12.04.2013

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Lehrstück Zypern

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Nichts ging mehr. Steuern erhöhen, das würde die Unternehmer abschrecken. Schutzmaßnahmen gegen Lohndumping würden gegen den freien Handel verstoßen. Eine noch so kleine Steuer auf Finanztransaktionen geht nur, wenn sich eine Mehrheit der Staaten einig ist. Einer Senkung der Mehr- wertsteuer würde Brüssel nie zustimmen.

Seit dem 16. März ist alles anders. All die rechtgläubigen Institutionen, die EZB, der IWF, die Eurogruppe und die Regierung Merkel, nahmen die Regierung Zyperns in den Schwitzkasten, bis die einer einmaligen Maßnahme zustimmte. Die beschlossene Zwangsabgabe auf Bankguthaben hätten Kommentatoren, wäre sie von Hugo Chávez beschlossen worden, empört als diktatorisch, ja als Anschlag auf die Freiheit verurteilt. Übrigens hätte diese Abgabe, bei den zunächst vorgesehenen Sätzen von 6,75 und 9,9 Prozent, fast das 1 000-Fache der seit 15 Jahren umstrittenen Tobinsteuer auf Finanztransaktionen eingebracht.

Was zeigt uns das? Wo ein Wille ist, ist selbst in Europa ein Weg. Vorausgesetzt, es trifft die Richtigen. Das sind in diesem Fall nicht die Aktionäre oder Gläubiger der verschuldeten Banken, sondern die Inhaber von Einlagekonten. Es ist ja auch so viel liberaler, einem zyprischen Rentner ans Geld zu gehen – mit der Schutzbehauptung, man habe es auf die in der Steueroase Zypern geparkten Gelder der russischen Unterwelt abgesehen – als einem deutschen Banker, einem griechischen Reeder oder einem multinationalen Konzern, der seine Gewinne in Irland, Luxemburg oder in der Schweiz bunkert.

Frau Merkel, IWF und EZB hämmern uns ein, das Vertrauen der Gläubiger gehe über alles. Also verbiete sich eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben ebenso wie Neuverhandlungen über die staatliche Verschuldung. Jedes Wackeln in dieser Frage würden die Finanzmärkte sofort bestrafen. Aber wie viel Vertrauen gibt es noch in die Gemeinschaftswährung und die angeblich sakrosankte Einlagengarantie, wenn europäische Bankkunden eines Morgens feststellen müssen, dass ein Teil ihrer Ersparnisse über Nacht verschwunden ist?

Die 17 Mitglieder der Eurogruppe haben gewagt, was zuvor undenkbar war. Von nun an gilt, dass jeder EU-Bürger Opfer einer Finanzpolitik werden kann, die unter dem Vorwand der Haushaltssanierung darauf aus ist, ihn um die Früchte seiner Arbeit zu bringen. Die politischen Marionetten in Rom, Athen und Nikosia haben sich offenbar längst damit abgefunden, die Vorgaben aus Brüssel, Frankfurt oder Berlin umzusetzen, selbst wenn sie dafür von ihrem Volk desavouiert werden.

Doch was in Nikosia geschah, sollte über hilflose Verbitterung hinaus noch etwas auslösen: das befreiende Wissen, dass alles möglich ist – auch für das Volk selbst. Die Verlegenheit, die einige EU-Finanzminister nach ihrem versuchten Handstreich erkennen ließen, verrät ihre Angst, sie könnten ungewollt ihre seit Jahrzehnten verkündete Lehre dementiert haben: die neoliberale Doktrin von der Ohnmacht der Politik gegenüber der Wirtschaft.

Nachdem man uns daran erinnert hat, dass Regierungen durchaus energisch agieren können, dürfen wir uns auch andere harte Eingriffe vorstellen, die vielleicht nicht mehr auf deutsches Wohlgefallen stoßen. Denn sie könnten auf Vermögen zielen, die größer sind als die bescheidenen zyprischen Bankeinlagen. Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 12.04.2013, von Serge Halimi