12.04.2013

Brief aus Tunis

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Brief aus Tunis

von Charlotte Wiedemann

Fangen wir mit Amina an. Amina, 19, schwarz verschleiert bis zum Unterlid; das Weltsozialforum war ihr sozusagen vor die Füße gefallen. Die Ingenieurstudentin hatte bereits einen Monat lang protesthalber im Flur ihrer Fakultät gesessen, ein Sit-in gegen das Verbot des Nikabs, der Gesichtsverhüllung, im Hörsaal. Und nun war ihr Kampffeld plötzlich zur Parzelle auf einer großen Bühne geworden. Die Weltzivilgesellschaft ergoss sich in Tunis über den Campus El Manar, Würde, Dignity, Dignidad, Karama einfordernd, und Amina sah ihre Chance. Würde, Rechte, Respekt für den Anderen? Genau ihr Thema! Mit heller Stimme und fließendem Englisch erklärte sich die Salafistin in ihrem Flur zum Teil der Bewegung.

Amina spielte über Bande, suchte unter Ausländern Unterstützung für den heimischen, sehr tunesischen Stellungskrieg zwischen Laizisten und Islamisten, zwischen Ultrasäkularität und politisch auftrumpfender Religiosität. Genauso hielten es Aminas Gegnerinnen, die tunesischen Feministinnen; mit tausendfach stärkeren Bataillonen waren sie auf dem Forum präsent, um offensiv zu beklagen, in welcher Defensive sie sich befänden. Zum Auftakt eine gewaltige Frauenversammlung. Sie richtete sich gegen patriarchalischen Fundamentalismus jeglicher Art – und, unausgesprochen, gegen einen bestimmten ganz besonders. Das überfüllte Audimax war wie ein Statement: Seht her, wir, die arabischen Frauen, sind da, im Zentrum einer weltweiten Bewegung!

Nach dem optischen Eindruck zu schließen beherrschten zwei Gruppen dieses Forum: die arabische, insbesondere tunesische junge Generation und die Grauschöpfe aus dem Norden, betagte Altermondialisten, die in bunter, bewegter Menge gern ein Verjüngungsbad nehmen. Nur war die Menge manchmal gar nicht so bunt. Jener Rest der Welt, der weder Arabisch noch Französisch spricht, schien nur bescheiden vertreten zu sein; nach einem Inder musste man lange suchen. Das Kosmopolitische war begrenzt; dieses Forum war in seiner Kultur, seiner Atmosphäre sehr arabisch. Nimmermüde Sprechchöre und Gesänge an allen Ecken des Campus; die tunesische Revolution, längst ins Stocken geraten, feierte sich fünf Tage lang in den Blicken der anderen. Da musste das weniger revolutionäre Publikum schon mal hinnehmen, dass auf einer Großveranstaltung drei Reden in Folge auf Arabisch gehalten wurden, ohne Übersetzung. Hurriah! Karama!

Allgegenwärtig die Bilder von Chokri Belaïd: Anwalt, linker Politiker, erschossen am 6. Februar; extreme Salafisten werden dafür verantwortlich gemacht. Für viele säkulare Tunesier eine Zeitenwende. Auf dem Forum befand sich der Ermordete nun in einem Rang mit weltbekannten Gestalten. „Che-Cha-Cho“, das stand für Che Guevara, Chávez, Chokri. Alle drei Märtyrer, alle drei ermordet! (Hatte Chávez nicht Krebs? Ach was, das war der Imperialismus!)

Der Mord an Chokri ist gewiss kein Stoff für Witzeleien; die Erhöhung des Märtyrers, die Gleichsetzung mit Berühmteren ist Ausdruck eines Bedürfnisses wie einer politischen Not: Es mangelt an populären Politikern, die den Armen eine Stimme geben. „Wir sind alle Chávez!“, riefen junge Teilnehmer bei einer Hommage an diesen anderen Toten.

Das Weltsozialforum in Tunis war keineswegs das erste in einem muslimischen Land. Es gab Karatschi, Bamako, zuletzt Dakar. Aber zum ersten Mal (sagen Veteranen) spielte der Islam eine Rolle. Der Islam? Besser: die Islame. Da waren diese weißen Zelte, gespendet von Saudi-Arabien, mit dem obszönen Aufdruck „Königreich der Humanität“. Manche Organisationen hatten, als sie die Zelte bezogen, den Aufdruck dick übermalt. Andere nicht. Ein flanierender Imam wurde attackiert mit Fragen zur Polygamie. Jemand rief aus einem Fenster, in dröhnende Musik und Parolen hinein, zum Gebet. Jemand nannte Ennahda, die Partei der regierenden Islamisten, faschistisch.

Von Syrien, jenem Land der arabischen Revolution, wo derzeit so gelitten wird wie nirgends sonst, war kaum die Rede. Zu sehr ist die syrische Revolution unter Islamismusverdacht geraten. Ihre Unterstützer luden zu kleinen Veranstaltungen; als sie sich mit ihrer Fahne in der Öffentlichkeit zeigten, wurden sie beschimpft, zogen sich zurück. Aber Palästina! Palästina war das Ventil für alles, und unter der gewaltigen palästinensischen Flagge, die bei zwei Märschen getragen wurde, ließen sich viele Konflikte verdecken.

