Der Fernere Osten
Ein russischer Blick auf China – und darüber hinaus von Wladislaw Inosemzew
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist vor allem durch eines gekennzeichnet: den zunehmenden politischen Einfluss Chinas aufgrund seiner rapiden Entwicklung. Der Erfolg Chinas ist beeindruckend. Und beeindruckt ist insbesondere Russland. Man erinnert sich hier gut an die Geringschätzung, die der Volksrepublik noch in den letzten Jahren der Sowjetunion entgegengebracht wurde. Die Zeiten haben sich geändert: 1988 überstieg das Gesamtvolumen der sowjetischen Wirtschaftsleistung das der chinesischen noch um das Dreifache; heute beträgt das Bruttoinlandsprodukt Russlands nur 22 Prozent der entsprechenden Kennziffer des südlichen Nachbarn. Damit nicht genug: Die gesamte Weltwirtschaft hängt inzwischen von China ab.
Der wirtschaftliche Höhenflug einer so gigantischen Macht wie China hat selbstverständlich politische Konsequenzen. Wie auch immer sich die chinesische Führung über den „friedlichen Aufstieg“ ihres Landes äußert – die Nachbarstaaten geben wenig auf die Worte, sie achten auf die Fakten. Und die sind beachtlich: Der Verteidigungshaushalt Chinas hat sich von 2000 bis 2012 mehr als versiebenfacht und einen Umfang von 106,7 Milliarden Dollar erreicht. Die Armee zählt über 2,3 Millionen Mann; die Marine soll weiter aufgebaut werden und bei der Schlagkraft an zweiter Stelle in der Welt stehen. Flugzeugträger werden gebaut sowie Jagdflugzeuge der fünften Generation. Darüber hinaus ist China dabei, ein massives Programm zur Nutzung des Weltraums zu entwickeln. Das chinesische Kernwaffenpotenzial wird nur von demjenigen Russlands und der USA übertroffen (siehe Artikel Seite 1).
Die wirtschaftliche und politische Präsenz Chinas ist inzwischen für Dutzende Länder ein Phänomen, an das man sich längst gewöhnt hat. Chinesische Militärbasen, die im Rahmen der Strategie „Perlenkette“ errichtet wurden, verteilen sich im gesamten Indischen Ozean – vom birmesischen Sittwe bis zum pakistanischen Gwadar. Japan und Indien erörtern, wie darauf reagiert werden kann, und schließen sogar Verteidigungspakte. Führende US-amerikanische Strategen versuchen die Chinesen dazu zu bringen, dass diese ihr maritimes Potenzial nicht weiter verstärken – bisher ohne Erfolg. Die Welt beobachtet die Geburt einer neuen Supermacht und damit einen Prozess, der sich noch nie ohne Konflikte vollzogen hat.
In dieser Situation muss Russland entscheiden, wie es sich in wirtschaftlicher, militärischer und politischer Hinsicht positionieren soll. Betrachtet man die „Partnerschaft“ mit China, so kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass es sich um eine Beziehung zwischen „Führenden“ und „Geführten“ handelt. China ist das einzige Land, dem gegenüber sich das postsowjetische Russland zu territorialen Zugeständnissen bereitgefunden hat. Allerdings ist dazu anzumerken, dass man in Peking die Frage der Grenzen noch keineswegs für endgültig geklärt hält. China ist auch der einzige Staat, mit dem Russland eine Organisation gebildet hat, in der Moskau nicht auch der maßgebliche Akteur ist, nämlich die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Das Gewicht Chinas dort ist vergleichbar mit dem Gewicht der UdSSR im damaligen Warschauer Pakt.
China betätigt sich auch gegenwärtig mehr als jeder andere Akteur im postsowjetischen Zentralasien und kolonisiert damit gleichsam eine Region, in der Russland traditionell bedeutende geopolitische Interessen hat.
