Herberge der Armen
Neapel versucht sich unter einer linken Stadtregierung neu zu erfinden von Angelo Mastrandrea
Der Legende nach strandeten um 1700 drei Brüder aus Toledo auf der Insel Favignana vor der Westküste Siziliens. Osso, Mastrosso und Carcagnosso waren Mitglieder der Verbrecherbande La Garduña. Auf dem kleinen Eiland sollen sie die Fundamente für die drei Mafia-Organisationen gelegt haben, mit denen sich der italienische Süden seit mehr als einem halben Jahrhundert herumschlagen muss: die sizilianische Cosa Nostra, die kalabresische ’Ndrangheta und die Camorra in Neapel.
Kein Wunder also, dass die neapolitanische Intelligenzija einigermaßen fassungslos war, als die Reiterstatue vor dem Eingang zur neuen U-Bahn-Station den Namen „Der Ritter aus Toledo“ erhielt. Den im September 2012 eingeweihten U-Bahnhof mitten im Stadtzentrum hatte der katalanische Architekt Óscar Tousquets Blanco entworfen, das Denkmal der südafrikanische Künstler William Kentridge. Es verkörpert Carcagnosso, den Gründer eben jenes Antistaates, dessen Verwurzelung im sozialen Leben Neapels Exstaatsanwalt Luigi de Magistris mit seiner linken Stadtregierung zu beenden versucht. Ob dieser peinliche Vorgang nur ein Zeichen von Ignoranz war, ob es sich um Gedankenlosigkeit oder um einen bewusst herbeigeführten Eklat handelte, wird sich kaum klären lassen. Jedenfalls ist er bezeichnend für die Widersprüche einer gefallenen Schönen, die sich gerade neu zu erfinden versucht. Mit Investitionen in Infrastruktur und Kultur versucht Neapel seinen alten Glanz einer großen Metropole aufzupolieren.
Die auch künstlerisch spektakuläre Metrostation – laut Daily Telegraph die schönste des ganzen Kontinents – liegt an der Linie 1, die das Stadtzentrum mit Europas gewalttätigsten Vorstädten verbindet, von denen etwa Roberto Saviano in seinem Buch „Gomorrha“ berichtet. „Toledo“ ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich die alten Übel Neapels auf Dauer weder verbergen noch eindämmen lassen. So hat vergangenen Sommer der Mord an einem Mafiaboss im Badestädtchen Terracina einen neuen Mafiakrieg ausgelöst. Der Kampf um den Drogenmarkt fordert in der nördlichen Peripherie Scampias tagtäglich Tote und Verletzte, nicht zuletzt unter Heranwachsenden; kein Wunder, liegt doch die Jugendarbeitslosigkeit offiziell bei 47 Prozent. Wohin sonst sollten sich die jungen Leute orientieren, wenn nicht in Richtung Schwarzarbeit und illegale Aktivitäten? In dieser Parallelarbeitswelt hat sich ein großer Teil der neapolitanischen Nachkriegsgesellschaft schon lange eingerichtet.
Wer sich heute mit der Krise Europas auseinandersetzen oder sogar wissen will, was die Zukunft bringt, der muss nach Neapel gehen, in die „poröse Stadt“, wie Walter Benjamin sie in Anspielung auf den allgegenwärtigen Tuffstein nannte. Es ist eine durch und durch mediterrane und dabei erstaunlich europäische Metropole, in der täglich Hunderte von Menschen in illegalen Werkstätten alle möglichen Markenprodukte fälschen, von CDs bis zu den Prada- und Louis-Vuitton-Imitaten, und in der eine einzigartige Popmusik produziert wird: Die Canzone der „neomelodici“, die von der Liebe und dem Alltag in der Kleinkriminalität erzählen, dienen nicht zuletzt der Camorra zur Geldwäsche, aber auch als Medium für mafiöse Botschaften.
In einem Artikel für il manifesto prophezeit der marxistische Ökonom Joseph Halevi, Dozent an der Universität Sydney, dem Alten Kontinent ein „kapitalistisches Mittelalter“. Wie stellt sich Halevi das kommende dunkle Zeitalter vor? „Wie ein großes Neapel, wo sich die Bürger jeden Tag eine neue Arbeit suchen müssen“, schreibt er. Die typisch neapolitanische Lebenskunst, sich zu arrangieren, die man aus Dutzenden von Filmen kennt – ausgerechnet die soll also zum europäischen Modell werden?