Palästina war genehm bei der regierenden Ennahda, die das Forum schützen ließ. Palästina war ebenso genehm bei Linken, die Ennahda faschistisch nennen. Die verfeindeten Seiten einte die Abneigung gegen Israel. Auf dem Campus wurden schreckliche Bilder verstümmelter Kinderleichen ausgestellt; im ersten Moment konnte man denken, es seien syrische Kinder, aktuelle Kriegsopfer, aber es waren ältere Bilder aus Gaza, versehen mit dem Titel „The real Holocaust“. Es nahmen nicht viele Anstoß.

Später trafen wir noch einmal auf Amina, die Frau mit der hellen Stimme hinter dem Gesichtsschleier. Sie nahm teil an einem Dialogexperiment zwischen Salafisten und Laizisten. Beide Gruppen saßen sich in einem Raum, der auf den grandiosen Namen „Revision Espace 1“ hörte, mit meterweitem Abstand gegenüber. In der Mitte bemühte Mediatoren, angeführt von Sihem Bensedrine, einer hochverdienten Aktivistin, die schon gegen die tunesische Diktatur kämpfte, als das noch ein einsamer Kampf war.

Nun versuchte sie wieder etwas Unpopuläres: eine Brücke zu bauen. „Du hast das Recht, Salafistin zu sein“, sagte sie zu Amina. Meistens sprachen die beiden verfeindeten Gruppen zueinander wie Schauspieler mit vorgegebenen Sprechzetteln, aber sie sprachen immerhin. Die ausländischen Forumsteilnehmer saßen auf Zuschauerstühlen, wie im Theater. Plötzlich verließ ein junger Salafist seinen Platz, trat auf uns Ausländer zu, verneigte sich mit einem höflichen As-Salamaleikum und sagte, er wolle uns jetzt zum Islam rufen. Die Szene hatte Komik, doch unsere tunesische Dolmetscherin empfand das anders. Sie sprang empört auf, wies den Mann zurecht, er solle gefälligst zurück auf seinen Dialogstuhl. Er war zierlich, und seine salafistisch verkürzten Hosen zu langen weißen Socken wirkten entfernt japanisch.

„Afrika ist nicht zu verkaufen“ stand an einem Zelt, in dem senegalesische Intellektuelle Debatten organisierten. Ein Ort abseits der Parolenchöre, mit dichten, bewegenden Momenten. Etwa beim Auftritt von Aminata Traoré, der Grande Dame der malischen Zivilgesellschaft, eine frühere Kulturministerin, mit großem Kopfputz, großen Ketten und großer Aura. „Ich bin Gründungsmitglied der Weltsozialforen“, sagte sie mit belegter Stimme, „aber wenn ich jetzt sehe, wie die Malier Papa Hollande zuwinken, dann habe ich das Gefühl, dass all meine Arbeit vergeblich war.“ Ihre Verurteilung der französischen Intervention bekam Beifall, blieb aber auch hier umstritten.

Ist, wenn es um den Kampf gegen den Dschihadismus geht, nicht alles andere zweitrangig? Neben Aminata Traoré saß Bakary Sambe, Politikwissenschaftler aus St. Louis, Senegal, ein Experte für militanten Islamismus; er hatte die Intervention begrüßt. „Ich bin aufgewachsen im Milieu der antikolonialistischen Kritik, gegen den alten europäischen Imperialismus. Aber es gibt heute auch einen arabischen Imperialismus.“ Afrikaner belehren zu wollen, mit Gewalt, über einen wahren Islam, das habe eine lange Tradition, sagte Sambe. Araber und Subsahara-Muslime müssten endlich eine Beziehung gegenseitigen Respekts entwickeln, bisher sei da nur eine Herrschaftsbeziehung.

Und schließlich Tariq Ramadan. War er eine Schlüsselfigur dieses Weltsozialforums? Gemessen am Andrang zu seinen drei Auftritten gewiss. Die Massen stauten sich vor Hörsaaleingängen, Eifrige belegten Plätze schon zwei Stunden vor Beginn. Erstmals sei nun die Integration des Islam in die globalisierungskritische Bewegung möglich, meinte Ramadan. Er plädierte rhetorisch brillant gegen das „binäre Denken“ bei extremen Religiösen wie bei extremen Säkularisten. Das Denken „wir oder sie“ sei gefährlich ausgeprägt im fragilen Tunesien.

Binäres Denken senkt das Niveau. Wenn man Ramadan zuhörte, spürte man, wie sehr es anderswo auf diesem Forum an einem intelligenten, kapitalismuskritischen islamischen Diskurs fehlte. „90 Prozent der Islamisten weltweit akzeptieren den Kapitalismus“, sagte Tariq Ramadan. Es bringe auch nichts, ihn durch die bloße Einrichtung eines Bankschalters für Islamisches Bankwesen zu „halalisieren“, ihn halal, sündfrei zu sprechen. Vielleicht war das nur wortradikal. Aber die Halalisierung des Kapitalismus, das war zumindest ein Stichwort, das sich mitnehmen ließ aus Tunis.

Charlotte Wiedemann ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr: „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt“, Köln (PapyRossa Verlag) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.04.2013, von Charlotte Wiedemann