Im Hinblick auf wirtschaftspolitische Maßnahmen sieht es nicht viel anders aus: China verzichtet in letzter Zeit nahezu vollständig auf die Einfuhr russischer Industriegüter. Lediglich 1,3 Prozent der gesamten Importe in diesem Sektor entfallen auf Russland. Die Volksrepublik ist im internationalen Waffenhandel zum Hauptkonkurrenten Russlands geworden; dabei werden die von ihr angebotenen Systeme nur zu häufig auf der Grundlage russischer Technologie produziert. Außenpolitisch zwingt Peking Russland überdies selbstsicher seine antiamerikanische Haltung auf. Russland seinerseits hat die Hoffnung auf ausgeglichene Wirtschaftsbeziehungen mit China aufgegeben: Peking investiert nicht in die russische Industrie und gibt in den Verhandlungen über die Lieferungen von Öl und Gas nicht nach – letztlich ist Russland zum Rohstofflieferanten für das Reich der Mitte geworden.
Man hat den Eindruck, dass Russland heute in China fast seinen einzigen Verbündeten sieht und bereit ist, fast alle Wünsche Pekings zu erfüllen. Es stellt sich die Frage, ob Moskau gut beraten ist, sich so zu verhalten. Auch wenn man die gegenwärtige Machtstellung Chinas und den Einfluss berücksichtigt, über den Peking verfügt, muss man die Frage wohl verneinen. In jedem Fall sprechen gewichtige Gründe dafür, in den Beziehungen zu China eine gewisse Vorsicht walten zu lassen.
An erster Stelle sind wesentliche wirtschaftliche Erwägungen zu nennen. Der Warenaustausch Russlands mit seinem großen Nachbarn ist dadurch gekennzeichnet, dass der russische Export in Richtung China noch rohstofflastiger ist als derjenige in Richtung Europa. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, dass Russland in der Volksrepublik Industriegüter kauft, die es schon längst selber herstellen könnte; dazu hätte es allerdings das entsprechende Know-how erwerben müssen. Sollten die derzeitigen Handelsbeziehungen zu China ausgeweitet werden, wird das die fortschreitende Deindustrialisierung Russlands befördern: Sie liefe auf die Aufgabe aller Modernisierungsvorhaben hinaus.
Bestärkt wird diese Tendenz noch durch die gegenwärtigen Kooperationsprojekte zwischen Ostsibirien, dem russischen Fernen Osten und den nordöstlichen Regionen Chinas. Diesen 2009 beschlossenen Programmen zufolge darf die chinesische Seite Lagerstätten wichtiger Bodenschätze in sechs Regionen Russlands ausbeuten, ist aber in keiner Weise verpflichtet, die Rohstoffe auch vor Ort zu verarbeiten. Folgerichtig hat China auch keine Kopeke investiert, um entsprechende industrielle Kapazitäten auf russischem Territorium zu schaffen. Auch die Frage einer russisch-chinesischen Zusammenarbeit auf dem Feld der Hochtechnologie ist nicht geklärt. China stellt solche Produkte selbst kaum her, sondern importiert sie. Warum also diese Erzeugnisse nicht gleich „aus erster Hand“ erwerben, aus Ländern, die sie tatsächlich herstellen? Und schließlich: In Russland wird derzeit eine „neue Industrialisierung“ verkündet. Sollte das ernst gemeint sein, so müsste man eigentlich bemerken, dass es die chinesische Industrie wäre, die der russischen auf dem Weltmarkt als größter Konkurrent entgegentreten würde.
An zweiter Stelle stehen Erwägungen politischer Art. China geht „seinen eigenen Weg“ und ist keinesfalls bereit, sich westlichen Standards anzunähern. Russland seinerseits folgt einem Kurs, der das Land von der Moderne abschneidet. Es verpuppt sich vielmehr im Kokon der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in dem sich Autokraten aller Schattierungen offenkundig wohlfühlen. Dabei zeigt sich, dass Moskau nicht umhinkann, sein internationales Ansehen um der Freundschaft mit Peking willen zu opfern. Überdies bewegt sich China in letzter Zeit mit Volldampf auf eine Konfrontation mit den USA, mit Japan und sogar mit Indien zu. Wie jede im Aufstieg begriffene Macht wird auch China damit zum Gegenstand umfassenden Misstrauens, dem die Nachbarn durch kollektive Einhegung zu begegnen versuchen. Damit löst China die Vereinigten Staaten in ihrer Rolle als Schreckgespenst ab. Wollen wir, die Russen, etwa zusammen mit unserem großen „Freund“ das Ziel von Angriffen werden? Welche Vorteile erhoffen wir uns von einer solchen Positionierung?