Muss sich der Kontinent immer drängender einer „meridionalen Frage“ stellen, analog derjenigen, mit der sich das Königshaus Savoyen nach der Einigung Italiens im Jahr 1861 konfrontiert sah? Wird also ganz Europa, anders als sich das Angela Merkel und die europäischen Austeritätsideologen wünschen, Griechenland immer ähnlicher als Deutschland? Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, der Frage nachzugehen, wie Neapel, diese ureuropäische Stadt, die strukturell immer kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint, auf die globale Krise reagiert.
Der Strand soll wieder allen gehören
„Die Krise ist hier spät angekommen“, erklärt der Sozialarbeiter Andrea Morniroli. „Und sie hat weniger dazu geführt, dass Fabriken geschlossen wurden. Sie hat sich eher indirekt auf die Netzwerke der Selbsthilfe ausgewirkt, auf die Schattenwirtschaft und den sozialen Zusammenhalt, auf eine Überlebensstrategie, die auf Solidarität basierte und die es weiten Teilen der Bevölkerung ermöglichte, über die Runden zu kommen, wenn auch auf prekäre Weise. Heute sieht man an jeder Kreuzung Rentner, die sich mit Migranten darum streiten, wer den Autofahrern die Fenster putzen darf.“
Mit seiner Genossenschaft hat Morniroli am Komitee „Der Sozialstaat ist kein Luxus“ teilgenommen, einem Netzwerk von 150 Genossenschaften und Vereinen, die sich unter der Regierung Berlusconi gegen Kürzungen im Sozialbereich engagierten. Er kennt die Probleme aus eigener Anschauung.
„Als ich vor 17 Jahren aus Turin nach Neapel kam, war die Situation in den ‚Spanischen Vierteln‘ schlechter als die im Turiner Multikultiviertel San Salvario. Es gab allerdings noch die Strukturen der informellen Konfliktlösung und den gegenseitigen Respekt, auch gegenüber Migranten. Und die Grundlage war, dass alle prekär lebten und irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Heute läuft die Schattenwirtschaft nicht mehr, die Tausenden von Leuten ermöglicht hatte, sich mit Ach und Krach über Wasser zu halten. Für den Einzelnen reicht es einfach nicht bis zum Monatsende, und deshalb funktioniert auch die Art der Konfliktlösung nicht mehr. Mit der Krise hat ein Unterbietungswettbewerb begonnen, und wenn der nicht aufhört, dann wird die Stadt explodieren. Die Toleranz schwindet, es kommt zu Zusammenstößen, die man früher nicht kannte. Unter den Clochards sind auf einmal Leute, die bis vor Kurzem noch ein bürgerliches Leben geführt haben und von der Krise auf die Straße gespült wurden. Die Gelegenheitsprostitution nimmt zu, bei Frauen und bei Männern.“
In den Notunterkünften haben sich die Anfragen verdreifacht. Im Rathaus wird bereits darüber nachgedacht, ob man den „Albergo dei poveri“, das Armenhaus der Bourbonen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, nicht wiedereröffnen sollte – es wäre die größte Notunterkunft Europas.
Neu ist auch die steigende Zahl der frühen Schwangerschaften: In Neapel ist laut Istat die Hälfte der jungen Leute ohne Arbeit – von diesen haben 83 Prozent die Hoffnung auf eine Beschäftigung oder einen Studienplatz schon aufgegeben. 60 Prozent dieser inaktiven Bevölkerungsgruppe sind Frauen. Für sie ist ein Kind der einzige Weg, um von der Familie wegzukommen.
Wer verstehen will, was Schattenwirtschaft in Neapel bedeutet, der muss sich im Viertel Sanità umsehen. Dieser „Rione“ ist mehr als ein urbaner Bezirk, er ist eine Stadt in der Stadt, jedenfalls seit Joseph Bonaparte, der ältere Bruder Napoleons und König von Neapel, Anfang des 19. Jahrhunderts beschloss, eine Brücke bauen zu lassen, die die Reggia di Capodimonte – die Sommerresidenz der Herrscher von Neapel – zugänglich machte, ohne dass man sich durch das innerstädtische Gewirr von Gassen schlagen musste, in dem heute 70 000 Menschen leben. Die Bewohner der angrenzenden Viertel haben die Sache zu Ende gebracht, indem sie die Zugänge zu Sanità versperrten. So ist das Viertel zu einem gigantischen Ghetto geworden, mitten im Zentrum von Neapel, zu einem Ort, der sich weder gentrifizieren noch normalisieren lässt.
