirzensisch inszenierter Meinungsstärke bei aggressiv ausgelebter Kenntnisschwäche. Der Mann von der Straße und die Frau auch, die Masse, das Volk, der Demos verkomme vom Populus zum Pöbel.

Über solchen Kontroversen schwebt der demokratische Staat. Ihm kommt es vor allem aus praktischen Gründen auf das Netz an – zur Legitimationsbeschaffung im Stil des E-Banking. Die Kunden einer Bank und die Klienten des Staates müssen mit Überweisungs- beziehungsweise Wahlformularen nicht mehr an die Schalter oder in die Kabinen gehen.

Im September 2001 fand bei der Hessischen Landtagswahl im Kreis Marburg-Biedenkopf die erste Internet-Wahl in Deutschland statt. Der damalige Wahlleiter, Wolfgang Hannappel, zeigte sich mit dem Test zufrieden: „Wir sehen realistische Chancen, das Internet in mehreren Jahren als alternatives Medium zur Briefwahl einzusetzen.“

Etwas grundsätzlicher alternativ ging es ein paar Monate später bei einem Parteitag der Grünen in Schleswig-Holstein zu. Über das Internet konnten zum ersten Mal Nichtdelegierte an einer grünen Abstimmung teilnehmen, auch wenn diese Nichtdelegierten in der Grauzone der Unverbindlichkeit blieben, weil ihre Stimmen separat gezählt und bei der Beschlussfassung nicht berücksichtigt wurden.

Inzwischen kann man Leute wie Cem oder Angela auf Netzwerken wie StudiVZ besuchen: „6 444 Leute finden Cem Özdemir gut“, „73 486 Leute finden Angela Merkel gut“. Im alphabetischen Politikerverzeichnis des Netzwerks stehen die beiden nicht unter M oder Ö, sondern unter C und A. Wir sind ja unter uns, 6 444 und 73 486.

Wer A und C sagt, der muss auch B sagen, wenn es um Politik und Web 2.0 geht. Das sei Ronnie Grob überlassen. Ronnie hat kürzlich auf NZZ Online erklärt, „warum die Menge intelligenter und effizienter als Eliten entscheidet“. Er ist ein Anhänger dessen, was in der elektrodemokratischen Mengenlehre ‚Schwarmintelligenz‘ heißt. Je mehr Bienchen summen, desto mehr Honig kommt zusammen. Oder so ähnlich.

Er schreibt: „Haben sich nicht alle Revolutionäre immer gewünscht, dass die Macht verteilt wird?“

Kein vernünftiger ‚Revolutionär‘ wünscht sich jemals, dass ‚die Macht verteilt wird‘, höchstens dass er die Macht verteilt. Wozu sollte er sonst Kopf und Kragen riskieren?

Aber weiter: „Dass niemand alleine die Führung der Welt übernimmt, sondern wir alle gemeinsam?“ Wieder ein Zwischenruf: Ich alleine möchte auf keinen Fall gemeinsam mit Ronnie ‚die Führung der Welt übernehmen‘.

Und weiter: „Nun ist die Möglichkeit durch die technologische Innovation da, und sie wird genutzt werden. Es ist nicht mehr die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem System, sondern das genaue Gegenteil. Barack Obama ist der erste Präsident dieser Bewegung, die sich nicht klar umreißen lässt, sich aber mit Entschiedenheit einer bedingungslosen Transparenz verschrieben hat. Etwas anderes erlaubt das Internet gar nicht.“

Die Behauptung, Barack Obama gehöre irgendeiner nicht klar umreißbaren, aber sehr entschiedenen Bewegung der bedingungslosen Transparenz an, verdient nicht einmal einen Zwischenruf.

Sicher hat der amerikanische Präsident das Internet zur Mobilisierung alter und zur Rekrutierung neuer Anhänger genutzt. Außerdem spielt das Internet eine Rolle bei der Legitimitätsbeschaffung durch Akklamation. Wer einmal einen Parteitag der Demokraten oder Republikaner im Fernsehen oder im Internet gesehen hat, weiß, was das heißt. Ob der Beifall von zwei Händen kommt oder von einem Finger an der Maus, mag interessant sein für medientheoretische Seminardiskussionen, aber nicht für die demokratiepraktische Frage nach der Erzeugung von Massenzustimmung.

Sascha Lobo hat im Berliner Tagesspiegel für das Web 2.0 einen „Luhmann 2.0“ gefordert. Ein google-kompatibles ‚upgrade‘ des 1998 gestorbenen Systemtheoretikers Niklas Luhmann? Aber schon aus den Schriften von Luhmann 1.0 hätte Lobo lernen können, dass Kommunikation den Kommunizierenden über den Kopf wächst. Sascha Lobo wie Ronnie Grob scheinen spaßproletarischen Öffentlichkeitsformen wie Flashmobs ähnliche Impulse zuzutrauen wie seinerzeit Negt/Kluge der ‚proletarischen Öffentlichkeit‘. Nur dass Negt und Kluge in verständlicher bürgerlicher Ängstlichkeit betonten, damit sei nicht die des real existierenden Proletariers gemeint, während Grob und Lobo diese Vorbehalte gegen den virtuell existierenden Proletarier nicht mehr haben.

Aber die ‚liquid democracy‘ mit ihrem auf Permanenz gestellten ‚voting‘ und mit der digitalen Gefangenschaft in der erbärmlichen Alternative Null – Eins, on – off, pro – contra läuft Gefahr, zu einer Schwarmdemokratie zu werden, deren ideelle Gesamtintelligenz nicht über, sondern unter der des Einzelnen liegt. Bei Click and Go gibt der Konsument von Politik ein Votum ab und verlässt danach den demokratischen Raum. Der Füllung des legitimatorischen Raums durch sternchenverteilende Abstimmer entspricht die Entleerung des partizipatorischen Raums, in dem nicht schlimme Finger an der Maus gefragt sind, sondern die ganzen Bürger mit Leib, Kopf und Seele.

So gesehen stellt die neue Öffentlichkeit weder eine Überwindung noch eine Gefährdung der alten dar, sondern setzt eine alte Tendenz mit neuen Mitteln fort: Die Beschaffung von Zustimmung (Legitimation) und die Organisation von Teilhabe (Partizipation) driften weiter auseinander.

Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller in Berlin und gibt www.fackelkopf.de heraus. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 15.01.2010, von Bruno Preisendörfer