Die dritte Erwägung hat mit geopolitischen Strategien zu tun. Gegenwärtig wird viel von einer Umorientierung Russlands hin zu den Staaten der Pazifikregion gesprochen. Die Vorteile eines solchen „östlichen Vektors“ kann man selbst als Anhänger einer europäischen Ausrichtung nicht leugnen. Aber warum muss „Osten“ immer nur „China“ bedeuten? Die russischen Entdecker neuer Territorien strebten dereinst ja nicht etwa in die Mandschurei, sondern nach Alaska! Wenn wir uns auf dem Pazifik nach Osten bewegen, rücken wir unweigerlich an die Staatenwelt heran, die „Westen“ genannt wird.
Russland könnte erstarken, wenn an seinen fernöstlichen Grenzen eine Industrie entstünde, die derjenigen gleichkommt, die im Ural oder im europäischen Teil des Landes existiert. Aber kann etwa nur China eine solche Entwicklung befördern? Russlands Ferner Osten müsste ein „russisches Kalifornien“ werden. Es gilt, am Stillen Ozean genauso dauerhaft und fest zu stehen wie an der Ostsee. Und dies lässt sich wesentlich besser ohne als mit Chinas Hilfe erreichen: Peking hat keinerlei Interesse daran, sich einen Konkurrenten im Norden heranzuziehen. Das ist verständlich: Die Größenordnungen im chinesisch-russischen Verhältnis, demografisch wie wirtschaftlich, sprechen dafür, dass ein Bündnis zwischen beiden Staaten einen sehr spezifischen Charakter annehmen müsste. Es ist schwer zu verstehen, warum Russland bereit ist, darauf einzugehen, und noch dazu mit solch großer Begeisterung.
In seinem Verhältnis zu China kommt Russland nicht umhin, sein nationales Interesse genauer als bisher zu definieren. Es besteht ganz gewiss nicht darin, den Amerikanern bei jeder Gelegenheit mit und ohne Grund Nadelstiche zu versetzen; sondern darin, die technologischen und finanziellen Ressourcen zu mobilisieren, die notwendig sind, um die Wirtschaft zu modernisieren und die Abhängigkeit des Landes von Rohstoffexporten zu überwinden. Darüber hinaus geht es darum, die Sicherheit Russlands zu gewährleisten, und zwar durch ein dauerhaftes Bündnis mit den starken demokratischen Staaten. China kann uns bei der Erfüllung keiner dieser Aufgaben helfen. Allein dies sollte Anlass genug sein, in der Außenpolitik nicht ausschließlich auf China zu setzen.
Die wichtigsten potenziellen Lieferanten moderner Technologie, wie sie für die Entwicklung des russischen Fernen Ostens unabdingbar wäre, sind objektiv gesehen die Staaten, die selbst technische Neuerungen in Massenproduktion hervorbringen und daran interessiert sind, dass in der Region industrielle Zentren entstehen, die von China unabhängig sind. Zu diesen Staaten zählen Japan, Südkorea, die Vereinigten Staaten. Und gerade diese Länder sind es auch, die Russlands wichtigste Partner in der Pazifikregion werden können. Japaner und Koreaner könnten zur treibenden Kraft bei der Entwicklung der sibirischen Schwerindustrie werden. Dazu bräuchte Russland neue englischsprachige Universitäten im Fernen Osten, die eine entsprechende Bildung nach anerkannten internationalen Standards sicherstellen. Darüber hinaus müsste Russland mit China um die Ansiedlung von Produktionsstätten konkurrieren, die die entwickelten Länder der asiatisch-pazifischen Region ins Ausland auslagern. Russland könnte einen solchen Wettbewerb durchaus gewinnen. In den USA jedenfalls sind zurzeit sehr deutlich Stimmen zu vernehmen, die vor der wachsenden Abhängigkeit der USA von China warnen. Wenn Russland seinen potenziellen Partnern attraktive Alternativen bieten kann, bestehen gute Aussichten, im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen.