In Sanità lebt seit über einem Jahrzehnt Pater Alex Zanotelli, ein Comboni-Missionar, der nach seiner langjährigen Tätigkeit in Korogocho, dem drittgrößten Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi, hierherkam. Zanotelli ist in linken und globalisierungskritischen Kreisen eine Bekanntheit, weil er nicht nur ein überzeugter Pazifist ist, sondern auch gegen die Privatisierung des Wassers und die Übermacht der Multis kämpft. Die Tür zu seiner spartanischen Behausung am zentralen Platz des Viertels ist immer offen, als wolle er damit zeigen, wie unbegründet die Angst ist. Viele Neapolitaner machen einen Bogen um Sanità, erst recht nach Einbruch der Dunkelheit.
Auf die Frage, wer für den sozialen Notstand im Viertel verantwortlich ist, verweist der Dritte-Welt-Missionar auf den Berlusconismus, die einzige Ideologie, die es durch mediale Dauerberieselung geschafft habe, in die Häuser und die Köpfe ihrer Bewohner vorzudringen. „Neben der ökonomischen Krise, von der sowieso alle reden, gibt es eine ökologische Krise, die kaum jemand thematisiert, und eine anthropologische Krise – und die muss uns am meisten Sorgen bereiten. Die Mädchen hier wollen alle nur noch ‚veline‘ werden, das sind diese halbnackten Fernsehschönheiten, und die Jungs denken ausschließlich an ihre Vespa und Drogen. Sie kommen nie aus ihrem Viertel raus, viele haben das Meer noch nie gesehen. Sie sind gewalttätiger als ihre Altersgenossen in Korogocho und haben eine Wut im Bauch, die ich bei den jungen Leuten in Kenia nicht erlebt habe. Der Berlusconismus hat außerdem das Einzige zerstört, was ihnen noch etwas bedeutete: die Familie.“ Das einzige soziale Bindemittel ist der Fußballverein SSC Neapel, der es, seit den Zeiten, als Diego Maradona hier spielte, geschafft hat, sich zu behaupten.
Der Schriftsteller Raffaele La Capria ist ein Kenner der durch die Jahrtausende mäandernden Mentalität der Neapolitaner. In seinem Buch „Napolitan graffiti“ stellt er die These auf, dass die Menschen hier „das Fernsehen, die Vespa und das Auto angenommen haben. Aber das sind oberflächliche Veränderungen, die kaum Einfluss auf die Leute haben und sie vielleicht noch weiter runterziehen.“ Der Widerwille, in der Moderne anzukommen, sei hingegen unverändert, ganz so wie es Pier Paolo Pasolini schon vor vierzig Jahren prophezeit hatte.
Die ökologische Krise macht sich in diesen Breiten vor allem als Müllnotstand bemerkbar. Die Bilder der Abfallberge in den Straßen und der revoltierenden Bewohner gingen um die ganze Welt. Heute scheint das Problem gelöst, die „monnezza“, wie die italienische „immondizia“ im neapolitanischen Dialekt heißt, wird nach Holland verfrachtet und dort verbrannt. Doch vor den Toren der Stadt, in Giugliano, verbleibt ein Denkmal, das auf ewig an die Schande erinnern wird: eine Deponie von der Größe einer Kleinstadt, 8 Millionen in Plastik eingeschweißte Ballen mit Müll, der in keiner Anlage dieser Welt entsorgt werden kann, der hier die Jahrhunderte überdauern wird, wie die Pyramiden oder das Kolosseum, als Zeugnis der Dekadenz der spätkapitalistischen Epoche.
„Die wirkliche Anomalie Neapels ist sozialökonomischer Natur. Retten kann die Stadt nur eines: Arbeit. Ein funktionierendes Gemeinwesen ist doch ohne eine legale Wirtschaft überhaupt nicht vorstellbar. Ich frage mich, was in Neapel geschähe, wenn die illegalen Aktivitäten allesamt abgewickelt würden. Diese Stadt hält sich doch nur dank der Schwarzarbeit über Wasser“, erklärt der Journalist und Buchautor Ermanno Rea, auch er ein neapolitanischer Intellektueller, den das Drama seiner Stadt nicht loslässt.