Die russische Außenpolitik müsste entsprechende Signale aussenden. So könnten wir etwa aktiver und produktiver am Prozess der Wiedervereinigung Koreas mitwirken. Sie entspricht den strategischen Interessen Russlands. Zudem kann es keinen Zweifel daran geben, dass Russland einen Friedensvertrag mit Japan braucht. Zu diesem Zweck wäre die Übergabe eines Teils der Kurilen an Japan keinesfalls Landesverrat, sondern würde vielmehr eine Verteidigung nationaler Interessen bedeuten. Zu dieser Einschätzung kann man in Moskau allerdings nur dann kommen, wenn man verstanden hat, welche Vorteile in einer wirtschaftlichen wie politischen Zusammenarbeit mit Japan liegen.
Auch vonseiten der Vereinigten Staaten könnten im Rahmen von bilateralen wie multilateralen Kooperationen Vorschläge kommen, die die strategische Umorientierung Russlands befördern würden. Ich bin überzeugt: Die Formierung des russischen Fernen Ostens als eine Region der Kooperation zwischen Japan, Korea und den USA mit dem Ziel der Einhegung Chinas wäre die beste Voraussetzung für das Gelingen der Modernisierung in diesem Teil Russlands – eine Perspektive, die in den Plänen unserer chinesischen Partner naturgemäß keinen Platz findet. Dasselbe gilt für die Möglichkeit eines politischen Bündnisses in Gestalt einer Achse Moskau–Tokio–Delhi, die zum wesentlichen Element einer Sicherheitsarchitektur im gesamten asiatischen Raum werden kann.
Eine derartige Wende der russischen Außenpolitik könnte in ferner Zukunft auch in die Gründung einer, wie man sie vielleicht nennen könnte, „Nördlichen Allianz“ münden. Diese würde die Europäische Union, die Russische Föderation, die Vereinigten Staaten und Japan vereinen und damit die mächtigsten, industriell entwickelten demokratischen Staaten der Welt. Für die gesamte Macht eines solchen Zusammenschlusses gäbe es in der Geschichte keinen Präzedenzfall.
Das Erscheinen eines derart starken Akteurs auf internationaler Bühne, der die Nato durch eine viel breiter angelegte NTO (Northern Treaty Organization) ablösen könnte, zwänge alle antiwestlichen Kräfte, ihre Ansprüche und Ambitionen zurückzunehmen. Russland hätte eine derartige Allianz dringend nötig; denn eine Modernisierung des Landes aus eigener Kraft – dies haben die letzten Jahrzehnte gezeigt – ist ausgeschlossen, zumal angesichts der ständig steigenden Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit. Russland kann nur durch ein Bündnis mit anderen westlichen Mächten zu einem modernen Land werden.
Zwischen Russland und China existieren keine Gegensätze, die sie zu Feinden machen würden, aber auch keine Grundlagen für ein dauerhaftes Bündnis. Es wäre naiv, darauf zu hoffen, dass das chinesische Kapital an der Entwicklung des russischen Fernen Ostens und Ostsibiriens interessiert ist. Dagegen ist die Annahme begründet, dass eine weitere russische Annäherung an Peking den Dialog Moskaus mit praktisch allen anderen Hauptstädten dieser Welt wesentlich erschweren würde. Es ist an der Zeit, eine ernsthafte Debatte anzustoßen, „sine ira et studio“ und auf der Grundlage von Fakten statt Mutmaßungen, um einen Konsens darüber herzustellen, welche Richtung die russische Außenpolitik einschlagen und welchen Charakter sie annehmen soll.
Aus dem Russischen von Falk Bomsdorf Wladislaw Inosemzew ist Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien, Moskau, und gegenwärtig Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. © Le Monde diplomatique, Berlin