Dass Neapel von der Untergrundwirtschaft lebt, haben unlängst drei Exbanker erlebt, die den Bewohnern des Sanità-Viertel mit Mikrokrediten helfen wollten, sich eine Existenz aufzubauen. In zwei Jahren hatten sie in genau drei Fällen Erfolg – mit einem Modell, das die Banca Etica unterstützte. Dieses Kreditinstitut war Mitte der 1990er Jahre eigens gegründet worden, um Menschen in Schwierigkeiten zu helfen und um soziale Projekte zu finanzieren. „Wenn den Leuten aufgeht, dass sie aus der Illegalität rausmüssen, um den Kredit zu bekommen, dann meinen sie, das lohne sich nicht, und blasen alles ab“, sagt Pater Zanotelli.
In Neapel war die Industrialisierung schon in den 1990er Jahren am Ende, als mit der Schließung der Ilva-Stahlwerke alle Fabrikträume auf einen Schlag ausgeträumt waren. Eines aber blieb: eine Arbeiterklasse, die die Ökonomie der Altstadtgässchen und ihre Ideologie des ‚Jeder für sich‘ überwunden hatte.
In den letzten Jahren litt der Großraum Neapel unter der Krise der Werften in Castellammare di Stabia, den ältesten Italiens, während in Pomigliano Fiat-Boss Sergio Marchionne ein neues Beziehungsmodell zwischen Kapital und Arbeitern erprobte, das auf Deregulierung und Ausgrenzung der unbequemen Gewerkschaften setzt: So wurden sämtliche Arbeiter, die Mitglieder in der Fiom-CGIL waren, der stärksten italienischen Stahlarbeitergewerkschaft, von vornherein bei der Besetzung der 2 091 Stellen im neuen Werk ausgeschlossen. Bei Gericht kam Fiat damit allerdings nicht durch; 19 Fiom-CGIL-Gewerkschafter mussten doch eingestellt werden. Für die Mitglieder der Gewerkschaft Cobas hingegen war bereits vorab mit dem Werk in Nola eine Art Verbannungsort geschaffen worden. Die 35 Kilometer nordöstlich von Neapel gelegene Kleinstadt ist der Geburtsort des großen häretischen Philosophen Giordano Bruno.
Die Situation ist dramatisch: Nach Berechnungen der CGIL sind im Großraum Neapel allein in den letzten drei Jahren 75 000 Arbeitsplätze verloren gegangen, davon 23 000 in der Industrie, 30 000 im Dienstleistungssektor, 8 000 in der Landwirtschaft und fast 10 000 in der Baubranche. Doch damit nicht genug: Das Bruttoinlandsprodukt ist in der gesamten Region Kampanien, deren Hauptstadt Neapel ist, um 10 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der „Ausgeschlossenen“ („Esodati“) – also jener Arbeitslosen über 50, die durch die Rentenreform der Regierung Monti im Jahr 2011 inzwischen weder ein Arbeitseinkommen noch eine Rente haben – ist auf 30 000 angestiegen, 12 000 Beschäftigte sind auf Übergangsgeld oder sonstige Sozialunterstützungen angewiesen.
Auch wer noch Arbeit hat, muss kämpfen: Dass Löhne und Gehälter erst mit monatelanger Verspätung ausgezahlt werden, ist inzwischen der Normalfall. Schmort es in der Gerüchteküche, geraten diejenigen, die noch Arbeit haben, schneller in unbegründete Panik, wie etwa am 19. Dezember 2012, als eine spontane Arbeitsniederlegung den öffentlichen Nahverkehr lahmlegte. Unter den Fahrern hatte sich das Gerücht herumgesprochen, dass in diesem Jahr das Weihnachtsgeld wegfallen werde.
Nur einem Sektor kann keine Krise etwas anhaben: der Militärindustrie. Am 13. Dezember letzten Jahres zog das Joint-Force-Kommando der Nato von Bagnoli nach Lago Patria um. Der auf 85 000 Quadratmetern neu gebaute Komplex hat 165 Millionen Euro gekostet. 2 100 Militärangehörige und 350 Zivilangestellte wohnen hier, mitsamt ihren Familien.
Es mag vielleicht erstaunen, dass ausgerechnet eine Stadt wie Neapel mit all ihren Besonderheiten von einer dezidiert linken Partei regiert wird, die nicht nur die Rechte, sondern auch die Sozialdemokraten der Partito Democratico (PD) vor zwei Jahren auf die Oppositionsbänke verwiesen hat. Doch so absurd ist das gar nicht: Wie an so vielen von Widersprüchen und Konflikten geprägten Orten haben sich auch in Neapel die gesellschaftlichen Gegensätze verschärft – und das Ergebnis davon ist der Erfolg von Luigi de Magistris.
Enthusiasmus des Unmöglichen
Alberto Lucarelli ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Federico II und Paris I. Als „Dezernent für Gemeingüter und Demokratie“ im Stadtrat ist er besonders stolz auf die Wiederverstaatlichung der Wasserversorgung – nach Pariser Modell – und die Etablierung von Volksversammlungen, mittels derer die Bürger ihre Themen auf die Agenda des Magistrats setzen können. Derzeit arbeitet Lucarelli an der Rückübertragung der privaten Nutzungsrechte für die öffentlichen Strände. Er will die an Privatunternehmen vergebenen Konzessionen zurückholen und in die Hände von jungen Kooperativen legen, nach dem Modell Barceloneta, dem Stadtstrand von Barcelona.
„Die Herausforderung für uns besteht darin, eine kommunale Demokratie zu erschaffen und dabei über das theoretische Modell von Toni Negri und Michael Hardt hinauszugehen“, erklärt Lucarelli in einer Sitzungspause des Stadtrats. Es geht um ein Selbstverwaltungsmodell: Öffentliches Eigentum, insbesondere kulturelles, wird sogenannten Bezugsgemeinschaften überlassen, die sich darum kümmern und so eine „soziale Rendite“ erwirtschaften, jenseits der Marktzwänge. Das erfordere allerdings „ein Höchstmaß an Verantwortlichkeit in den Arbeitsgruppen und in den Institutionen“. Das gelungenste Beispiel ist bislang das ehemalige Waisenhaus Filangieri, das heute vom Kollektiv „La Balena“ als Werkstatt für experimentelle Künste geleitet wird.
Die Probleme, mit denen sich der linke Magistrat in Neapel konfrontiert sieht, sind enorm: Korruption und Klientelismus durchziehen den gesamten öffentlichen Sektor, von den Medien kommt Gegenwind, die Zentralregierung in Rom fährt einen den Plänen in Neapel diametral entgegengesetzten Privatisierungskurs. Auch die soziale Lage ist schwierig. Davon zeugt unter anderem das „Cahier de doléances“, in dem die Bürger tagtäglich auf der Piazza del Municipio, dem Rathausplatz, ihre Beschwerden kundtun.
Vor einigen Monaten hat die Schließung der Bibliothek des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici für Unmut gesorgt. Grund war die Streichung der öffentlichen Zuschüsse. Die Bibliothek der international renommierten philosophischen Akademie umfasst über 300 000 Bände, darunter Originalausgaben von Benedetto Croce und Giambattista Vico. Diese Kulturschätze wurden wie die Sardinen in Kisten verpackt und ins nahe gelegene Casoria gebracht, wo sie nun in einem Schuppen lagern. Und dort werden sie so lange bleiben, bis die Bibliotheksfreunde mit den 10 000 Unterschriften, die sie gesammelt haben, ihr Ziel erreicht haben und die öffentlichen Mittel wieder freigegeben werden.
Ermanno Rea hat Bürgermeister de Magistris immer öffentlich unterstützt, aber neuerdings schimmert doch ein wenig Enttäuschung bei ihm durch: „Neapel bräuchte andere Produktionsmodelle, die das Potenzial der Gegend hier ausschöpfen und gleichzeitig nachhaltig sind. Wenn wir weitermachen wie bisher, kann das katastrophal enden. Die Neapolitaner können sich nur retten, wenn es ihnen gelingt, ein Utopia zu entwerfen. Ein Utopia, das das Bewusstsein verändert, das eingefahrene Verhaltensmuster aufbricht und Enthusiasmus verbreitet, einen „Enthusiasmus des Unmöglichen“. Und den könnte man dann auch gleich auf ganz Europa ausweiten – um den Kontinent vor dem „Kapitalistischen Mittelalter“ zu bewahren, das der Ökonom Halevi ihm prophezeit hat.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel Angelo Mastrandrea ist Journalist und Schriftsteller und stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung il manifesto.